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»Die menschenwürdigste Art zu sterben«

Die letzten Medikamente des Uwe Barschel *
aus DER SPIEGEL 1/1988

Packungen, Aluminiumfolien und Beipackzettel der Medikamente sind verschwunden. Es fehlen auch die benutzten Gläser. Im Zimmer 317 des Genfer Hotels »Beau-Rivage« deutet nichts auf die »schwere Medikamentenvergiftung« hin, an der Uwe Barschel, 43, gestorben ist. Die Todesursache ist, wie in der Gerichtsmedizin üblich, aus der langwierigen, jedoch verläßlichen chemischen Analyse von Mageninhalt, Blut und Urin des Verstorbenen ermittelt worden - und dazu reichen Bruchteile eines tausendstel Gramms.

Vier Arzneistoffe fanden die Genfer Giftkundler in nennenswerter Menge, zwei in winzigen Spuren. Diese beiden Rest-Substanzen wurden als Diazepam (bekanntester Handelsname: »Valium") und als Nordiazepam, ein beim Abbau der Seelendrogen aus der Valium-Familie entstehendes Stoffwechselprodukt, identifiziert. Beide spielen für den Todeseintritt keine Rolle. Barschel, seit langem ein Dauerkonsument von Psychopharmaka, hatte diese winzigen Reste wahrscheinlich noch vom Flug Gran Canaria-Genf her im Blut.

Die vier anderen Medikamente fanden die Schweizer Toxikologen in höchst unterschiedlicher Konzentration in Mageninhalt, Urin und Blut - Anlaß für die abenteuerliche Mord-Spekulation. »Alle vier sind Oldies«, urteilt Dr. Ulrich Moebius, Herausgeber des unabhängigen »Arznei-telegramm«, »Alt-Trödel. Sie könnten aus dem Arsenal eines Kassenarztes der sechziger Jahre stammen.«

Daß Profi-Killer mit den bejahrten Drogen einen Mord in Szene setzten, erscheint allen Giftkundlern als höchst unwahrscheinlich. Wer sein Opfer mit überdosierten Medikamenten töten will, der verläßt sich nicht darauf, daß der Kandidat brav ein Dutzend Pillen schluckt, sondern spritzt die Medikamente. Das ist Sekundensache und funktioniert notfalls auch auf Distanz.

In Knast-Krankenhäusern, psychiatrischen Kliniken und auf Anästhesie-Abteilungen werden randalierende Patienten durch die Injektion »hochpotenter Neuroleptika« oder eines Narkosemittels rasch ruhiggestellt. Im Ernstfall spritzen Ärzte und Pfleger Präparate wie »Haloperidol« und »Ketanest« auch durch die Hose. Spontanatmung und Reflexe bleiben dabei erhalten, der Patient erstickt nicht. Jede Injektion hinterläßt jedoch eine nachweisbare Einstichstelle.

In Barschels Organismus fanden die Genfer Untersucher drei eher harmlose Substanzen - ihre chemischen Kurzbezeichnungen lauten Pyrithyldion, Diphenhydramin und Perazin - und tödliche Mengen einer Barbitursäure, des Cyclobarbital. Das Schlafmittel hat schon Tausenden von Menschen den Tod gebracht.

Die drei niedrig dosierten Präparate hat Barschel, wie die fortgeschrittene Resorption aus dem Magen und die Anreicherung im Urin beweisen, ein bis zwei Stunden früher eingenommen als die letztlich tödliche Barbitursäure. Alle drei haben »zentral dämpfende und anti-emetische Eigenschaften« (Moebius): Sie entspannen, machen müde und unterdrücken den Brechreiz.

Mit der vierten Droge schließlich, dem Cyclobarbital, kommt der Schlaf und, hochdosiert, der Tod. In Uwe Barschels Magen betrug die Konzentration der schweren Schlaftabletten post mortem noch 4000 Milligramm pro Liter - das entspräche 20 Tabletten »Phanodorm«. Dieses Präparat ist seit vielen Jahrzehnten im Handel. Früher, als es noch kein Valium gab, haben seine Produzenten, die Pharma-Riesen Bayer (Leverkusen) und Merck (Darmstadt), damit blendende Geschäfte gemacht. Jetzt kümmert der Umsatz nur noch dahin; viele Apotheken halten die Uralt-Arznei nicht mehr vorrätig. Es gibt auch wenig zu verdienen, zehn Tabletten zu 0,2 Gramm Cyclobarbital kosten nur 4,65 Mark.

Phanodorm ist »farblos, geruchlos, schmeckt bitter und löst sich schwer in Wasser«, erläutern die pharmakologischen Lehrbücher. Das »schlafende Hinübergleiten in den Tod, die menschenwürdigste Art zu sterben«, wie Hans Henning Atrott, der Augsburger Präsident der »Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben«, meint, ist mit Phanodorm allerdings nur zu bewerkstelligen, wenn Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden. Vor allem muß man, wie Atrott in seiner Anleitungsbroschüre rät, dem Erbrechen vorbeugen. Denn Barbiturate in größeren Mengen behält der Magen nur ungern bei sich.

Das hat schon der Chemiker Adolf von Bayer, der dieses Schlafmittel um 1890 als erster synthetisierte, beklagt. Bayer, ansonsten ein lebensfroher Frauenfreund, nannte die neue Schlafsubstanz nach einem verehrten Fräulein Barbara. Die »therapeutische Breite« der Barbitursäuren ist ziemlich gering - zwischen der wirksamen und der womöglich tödlichen Dosis liegt keine große Kluft. Auch deshalb gelten diese Schlafmittel inzwischen als »obsolet«.

Aus eben diesem Grunde eignen sie sich aber, wie Atrott meint, ganz »außerordentlich für die Selbsterlösung«. Der Diplompolitologe, in dessen Verein sich mittlerweile rund 15 000 Mitglieder gesammelt haben (Jahresbeitrag: 50 Mark), nimmt für sich in Anspruch, daß Uwe Barschels Tod streng nach den Vereinsempfehlungen zum »menschenwüdigen und selbstverantwortlichen Sterben« erfolgt sei. Atrott: »Er hat nach unserer Broschüre gehandelt«, wahrscheinlich nach der Auflage von 1983. In ihr sind zwei der vier in Barschels Körper festgestellten Substanzen namentlich aufgeführt.

Wann und aus welchen Quellen sich der »zum Freitod entschlossene Mann« (Atrott) die Medikamente beschafft hat, vermag bisher niemand zu sagen. Pharma-Kritiker Moebius kommt es so vor, als habe »ein alter Kassenarzt in seinen Musterschrank gegriffen«. Kann aber auch sein, daß der norddeutsche Ministerpräsident sich in Dänemark eingedeckt hat - dort gibt es alle vier Oldies noch immer zu kaufen.

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