»Die Mauer war das Kondom der DDR«
Eine Dekoration wie im Kostümfilm. Breite Treppen, die um ein Brunnenbecken führen, und Hans im Glück steht da und Rumpelstilzchen und irgendein Prinz, alle aus Stein wie die Frösche mittendrin, die Wasser spucken in einem fort.
Hohe Säulen umstehen den »Märchenbrunnen« im Friedrichshain, und alles wird strahlend illuminiert in der Nacht. Die Grimmsche Pracht am Scheitelpunkt der Bezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain ist Homo-Treff seit DDR-Gedenken. Ganz anders als in den Parks im Westen promenieren die Männer, die jede Nacht hier zusammenkommen, im künstlichen Licht, wie auf dem Laufsteg, ein Kontakthof für jedermann.
Bei gegenseitigem Gefallen gehen die Akteure nach hinten ab, entlang der schmalen Trampelpfade, wo die Büsche und Bäume eng beieinander stehen und die Dunkelheit sie verschluckt. Die am Brunnen plaudernd zusammenstehen, erzählen, daß es hier »schon immer« so war, und immer meint die 40 Jahre des anderen Deutschland.
Den Westen haben sie natürlich gleich ausprobiert nach der Wende, aber da waren die Parks ihnen zu wortlos und zu dunkel, die Kneipen zu unfreundlich und zu schnell mit dem Sex bei der Hand, die ganze Subkultur zu verwirrend und viel zu separiert in verschiedene Geschmäcker und Gelüste.
Jetzt kommen sie wieder hierher zu den vertrauten Märchengestalten, oder in die »Schoppenstube«, den »Burgfrieden« oder den »Stillen Don«. Die Namen der Kneipen kommen nicht von ungefähr, so beschaulich geht es hier auch zu und so gelassen und ruhig, daß das »Pool« oder »Construction« oder »Lipstick« im Westteil der Hauptstadt als laute und hektische Dumpfbunker dagegen abfallen.
Beim »Märchenbrunnen« erzählen welche, wie es früher war, und sie geraten ins Schwärmen. »Da sind wir am Sonntag rausgefahren aus Berlin, mit dem Picknickkorb voll Nudelsalat und geschmuggelten Hetero-Pornos, und haben uns versteckte Plätze ausgesucht, ganz in der Nähe der Sowjetkasernen. Da kamen dann die Soldaten, blätterten kurz in den Pornoheften und waren zu allem bereit.« Aber nicht nur die Uniformierten fanden ihren Spaß beim gleichen Geschlecht, auch die »Stinknormalen«, kurz »Stinos« genannt, waren leicht zu haben, erzählen sie. »Das war so richtig - na wie heißt das noch - polymorph pervers. Da konnte man die Männer ansprechen, auf der Straße oder in der Kneipe, und sie kamen mit.«
Der ganze Arbeiter-und-Bauern-Staat ein Homo-Paradies? »Na ja, hier gab es keine nackten Busen am Zeitungskiosk und keine Pornoläden überall. Da war die Geilheit nicht so zielgerichtet, nicht so fixiert.« Der das erzählt, ist ganz angetan von seiner These: »Dabei wurde natürlich nicht von Homosexualität gesprochen, es hat einfach Spaß gemacht. Das war wichtig.«
Von Aids haben sie natürlich gehört, schon gleich nachdem man im Westen darüber sprach. Aber der Westen war weit und die Mauer dazwischen und Aids nur eine von vielen Geschichten der Westschwulen. Untereinander kannten sie keinen, der infiziert war, und Kondome benutzten sie auch keine, der Ostmarke war sowieso nicht zu trauen.
»Die Mauer war das Kondom der DDR«, lautet auch die Einschätzung der Deutschen Aids-Hilfe auf ihrer Mitgliederversammlung im März dieses Jahres in Weimar. Vorstandsmitglied Olaf Leser will diese »phantastisch gute Situation« nutzen im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit. 16 regionale Aids-Hilfen wurden inzwischen in Ost-Deutschland gegründet, im Vordergrund ihrer Arbeit steht die Prävention. Denn mangelnde Schutzmaßnahmen und Informationsmängel erhöhen das Infektionsrisiko.
Mit dieser Einsicht schließt auch das Aids-Zentrum des Bundesgesundheitsamtes in Berlin seinen letzten DDR-Bericht. Bis Ende 1991 wurden insgesamt 210 HIV-Infektionen aus den neuen Bundesländern gemeldet, wobei der größte Teil der Infizierten sich nach 1989 angesteckt haben soll. Vermutet wird eine »wesentlich höhere Dunkelziffer«, so das Aids-Zentrum. Am meisten betroffen sind, genau wie im Westen, schwule Männer.
Über die Zahlen und Dunkelziffern im Osten will Uwe Jahn nicht spekulieren. »Die Zahlen kannst du dir alle ins Klo stecken.« Aus seiner Praxis als Sozialarbeiter im »Pluspunkt«, dem ersten Selbsthilfeverein für HIV-Positive in Ost-Berlin, weiß er um die Besonderheiten.
Da kommen Westler zum Test in den Osten, aus Angst, daß bei einem Positiv-Bescheid ihre direkte Umgebung davon erfahren könnte. Und umgekehrt: »Viele Ostler lassen sich aus Mißtrauen gegenüber den Gesundheitsämtern lieber im Westen testen.« Nicht von ungefähr, denn zu DDR-Zeiten ermittelten die Behörden bei jeder Neuinfektion, die sogenannte Infektionsquellenforschung. Da wurden Freunde und Partner des Infizierten geladen und ebenfalls getestet.
Zur Fragwürdigkeit dieses Vorgehens macht ein besonders spektakulärer Fall immer wieder die Runde: Da soll ein HIV-Infizierter seine Ausreise forciert haben mit der Drohung, andere anzustecken. Als tatsächlich im Umfeld des Mannes weitere Ansteckungen festgestellt wurden, sei er von den Behörden in den Westen abgeschoben worden.
Uwe Jahn kennt sich aus in der Aids-Szene der Stadt, vor »Pluspunkt« hat er bei der Berliner Aids-Hilfe (BAH) im Westteil gearbeitet, anschließend in der HIV-Ambulanz der Charite. Der »Pluspunkt« ist für ihn eine »Investition in die Zukunft«, da bleibt er ganz nüchtern: »Der Laden wird Zeiten stärkerer Auslastung erleben.« Der Laden in der Ueckermünder Straße im Prenzlauer Berg ist eine Einrichtung hauptsächlich von »Betroffenen«, nicht dafür da, Präventionsarbeit zu leisten, sondern einander zu helfen und beizustehen, nachdem es passiert ist. Dazu kommt auch die Beratung und Unterstützung für das »Umfeld«, für jene, die mit HIV-Infizierten leben oder befreundet sind.
Zwar keine Zahlen, aber eine Tatsache kann Jahn bestätigen: Seit dem Fall der Mauer ist die Infektionsrate gestiegen, die Zahl der Testwilligen, die in die Charite kommen, ist erheblich höher als zuvor, so wie die Zahl derer, die dann das »positive« Ergebnis bekommen.
Jahn erinnert sich noch an die Zeit gleich nach der Wende, als die Aids-Gruppen im Westen ganz aufgeregt die Aufklärungsarbeit für die neuen Ost-Besucher durchführten. Da fragte einer ganz lapidar dazwischen: »Warum die ganze Hektik? Wenn wir hier im Westen doch alle die Safer-Sex-Message begriffen haben, müssen wir doch nicht befürchten, daß irgendein Ostler jetzt angesteckt wird.« Der Test-the-West-Rummel blieb dennoch nicht ohne Folgen.
Aus seiner Erfahrung in der Beratungsarbeit weiß Jahn um die Ansteckungsgefahr, egal ob in Ost oder West. Das sogenannte Desperado-Verhalten will er weitgehend ausschließen, »aber vor den Grenzfällen ist keiner sicher. Schließlich ist Sexualität auch eine Situation mit Kontrollverlust.«
Kontrolle hatten die Homosexuellen in der DDR zur Genüge kennengelernt. Eigentlich gab es sie gar nicht, zunächst. Im neuen Menschenbild des sozialistischen Experiments waren Homosexuelle nicht vorgesehen. Es gab sie dennoch, am »Märchenbrunnen«, auf den Klappen, in einigen Lokalen, hier unter Aufsicht der Polizei, dort unter den gestrengen Blicken von Wirten und Kellnerinnen, die einschritten, falls über den Tisch eine Hand zur anderen fand. Die Obrigkeit war immer präsent.
Als 1973 zu den Weltfestspielen die kommunistische Jugend von überall her nach Ost-Berlin gereist kam, waren auch Schwule dabei, die das Renommierspektakel nutzen wollten, um über ihre Situation zu sprechen. Da bekam ein schwuler Genosse aus England sein Mikrofon und Rederecht in einem Hörsaal der Humboldt-Universität, doch noch bevor das erste Wort fiel, ging der Strom aus. Genau für die zwei Stunden, die das Programm dem Thema zugestanden hatte.
Die Schwestern der Bewegung aus West-Berlin, die mit Flugblättern einreisen wollten zur internationalen Begegnung, kamen nur bis zur Grenze. Die Zöllner kannten schon die Verstecke der aufrührerischen Schwulenpamphlete, beschlagnahmten das Papier und schickten die Aktivisten wieder zurück.
1973 war auch das Jahr, in dem sich dennoch und trotz alledem die erste Lesben- und Schwulengruppe der DDR gründete, die »Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin« (HIB). Zunächst traf sich die HIB ganz klandestin in Privatwohnungen, 1976 zog man um in den Keller des Mahlsdorfer Gründerzeitmuseums, den Ausstellungsort für Alltägliches der Jahrhundertwende, gesammelt und liebevoll präsentiert von Charlotte von Mahlsdorf. Der hieß eigentlich Lothar Berfelde, hatte sich aber schon zu Zeiten der Nazis nicht um die korrekte Geschlechterrolle gekümmert und war im taillierten Mäntelchen immer unterwegs auf der Suche nach Kunst und Kitsch aus der Gründerzeit.
Die HIB organisierte Coming-Out-Hilfen, störte Vorträge über Sexualität und beschwerte sich bei der Berliner Zeitung darüber, daß Kontaktanzeigen von Lesben und Schwulen nicht zugelassen waren. Zur 1. Mai-Demo 1977 wollten sie es den Machthabern zeigen. Sie formierten sich vor der Tribüne des Politbüros, eng umarmt, und warfen Herrn Honecker Kußhändchen zu. Ganz ohne Effekt, die Aktion ging unter im Fahnenwald der Arbeiterklasse.
Dennoch kam eine schwule Wende, lange vor der eigentlichen. 1984 wurde an der Humboldt-Uni vom Magistrat der Stadt Berlin eine interdisziplinäre Forscherrunde eingesetzt, betraut mit der Aufgabe, die »Lage der Homosexuellen« in der sozialistischen Gesellschaft zu erkunden. Da wurden, ganz ohne Empirie, in kurzer Zeit ein paar Thesen zusammengeschrieben und praktische Vorschläge formuliert. Die kamen an bei denen da oben, und fortan konnten Lesben und Schwule Partnerschaftsanzeigen in Zeitungen veröffentlichen, sie bekamen Versammlungserlaubnis in öffentlichen Räumen, und homosexuelle Paare sollten Anspruch haben auf gemeinsamen Wohnraum.
Die Integration von oben kam nicht aus ohne die begleitende Aufklärung. Deshalb erschien 1987 erstmals ein Buch in hoher Auflage, das die Besonderheit des fremden »Wesens« umfassend zu beschreiben versuchte. Das Ziel formulierte der Verfasser Reiner Werner, damals Professor für forensische Psychologie an der Humboldt-Universität, im staatstragenden Pathos: »Deutlich soll allen werden, daß unser Land Heimat, Ort der sozialen Geborgenheit für alle ist, die daran mitwirken, unser humanistisches Weltbild Schritt um Schritt in lebendige Lebensbeziehungen umszusetzen. Denn dies vor allem macht unsere Stärke aus.«
Eine ganz andere Stärke spürte Christian Pulz noch zu Zeiten der DDR, als die Schwulen sich organisiert hatten in eigenen Arbeitskreisen, unter dem schützenden Dach der Kirche.
Pulz, der heute als Mitglied der Fraktion Bündnis 90/Grüne im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt, erinnert sich nicht ohne Wehmut an die schwulenbewegten Zeiten drüben. »Da wurde ganz viel über Sexualität geredet, und wie wir sie leben können, angst- und repressionsfrei. Über das Patriarchat wurde diskutiert und darüber, wie die Lebenssituation für Lesben und Schwule in einer sozialistischen Gesellschaft umgestaltet werden können. Wir waren Verfechter der reinen Lehre, streng marxistisch.« Und eine Nähe und Solidarität soll es gegeben haben untereinander, die heute nicht mehr existiert: »Das kollektive Element war sehr präsent in unseren Köpfen.«
Die Wiedervereinigung hat auch die Strukturen und Zusammenhänge einer ostdeutschen Lesben- und Schwulenbewegung weitgehend zerschlagen. Der schwule Westen, der Pulz einst voll Glamour und produktiver Vielfalt herüberschien, ist ihm heute nicht mehr viel wert: »Da herrscht eine grenzenlose Individualität, und die Vielfalt wird nicht als Freiheit begriffen, sondern eine Gruppe separiert sich deutlich von der anderen. Es ist kalt in der Szene, man lernt kaum jemanden kennen, und der Westler wird von uns nur als arrogant empfunden.«
Die Schwulen in der Ost-Berliner Subkultur scheinen die Ansicht zu teilen. Die Kneipen sind wieder Wessi-frei, im Park ist man unter sich. Der harte Markt am West-Berliner »Golfstrom« bleibt abweisend und unüberschaubar. Und für den Westler hat sich der exotische Thrill, den der Ostler abstrahlte, längst erledigt.
Einer, der mal ganz fest gesetzt hatte auf die neuen Anmachmöglichkeiten jenseits der Mauer, sagt es jetzt knallhart: »Da menschelt's mir zu sehr. Die wollen immer reden dabei und Händchen halten.« *HINWEIS: Im nächsten Heft Wiederbegegnung mit HIV-Positiven nach fünf Jahren: »Für mich geht es um jede Minute« - Kampf um ein Wunschkind - Verzweiflung nach ärztlicher Prognose: »Sie haben höchstens noch zwei Jahre«