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RAF Die mit den Hüten

Die inhaftierten RAF-Aussteiger aus der DDR belasten sich gegenseitig, die Ermittler erfahren »immer mehr«.
aus DER SPIEGEL 34/1990

Mitten im Wald, im romantisch gelegenen Ferienheim »An der Flut« bei Briesen im Bezirk Frankfurt/Oder, trafen sich alljährlich Veteranen zum besinnlichen Wiedersehen. Die einst selbsternannten Vorkämpfer der Weltrevolution, inzwischen sämtlich als brave DDR-Bürger etabliert, wurden stets von zwei diskreten Herren , die sich »Günther« und »Gerd« nannten, großzügig bewirtet.

Bei Delikatessen und süßem DDR-Sekt der Marke »Rotkäppchen« debattierten die Aussteiger aus der Roten Armee Fraktion (RAF), umsorgt von der Staatssicherheit, jedoch nicht nur über alte Zeiten. Ihr Gespräch drehte sich um Berufsplanung, Kindererziehung und die aktuelle Versorgungslage in der DDR. Vor allem aber redeten die Ex-Revolutionäre stundenlang über ihre größte gemeinsame Angst: daß die Wahrheit über ihre militante Vergangenheit ruchbar werden könnte.

Die Sorge war berechtigt: Nach dem Fall der Mauer wurden die RAF-Frauen und -Männer aufgespürt, die Anfang der achtziger Jahre aufgegeben hatten und mit Stasi-Hilfe und Politbüro-Protektion in der DDR angesiedelt wurden. Sechs von ihnen sind mittlerweile in der Bundesrepublik inhaftiert, drei wurden wegen Verjährung der Tatvorwürfe auf freien Fuß gesetzt.

Nach der Enttarnung ist es mit der Solidarität der ehemaligen RAF-Genossen, die früher gemeinsam in Paris im Untergrund lebten, weitgehend vorbei. Während Sigrid Sternebeck, Monika Helbing und Inge Viett bislang zu den Vorwürfen schweigen, haben Susanne Albrecht, Silke Maier-Witt, Werner Lotze und Henning Beer zum Teil umfangreiche Geständnisse abgelegt und auch andere schwer belastet.

Welches Gewicht die Bekenntnisse der inhaftierten Aussteiger haben, belegt nach Ansicht der Fahnder eine Aussage des Ex-Terroristen Lotze, wonach jedes einzelne RAF-Mitglied die Tatbeiträge der anderen Gruppenmitglieder genau gekannt habe. »Nach so vielen Jahren«, frohlockt ein Beamter, »erfahren wir immer mehr.«

So ergibt sich aus den Geständnissen, die dem SPIEGEL auszugsweise bekannt wurden, daß die Terroristen Ende der siebziger Jahre über weitaus mehr Schlupfwinkel verfügten als bisher angenommen. Allein in Westdeutschland hat es »weit über 100 konspirative Wohnungen« (ein Ermittler) gegeben; bislang war _(* Oben: beim Verlassen des Karlsruher ) _(Bundesgerichtshofes; unten: 1983, als ) _(Zeuge auf dem Weg in einen Stammheimer ) _(Prozeß. ) die Polizei von höchstens 80 solcher Wohnungen ausgegangen.

Die Aussteiger haben auch über die Existenz von vier bisher nicht entdeckten Erddepots berichtet, die womöglich bis in die jüngste Zeit von den aktiven RAF-Kadern als Waffen- oder Geldverstecke genutzt wurden. Einer der Inhaftierten soll die Polizei in den nächsten Wochen zu den Depots führen.

Im Licht der aktuellen Erkenntnisse müssen wohl auch manche RAF-Taten neu zugeordnet werden. Beleg dafür sind beispielsweise die Aussagen über die Ermordung des Dresdner-Bank-Chefs Jürgen Ponto. Der Bankier war im Juli 1977 getötet worden, nachdem die mit der Familie befreundete Susanne Albrecht einem RAF-Kommando Zugang zum Wohnhaus des Opfers in Oberursel bei Frankfurt verschafft hatte.

Bisher gingen die Fahnder davon aus, daß die zu lebenslanger Haft verurteilte Terroristin Brigitte Mohnhaupt den Bankier mit fünf Schüssen niederstreckte; so hieß es auch im Urteil gegen die RAF-Frau, das sich unter anderem auf die Aussage von Pontos Witwe stützte. Tatsächlich soll, hat Susanne Albrecht ausgesagt, der Terrorist Christian Klar gezielt das Feuer auf Ponto eröffnet, Mohnhaupt erst danach geschossen haben.

Am Steuer des Fluchtautos habe auch nicht, wie bisher angenommen, der 1978 beim Festnahmeversuch erschossene Willy Peter Stoll, sondern der RAF-Aktivist Peter-Jürgen Boock gesessen, der zur Zeit in Hamburg eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt.

Boock, über dessen Gnadengesuch der Bundespräsident bislang noch nicht entscheiden mochte, soll nach Angaben der Fahnder von den RAF-Aussteigern »erheblich belastet« worden sein. Gleiches gilt für die RAF-Frau Sieglinde Hofmann, die 1982 wegen Beteiligung am Fall Ponto zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde und jetzt, wie Boock, »immer wieder« (ein Sicherheitsexperte) der Mittäterschaft bei verschiedenen RAF-Straftaten bezichtigt wird.

Als falsch wird von Verfassungsschützern inzwischen die Annahme eingestuft, Susanne Albrecht sei nach dem Ponto-Attentat, das ursprünglich als Entführung geplant war, zu terroristischen Aktivitäten nicht mehr fähig gewesen. Zwar litt die Hamburger Anwaltstochter zunächst an Depressionen, doch am knapp fehlgeschlagenen Sprengstoffanschlag auf den damaligen Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig 1979 in Belgien soll sie wieder maßgeblich beteiligt gewesen sein.

Werner Lotze, der wie Susanne Albrecht vor Gericht als Kronzeuge auftreten will, hat den Haig-Anschlag in allen Einzelheiten geschildert. Der ehemalige Sprachstudent aus Mülheim an der Ruhr hat sich wie kein zweiter RAF-Aussteiger selbst belastet: Lotze hat gestanden, im September 1978 bei einer Schießerei in Dortmund aus nächster Nähe einen Polizisten erschossen zu haben.

Aussagen Lotzes nahm die Bundesanwaltschaft auch zum Anlaß, gegen die in Mainz inhaftierte Sigrid Sternebeck eine Erweiterung des Haftbefehls zu beantragen. Bisher saß die Offizierstochter aus Bremen nur wegen des Verdachts, sie habe noch 1985 für die RAF Autos gekauft - zu einem Zeitpunkt, als sie längst als Berufstätige in der DDR lebte.

Bei einer für diese Woche geplanten Gegenüberstellung mit fünf Zeugen dürfte sich aber selbst nach Ansicht von Ermittlern herausstellen, daß der Vorwurf unhaltbar ist. »Nichts spricht dafür«, urteilt ein Kripobeamter, »daß Frau Sternebeck mal schnell in den Westen fuhr und RAF-Leute unterstützte, die sie gar nicht mehr kennen konnte.«

Statt dessen werden der ehemaligen RAF-Frau jetzt Autoanmietungen vor und während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977 vorgeworfen. Die Bundesanwaltschaft stützt sich vor allem auf die Vernehmung Lotzes, der vor der Polizei den Inhalt einer privaten Unterhaltung zu Protokoll gab.

Danach habe Sigrid Sternebeck kurz vor ihrer Enttarnung die Befürchtung geäußert, daß es womöglich »länger dauern« könnte, bis sie nach einer Festnahme wieder frei käme. Laut Lotze erklärte sie damals: »Bei mir hängt ja das ganze Schleyer dran.«

Gerade die Aufarbeitung des Schleyer-Komplexes ist für die Fahnder von höchstem Interesse, denn auch 13 Jahre nach der Entführung und Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten sind längst nicht alle Details des wohl spektakulärsten RAF-Verbrechens geklärt.

Silke Maier-Witt etwa hat ausgesagt, sie habe von der Aktion »erst durchs Fernsehen« erfahren. Darüber sei sie damals »regelrecht beleidigt« gewesen. Nach der Entführung habe sie aber, immerhin, als Briefbotin fungieren dürfen. Das deckt sich mit Indizien: Auf RAF-Briefen wurden ihre Fingerabdrücke gefunden.

Maier-Witt verdanken die Fahnder Einzelheiten über die Strukturen der damaligen RAF. Im Untergrund hat offenbar eine streng hierarchisch geordnete Zwei-Klassen-Gesellschaft existiert. Die Führungskader, zu denen damals Klar, Stoll, Mohnhaupt, Rolf Heißler und Knut Folkerts gehörten, wurden laut Maier-Witt von den untergeordneten RAF-Mitgliedern ehrfurchtsvoll als »die mit den Hüten« bezeichnet und als Chefs akzeptiert.

Allerdings habe das nicht bedeutet, daß Befehle widerspruchlos befolgt worden seien. Als Christian Klar nach dem Tod der Stammheimer Häftlinge den Plan entwickelt habe, ein von Offizieren und deren Familien bewohntes Haus zu überfallen und alle Bewohner zu töten, habe er erbitterten Widerspruch geerntet. Die zweite Garnitur habe dem damaligen Terroristen-Boß »einen Blutrausch« attestiert. Ergebnis der Diskussion: Die Aktion wurde abgeblasen.

Klar, der 1982 im Sachsenwald bei Hamburg gefaßt und 1985 wegen neunfachen Mordes verurteilt wurde, soll auch die Übersiedlungsaktion der RAF-Aussteiger in die DDR organisiert haben. Die ersten Kontakte zu DDR-Geheimdienstlern seien vermutlich über palästinensische Trainingscamps im Südjemen und in Syrien geknüpft worden. 1980 sind acht Aussteiger pärchenweise von Paris aus in Honeckers SED-Staat gereist. Inge Viett und Henning Beer kamen später nach.

Entgegen anderen Mutmaßungen haben die RAF-Anführer offenbar allen Gruppenmitgliedern, die den bewaffneten Kampf nicht fortsetzen wollten, vorbehaltlos den Absprung genehmigt. »Es gab keinen Druck, kein Keilen«, faßte ein Ermittler die Vernehmungsergebnisse zusammen, »wer wollte, konnte aufhören - ohne Bedingung.« _(* Bundeskanzler Helmut Schmidt, Witwe ) _(Ignes Ponto, Bundespräsident Walter ) _(Scheel am 5. August 1977 in der ) _(Frankfurter Paulskirche. )

RAF-Aussteigerin Albrecht* Sekt von »Günther« und »Gerd«

RAF-Terrorist Klar* Feuer eröffnet?

Ex-Terrorist Boock Fluchtauto gesteuert?

Trauerfeier für RAF-Opfer Ponto*: Neues über die Todesschützen

* Oben: beim Verlassen des Karlsruher Bundesgerichtshofes; unten:1983, als Zeuge auf dem Weg in einen Stammheimer Prozeß.* Bundeskanzler Helmut Schmidt, Witwe Ignes Ponto, BundespräsidentWalter Scheel am 5. August 1977 in der Frankfurter Paulskirche.

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