»Die Mörder sind noch unter uns«
Die medizinische Tötungsmethode par excellence, in Auschwitz ziemlich von Anfang an eingesetzt, war die Phenolspritze. Ein »Patient« wurde in das »Behandlungszimmer« gebracht und erhielt dort ein Medikament durch einen Arzt oder - wie in den meisten Fällen - durch einen Assistenten, der einen weißen Kittel trug und mit einer Spritze die Injektion gab. Im Lagerjargon nannte man den Vorgang »abspritzen«.
Friedrich Entress, der diese Tötungsmethode in Auschwitz organisierte, gab 1947 zu Protokoll, daß er von Dr. Enno Lolling aus Berlin den »Befehl zur Euthanasie« erhalten habe, der festlegte, unheilbar kranke Personen, unheilbare Tuberkulose-Patienten und die auf Dauer Arbeitsunfähigen seien zu töten. Später habe der Befehl auch solche Häftlinge einbezogen, deren Genesung nicht innerhalb von vier Wochen zu erwarten war.
Wie beim ursprünglichen »Euthanasie«-Projekt wurde aus dem Töten der Schwerstkranken das Töten eines jeden, dessen Tod wünschenswert erschien. In der Praxis sah das so aus, daß »arische« Häftlinge, von Ausnahmen abgesehen, nur dann mit Phenol gespritzt wurden, wenn sie völlig entkräftet waren, bei jüdischen Häftlingen hingegen genügte ihre bloße Anwesenheit im Kranken-Block.
Von Januar 1943 an wurden in zunehmendem Maße Kinder mit Phenol umgebracht. Im Frühjahr desselben Jahres wurden 120 Jungen zwischen 13 und 17 Jahren aus der polnischen Stadt Zamosc ermordet - Kinder, deren Eltern erschossen worden waren, wie es heißt.
Anfangs wurde Phenol intravenös gespritzt, was die medizinische Aura der ganzen Prozedur perfekt machte. Marek P., ein nicht-jüdischer polnischer Häftlingsarzt, hat beschrieben, wie die tödlichen Injektionen in demselben Raum des Kranken-Blocks gegeben wurden, in dem er sonst bei Operationen assistierte:
»Diesmal lagen Spritzen auf dem Tisch bereit. Das Phenol war in einer Flasche. Die Watte lag da - alles, was man zum Spritzen braucht. Da war der Alkohol, wie es sich bei einer Injektion gehört, und der Gummischlauch zum Abbinden. Es gab nur einen Tisch, und die rechte Hand des Opfers wurde auf eine Art Tischchen gelegt (um den Arm stillzuhalten), der Arm wurde mit dem Gummischlauch abgebunden, damit die Vene hervortrat - alles auf übliche Art und Weise. Mengele (der diese Tötung vornahm) rieb Alkohol auf die Stelle unter der Ellenbeuge, die er für die Einspritzung vorgesehen hatte, und injizierte das Phenol. Er tat es, als ob er einen ganz normalen chirurgischen Eingriff vornähme.«
Wenig später wurde die Technik geändert und das Phenol direkt ins Herz gespritzt. Wahrscheinlich wollte man damit die Effizienz erhöhen, denn bei der intravenösen Injektion konnte es vorkommen, daß die Patienten noch einige Minuten, manchmal sogar bis zu einer Stunde oder länger lebten.
Die konzentrierte wässrige Phenol-Lösung erwies sich, wie der Auschwitz-Überlebende
Stanislaw Klodzinski berichtete, als »preisgünstig, einfach anzuwenden und absolut zuverlässig, wenn sie in die Herzkammer eingeführt wurde«. Eine Injektion von 10 bis 15 Millilitern führte innerhalb von 15 Sekunden zum Tod. Die Phenol-Lösung befand sich in einem Behälter, der aussah wie eine Thermosflasche. Derjenige, der die Injektionen zu geben hatte, tat etwas von der Lösung in ein kleines Gefäß, aus dem er dann die Spritze aufzog. Man verwandte große Spritzen mit langen Kanülen, und die Exekution wurde ausgeführt, indem »die lange Nadel in den fünften Zwischenrippenraum getrieben wurde«.
Der Injizierende - sehr häufig der Sanitäter Josef Klehr - setzte seine Injektionen direkt ins Herz des sitzenden Häftlings: Die meisten waren fast unmittelbar darauf tot, einige lebten noch für Sekunden oder sogar Minuten. Klodzinski, der polnische Mediziner, schilderte als Zeuge die Exekutionen:
»Die Henker rühmten sich ihrer Rekorde. Drei in einer Minute. Und sie warteten nicht, bis der Beklagenswerte tatsächlich tot war. In seiner Agonie wurde er unter die Arme gegriffen und in einem gegenüberliegenden Zimmer zu einem Leichenhaufen geworfen. Und dann nahm der nächste seinen Platz auf dem Hocker ein. Es hat auch bedeutende Mechanisierungen gegeben. Ungefähr 50 Leute konnten in anderthalb bis zwei Stunden getötet werden. Somit genügten im Durchschnitt zwei Minuten und 22 Sekunden, um einen Häftling zu ermorden.«
Einer der jüdischen Helfer, ein Mann namens Jean Weiss, hat das vielleicht Unerträglichste von all dem, was ich zu hören bekam, berichtet:
»Es war am 28. September 1942. Ich weiß nicht, als wievielter mein Vater dran war. Die Tür öffnete sich, und mein Vater kam mit einem Häftling herein. Klehr sprach mit meinem Vater. Klehr sagte ihm: Du bekommst eine Spritze gegen Typhus. Dann weinte ich und mußte meinen Vater selbst hinaustragen. Klehr hatte es eilig. Er spritzte gleich zwei Häftlinge ab, da er zu seiner Kaninchenzucht wollte.«
Klehr habe ihn am nächsten Tag gefragt, warum er denn geweint habe, und, nachdem er den Grund erfahren habe: warum er, Weiss, denn nichts gesagt habe. Klehr: »Ich hätte ihn leben lassen.« Der Vorsitzende im Frankfurter Auschwitz-Prozeß wiederholte später die Frage: »Warum haben Sie es denn nicht gesagt?« Der Zeuge: »Ich hatte Angst, daß Klehr sagt: 'Setz dich daneben.'«
Das Zentrum für medizinische Versuche war der berüchtigte Block 10, der sich im Männerlager befand, aber hauptsächlich mit weiblichen Häftlingen belegt war.
Block 10 hieß auch »Claubergs Block«. Er war für den Frauenarzt Carl Clauberg errichtet worden, der mit seinen Experimenten eine billige und effektive Methode der Massensterilisierung zu perfektionieren suchte. Clauberg war die größte Autorität in Block 10, nach Einschätzung der Häftlingsärztin Dr. Wanda J. »der wichtigste Mann bei der Sterilisation«. Für ihn gab es »Extras an Ausrüstung und Platz": außer den Krankenstationen noch ein bestens ausgestattetes Röntgengerät und vier spezielle Versuchsräume, von denen einer als Dunkelkammer für die Entwicklung der Röntgenaufnahmen diente.
Clauberg war als Zivilist in Auschwitz, er mietete Anlagen, Forschungsobjekte und sogar Häftlingsärzte von der SS. Obwohl eine Art Außenseiter, waren seine Macht und sein Einfluß groß: Der Lagerkommandant Rudolf Höß und alle anderen wußten, daß Himmler an Claubergs Arbeit interessiert war.
Als Versuchsobjekte wählte er verheiratete Frauen zwischen 20 und 40 Jahren, vorzugsweise solche, die schon Kinder geboren hatten. Zunächst injizierte er ein Kontrastmittel, um auf dem Röntgenbild feststellen zu können, ob die Eileiter nicht bereits blockiert oder beschädigt waren. Danach spritzte er eine ätzende Substanz in den Muttermund, um die Eileiter zu verkleben.
Er hatte bereits mit verschiedenen Substanzen experimentiert, gab sich aber geheimnisvoll über die genaue Zusammensetzung des von ihm benutzten Mittels. Inzwischen glaubt man, daß es sich dabei um Formalin gehandelt hat, das manchmal zusammen mit Novocain injiziert wurde.
Die Schilderungen der Frauen, mit denen experimentiert wurde, lassen uns besser verstehen, wessen Clauberg tatsächlich fähig war: Margita Neumann, eine tschechische Jüdin, berichtet, wie sie in ein dunkles Zimmer mit großem Röntgengerät gebracht wurde: »Dr. Clauberg ordnete an, daß ich mich auf den Gynäkologenstuhl legte, und gab mir eine Spritze in den Unterleib. Ich hatte das Gefühl, mein Bauch würde vor Schmerzen platzen. Ich begann zu schreien, daß ich im ganzen Block gehört werden konnte. Dr. Clauberg herrschte mich an, sofort mit dem Schreien aufzuhören, sonst käme ich gleich zurück ins Konzentrationslager nach Birkenau. Nach diesem Experiment hatte ich eine Entzündung der Eierstöcke.«
Im Gegensatz zu Clauberg war Dr. Horst Schumann kein berühmter Spezialist, sondern ein zuverlässiger »alter Nazidoktor« (er war 1930 in die Partei und die SA eingetreten).
Seine Experimente führte er brutal und rücksichtslos durch. Er arbeitete in Block 30 in einem großen Raum mit zwei Röntgenapparaten und einer kleinen Zelle für ihn selbst, die selbstverständlich mit Bleiplatten gegen die Strahlung isoliert war.
Die Versuchsobjekte - relativ gesunde junge Männer und Frauen von circa 17 bis 25 Jahren, die am Vortag in den Lagern ausgewählt worden waren - wurden in einem Warteraum aufgereiht und eines nach dem anderen hereingebracht, wobei sie häufig überhaupt keine Ahnung hatten, was mit ihnen geschehen sollte. Die Frauen wurden am Unterleib und am Rücken zwischen zwei Platten gepreßt, die Männer mußten Penis und Hodensack auf eine Platte legen. Schumann selbst stellte die Apparate an, die ein lautes Summgeräusch von sich gaben. Jede »Behandlung« dauerte, so Klodzinski, »einige Minuten«, die Häftlingsärztin Dr. Alina Brewda spricht von »fünf bis acht Minuten«.
Viele Frauen, berichtete die Häftlingsärztin Dr. Marie L., trugen »erhebliche Verbrennungen« davon, die sich häufig entzündeten und nur langsam heilten. Andere zeigten rasch Symptome einer Bauchfellentzündung mit starken Schmerzen, Fieber und Erbrechen. Nicht lange nach Empfang der Strahlendosis wurden den Frauen die Eierstöcke entfernt, in der Regel mit zwei Operationen. Die Eierstöcke wurden an Laboratorien verschickt, die feststellen sollten, ob die Röntgenstrahlen das Gewebe zerstört hätten. Dr. L. schrieb: »Es gab Tote, es gab Komplikationen, vieles wurde durch Lungen-Tbc verschlimmert, weil es ja keine Voruntersuchungen gab.«
Häftlingsärztin Dr. Wanda J. war angewiesen, sich um die jungen griechischen Frauen zu kümmern ("Griechische Kinder, sie waren zwischen 16 und 18 ... ohnehin nur noch Skelette"), die eine nach der anderen operiert wurden: Die Mädchen schrien und weinten ("Sie nannten mich Mutter, sie dachten, ich würde sie retten, aber das konnte ich nicht") die ganze Zeit, während der rohen Rückenmarksanästhesie und der ruppigen, zehnminütigen Operation; dann wurde das bemitleidenswerte kleine Opfer auf einer Trage hinausgebracht und das nächste herein. In Gesprächen, die ich mit einigen Opfern dieser Versuche 35 Jahre später geführt habe, zeigte sich, wie tief diese Verletzungen und Mißhandlungen empfunden wurden. Eine jüdische Griechin berichtete von ihrem Entsetzen, als sie in einem Spiegel »das Blut hervorquellen sah, als sie meinen Bauch aufschnitten«; und dann, nach den beiden Operationen: »Eiter aus der infizierten Wunde, wie aus einer Grube, hohes Fieber, Lungenentzündung. Mein Körper schwoll an, und wenn ich meinen Arm drückte, hinterließ das Flecken (Ödeme). Sie gaben mir Medikamente. Ich war wie gelähmt, ich konnte mich nicht bewegen. Mein ganzer Körper war völlig geschwollen.« Und weiter: »Wir wußten, daß wir wie ein Baum ohne Früchte waren. Die Versuche zerstörten unsere Organe. Wir haben gemeinsam darüber geweint ... Sie nahmen uns, weil sie keine Kaninchen hatten.«
Schumanns Experimente mit Männern verliefen ähnlich. Der Auschwitz-Überlebende Dr. Michael Z. hat es schriftlich festgehalten: Zuerst gab es das Gerücht, daß »Juden mit Röntgenstrahlen sterilisiert wurden«, und zwar von einem »Stabsarzt der Luftwaffe«. Dann besuchte Schumann eine Männerstation und ordnete die Vorbereitung von 40 Häftlingen an, für die eine Kartei mit Daten aus medizinischen Beobachtungen anzulegen war. Dann kamen die Opfer mit Anzeichen von Verbrennungen am Hodensack zurück; später berichteten sie, daß man ihr Sperma gesammelt hatte (durch brutale Bearbeitung der Prostata mit einem rektal eingeführten Stück Holz).
Bei der Operation wurden ein oder beide Hoden entfernt, manchmal gab es eine zweite Operation zur Entfernung des noch vorhandenen Hodens (durchgeführt mit »bemerkenswerter Brutalität« und ohne ausreichende Betäubung: »Die Schreie der Patienten waren schrecklich anzuhören"). Es kam zu »katastrophalen« Operationsfolgen: Blutungen und Sepsen, so daß »viele schnell starben, moralisch und physisch geschwächt«; andere wurden zur Arbeit geschickt, »was ihnen dann den Rest gab«.
Block 10 spielte eine wichtige Rolle bei einer Art »anthropologischer Forschung«, die zum Absurdesten gehört, was die Biomedizin der Nazis hervorgebracht hat. Dr. Marie L. berichtet vom Beginn solcher Forschungen in Auschwitz: »Ein neuer Protagonist der Rassentheorie erschien (in Block 10). Er wählte sein Material aus, indem er nackte Frauen jeden Alters vor sich paradieren ließ:
Er wollte anthropologische Messungen vornehmen. Er ließ alle Körperteile ad infinitivum durchmessen. Man sagte ihnen, sie hätten das außerordentliche Glück, ausgewählt zu werden, sie würden Auschwitz verlassen und in ein hervorragendes Lager kommen, irgendwo in Deutschland, wo sie gut behandelt und glücklich sein würden.«
Dr. L. hatte genug von Auschwitz gesehen, um die schreckliche Wahrheit zu vermuten ("Ich sagte mir sofort, die gehen ins Museum."), doch sie und andere äußerten sich nicht, weil ihnen »die Courage fehlte« und sie außerdem fanden, es wäre gütiger, still zu sein.
Diese Frauen kamen ins Konzentrationslager Natzweiler bei Straßburg. Wenn auch nicht zum Vernichtungslager bestimmt, verfügte Natzweiler doch über eine eigene Gaskammer mit den üblichen falschen Duschen. Außerdem war hier ein Einwegspiegel montiert, der es den Draußenstehenden ermöglichte, die Frauen in der Gaskammer zu beobachten.
Ein Häftlingsarzt berichtete, daß man die Frauen aus Auschwitz oberflächlich untersuchte, um sie zu beruhigen, und daß nach der anschließenden Vergasung die Leichen sofort in die Anatomie des Straßburger Universitätskrankenhauses kamen. Ein französischer Häftling, der dem Projektleiter, SS-Hauptsturmführer Professor August Hirt, assistieren mußte, berichtete: »Es wurde sofort mit dem Präparieren begonnen«, die waren »noch warm, die Augen weit offen, leuchtend«. Es gab noch zwei Lieferungen mit Männern, denen allen der linke Hoden fehlte, der an Hirts Anatomielabor geschickt worden war.
Hirt, Ordinarius für Anatomie, hatte auf Himmlers Anweisung hin die Cyanhydratsalz-Lösung bereitgestellt, um die Gaskammer in Natzweiler mit den Häftlingen aus Auschwitz einzuweihen. In einer Aktennotiz hatte er sich im Februar 1942 bei Himmler für die »Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren« eingesetzt.
Hirts Ziel war, »mit der Schädelsammlung ein greifbares wissenschaftliches Dokument« anzulegen, das »ein widerliches, aber charakteristisches Untermenschentum« zeigte. Die Aktennotiz empfahl, daß ein jüngerer Wehrmachtsarzt zunächst photographieren sowie Studien und Messungen am noch lebenden Opfer durchführen sollte. Der Schädel sollte bei der Tötung nicht beschädigt werden. Präpariert und ins Labor geschickt, sollten Schädel und Hirn dann unter anderem auf »Rassenzugehörigkeit« und »pathologische Erscheinungen der Schädelform« untersucht werden.
Offenbar gab es aber sowohl Schwierigkeiten, genügend »jüdisch-bolschewistische Kommissare« aufzutreiben als auch Probleme beim Abtrennen der Köpfe, so daß man sich entschloß, ganze Skelette zu verwenden und die Exemplare in Auschwitz zu sammeln. Es hieß, daß dieser Aktion 115 Menschen zum Opfer gefallen sind, alles Juden (79 Männer und 30 Frauen) mit Ausnahme von 2 Polen und 4 Kirgisen.
Eigentlich hatte ich meine Untersuchung auf Mengele konzentrieren wollen. Aber die Gefahr wäre zu groß gewesen, den Kult der dämonischen Persönlichkeit, der ohnehin um ihn gemacht wurde, noch zu verstärken und gleichzeitig das allgemeine Phänomen des medikalisierten Tötens durch die Nazis zu vernachlässigen.
Ich will aber versuchen, nicht nur seine individuellen Psychostrukturen zu begreifen, sondern auch darzulegen, wie diese dem biomedizinischen Weltbild der Nazis entgegenkamen und was wir von ihm über eine korrupte medizinische Wissenschaft lernen können. Mengele schien in Auschwitz sein Element gefunden zu haben; das sagt sehr viel über den Mann aus, und mehr noch über die Psychologie der Institution.
Die Häftlingsärztin Dr. Olga Lengyel nannte ihn einen Selektions"Spezialisten«, der »zu allen Tages- oder Nachtzeiten auftauchen konnte«. Ein Häftlingsarzt: »Er hatte keine Probleme, nicht mit seinem Gewissen, nicht mit den Menschen um ihn herum, einfach mit gar nichts.«
Vor allem die Selektionen auf den Krankenstationen wurden von ihm mit einer schonungslosen Gewissenhaftigkeit und mit einem großen »Verantwortungsbewußtsein« durchgeführt. Für Mengele war es wichtig, daß von denen, die seiner Meinung nach zu selektieren waren, auch jeder gefunden wurde - er gerierte sich »wie ein Bluthund«, meinte ein Überlebender.
»Bevor er kam, mußten alle Türen und Fenster geöffnet werden.« Marianne F., die im Häftlingskranken-Block arbeitete, erinnerte sich später vor allem an seinen »weißen Ärztekittel über der Uniform - leuchtend weiß, neu« und charakterisierte ihn mit den Worten »sauber, sauber, sauber!«
Mengeles Leidenschaft für Sauberkeit und Perfektion machten ihn zu einem Selektions-Ästheten: Leute mit Hautunreinheiten, kleinen Geschwüren oder mit Blinddarmnarben kamen in die Gaskammer. »Meine beiden Cousins wurden vor meinen Augen in den Tod geschickt, weil sie kleine Wunden am Körper hatten«, berichtete ein Überlebender.
Mengele erschien vielen als die Personifikation von etwas unmenschlich Bösem. Dr. Wanda J. erinnerte sich, daß sie nie ein Wort mit ihm gewechselt hatte, auch er hatte nie das Wort an sie oder einen ihrer Kollegen gerichtet. Ein anderer Häftlingsarzt nannte Mengele den »Herrn über Leben und Tod«.
Mengele untermauerte sein Image, indem er seinem Mordhandwerk dramatische Effekte gab. Im Block der Kinder zog er an einer Wand in 156 Zentimeter Höhe einen Strich und schickte jene, die zu klein waren, um an den Strich heranzureichen, in die Gaskammer.
Seine Energie und Vitalität machten ihn in den Augen der Häftlinge zu einem Menschen, der in Auschwitz richtig aufblühte. Einer schrieb: »Dr. Mengele machte den Eindruck eines Mannes, der
große Befriedigung aus seiner Arbeit zog und an seine Berufung glaubte.« Diese Beobachtung entspricht der Feststellung von Ernst B., dem SS-Arzt, der sagte, daß er mit seinem Freund Mengele nie über innere Konflikte gesprochen habe, weil dieser »keine Schwierigkeiten hatte«.
Mengele tötete auch höchstpersönlich. Man hat ihn Phenolinjektionen verabreichen sehen, und zwar stets in korrekter medizinischer Haltung. Er war ständig darauf bedacht, so erschien es dem Häftlingsarzt Dr. Marek P., das Tötungssystem zu verbessern, und ärgerte sich über die Unfähigkeit der anderen. »Er regte sich schrecklich auf über die lange Schlange der Wartenden, nahm die Spritze in die Hand und zeigte ihnen (den Sanitätern oder den Häftlingen, die dazu eingeteilt waren), wie sie es schneller machen konnten.« Mengele selbst gab die Injektionen »ohne zu sprechen, als ob er einen regulären chirurgischen Eingriff vornähme, ohne irgendwelche Gefühle zu zeigen«.
Er hat Häftlinge erschossen, eine Frau soll er mit Fußtritten umgebracht haben. Außerdem gibt es Berichte, Mengele habe Neugeborene sofort ins Krematorium beziehungsweise ins offene Feuer geworfen. Egal, ob er Menschen selektierte oder sie selbst tötete: Das Wesentliche an Mengele waren sein auffallender Gleichmut, sein Desinteresse und seine Effizienz.
Aber Mengele war ein leidenschaftlicher Forscher, besonders bei seinen Untersuchungen an Zwillingen. Wahrscheinlich ist er sogar zu diesem Zweck nach Auschwitz gekommen. Einige Jahre zuvor, als er an der Universität Frankfurt bei Professor Otmar von Verschuer studierte, hatte er wohl schon mit Zwillingsforschung zu tun gehabt. Dieser Lehrer Mengeles hatte gegen Ende des Jahres 1935 behauptet: »Wir brauchen unbedingt eine Reihenuntersuchung von willkürlich ausgesuchten Familien und Zwillingen mit und ohne vererbbare Mängel.« Damit könne man eine »vollständige und verläßliche Bestimmung der Vererbung beim Menschen« und »das Ausmaß des Schadens durch ungünstige Erbeinflüsse« ebenso feststellen wie die »Beziehungen von Krankheit, Rasse und Rassenvermischungen zueinander«.
In Auschwitz fand Mengele die Möglichkeit, den von seinem Mentor übernommenen intellektuellen Traum auszuleben. Er wußte die einzigartige Gelegenheit zu nutzen, die Auschwitz für die sofortige und absolute Verfügbarkeit einer großen Anzahl dieser kostbaren Versuchsobjekte (insbesondere eineiige Zwillinge) bot.
Mengele befahl nicht einfach nur, alle Zwillinge zusammenzutreiben, sondern tat sich persönlich ganz aktiv bei der Sammelaktion hervor. Teresa W., die manchmal die Gelegenheit hatte, Selektionen an der Rampe aus der Nähe zu beobachten, berichtete, daß Mengele sich mit »merkwürdigem« Gesichtsausdruck in den »Strom« der ankommenden Juden stürzte, neben der Menge herlief und »Zwillinge heraus!« brüllte - und zwar in einer Art, »daß ich ihn für verrückt hielt«.
Nachdem er die Zwillinge ausgewählt hatte, unterwarf Mengele sie seinem
komplizierten Untersuchungsprogramm, Marke Auschwitz. Zusätzlich zu den allgemeinen Räumen der SS-Ärzte (die von sämtlichen SS-Ärzten benutzt wurden) verfügte er über drei weitere Räume, hauptsächlich für seine Zwillingsarbeit: einen im Männerlager, einen im Frauen- und einen im Zigeunerlager. Überall hatten die Zwillinge Sonderstatus, sie erhielten eine spezielle Nummer, und in vielen Fällen wurde neben die Zahl ein »ZW« tätowiert. Häufig durften sie ihre eigene Kleidung behalten, auch wurden ihre Köpfe nicht immer kahlgeschoren. Die Zwillinge, meistens Kinder, lebten in besonderen Blocks, in der Regel in den Kranken-Blocks und oft zusammen mit weiteren Forschungsobjekten Mengeles wie Zwergen oder Häftlingen mit anderen Abnormitäten.
Mengeles kostbarste Forschungsobjekte, die eineiigen Zwillinge, wurden häufig gemeinsam und vergleichend untersucht, wie ein Zwillingspaar beschreibt: »Es war wie in einem Labor. Zuerst hat man uns gewogen, dann gemessen und verglichen - kein Körperteil, der nicht gemessen und verglichen worden wäre. Wir saßen immer nebeneinander, immer nackt. Stundenlang saßen wir so, man hat sie gemessen, dann mich und dann wieder mich und wieder sie.«
Sie seien zwar immer nackt untersucht worden, aber, so betonten sie, Mengele sei immer korrekt und »niemals grob« gewesen, sondern eher rein professionell mit ihnen umgegangen.
Es gab ein ausgeklügeltes Arrangement zur pathologischen Leichenuntersuchung. Dr. Miklos Nyiszli, Mengeles leitender Häftlingspathologe, erhielt einen speziellen Sezierraum mit einem »Seziertisch aus poliertem Marmor«. Das Ganze, so schrieb Nyiszli später, sei »die exakte Kopie eines pathologischen Instituts jeder beliebigen größeren Stadt« gewesen.
Nyiszlis Aussagen vom Juli 1945 belegen, daß Mengele auch persönlich Zwillinge umgebracht hat:
»Im Arbeitszimmer neben dem Sezierraum warteten (an einem Abend, gegen Mitternacht) ungefähr 14 Zigeunerzwillinge, von SS-Leuten bewacht, und weinten bitterlich. Dr. Mengele sprach kein einziges Wort mit uns und bereitete je eine Zehn-Milliliter- und eine Fünf-Milliliter- Spritze vor. Aus einer Schachtel nahm er Evipan, aus einer anderen Chloroform, das sich in Glasbehältern befand, und legte beides auf den Operationstisch. Danach wurde das erste Kind hereingebracht, ein 14jähriges Mädchen. Dr. Mengele befahl mir, das Mädchen zu entkleiden und auf den Seziertisch zu legen. Dann injizierte er das Evipan intravenös in den rechten Arm. Nachdem das Kind eingeschlafen war, suchte er die linke Herzkammer und injizierte zehn Milliliter Chloroform. Nach einem kurzen Zucken war das Kind tot, worauf Dr. Mengele es in die Morgue bringen ließ. Auf diese Weise wurden in jener Nacht alle 14 Kinder umgebracht.«
Der letzte Schritt bei Mengeles Zwillingsforschungen konnte also die Leichensektion sein. Auch wenn das nicht das Schicksal aller Zwillinge war (gerade sie hatten bessere Überlebenschancen), erkennt man hier Mengeles Kombination von relativ normalem wissenschaftlichen Verhalten mit einem buchstäblich mörderischen Forschungsfanatismus. In Auschwitz konnte jedes Zwillingspaar unter den gleichen Lebensbedingungen beobachtet werden, man konnte sie »bei bester Gesundheit gemeinsam in den Tod schicken« - ideale Voraussetzungen für vergleichende Post-mortem-Untersuchungen.
Manchmal tötete Mengele Zwillinge einfach nur, um einen diagnostischen Disput zu bereinigen. Der Radiologe Dr. Abraham C., der für Mengele
arbeitete, erzählte mir von einer solchen Situation: Zigeunerzwillinge von sieben oder acht Jahren hatten bestimmte gemeinsame Symptome gezeigt, die nach damaliger Auffassung auf Tuberkulose schließen lassen konnten. Mengele war überzeugt, daß die Zwillinge tuberkulös seien, allerdings fanden die Häftlingsärzte nach sorgfältiger Prüfung keine Spur der Krankheit. Noch immer nicht überzeugt, schrie Mengele die Häftlingsärzte an: »Alle anderen können Fehler machen, aber nicht der Röntgenarzt. Es muß eine (Tuberkulose) da sein.« Mengele ging und befahl C., an seinem Platz zu bleiben. Nach ungefähr einer Stunde kam er wieder und meinte ruhig: »Sie hatten recht. Da war nichts.« Nach einer Pause: »Jawohl, ich habe sie seziert.«
Später hörte C. von Nyiszli, Mengele habe die beiden Buben ins Genick geschossen und »an den noch warmen Leibern mit den Untersuchungen begonnen: zuerst die Lungen, dann die anderen Organe, wobei er einige Arbeiten selbst durchführte«. Die beiden Kinder waren die Lieblinge der Ärzte gewesen, auch Mengeles. »Sie wurden bestens behandelt, sehr verwöhnt, gerade diese beiden, er war von ihnen fasziniert.«
Mengeles Distanz zu seinen Forschungsobjekten grenzte ans Schizoide. Die Häftlingsärztin Dr. Lottie M. beschrieb ihn als »den kältesten Zyniker, den ich je sah«, und seine Haltung den Häftlingen gegenüber sei gewesen »wie zu Mäusen und Kaninchen«. Ähnliches berichtet auch Nyiszli, der, nachdem bei der Rebellion eines Sonderkommandos ein Krematorium in die Luft gesprengt worden war, vorgeschlagen hatte, den Sezierraum zu verlegen, da »diese Umgebung für ernsthafte Forschung höchst unpassend« sei, worauf Mengele kühl geantwortet habe: »Was ist los, werden Sie sentimental?«
Mengele empfand Ehrfurcht vor der »Wissenschaft«, vielleicht liebte er sie sogar, aber zu seiner Art, Wissenschaftler zu sein, gehörte der Ehrgeiz, alles unter Kontrolle zu haben. Wie bei vielen Menschen, die von ihrer »Berufung« besessen sind, konnten auch ihn kleine Unregelmäßigkeiten in Rage bringen. Als Nyiszli Fettflecken auf einige seiner Autopsieberichte gebracht hatte, tobte Mengele: »Wie können Sie so nachlässig sein, ich habe die Unterlagen mit so viel Liebe gesammelt!«
Vom Winter 1942 an war es Häftlingsärzten in größerer Zahl gestattet, in den Kranken-Blöcken zu arbeiten, wenn auch häufig zunächst als Pfleger oder Schwester statt als Arzt.
Das Problem der Häftlingsärzte war, wie Dr. Jacob R. es ausdrückte, »daß man Teil des Systems wurde - das war das Schlimmste daran«. Er erzählte mir »von dem, was mich die ganze Zeit verfolgt, worüber ich nie gesprochen habe: das Selektieren von Häftlingen, die nicht mehr arbeiten konnten«. Er beschrieb, wie manche Patienten auch nach mehreren Tagen auf der Station immer noch schwach waren: »Früher oder später würden sie als arbeitsunfähig eingestuft werden - und wir konnten nicht helfen. So sind sie also in die Gaskammer gegangen - kontrolliert (selektiert) von den SS-Ärzten. Aber wir trafen die Entscheidung, wen wir ihm (dem SS-Arzt) vorführten.«
Das Dilemma der Häftlingsärzte war, wie weit man Teil des Systems werden sollte, wie weit man bei Selektionen zu kooperieren hatte. Wenn die SS-Ärzte eine Patientenliste verlangten, besprachen sich die Häftlingsärzte häufig miteinander und versuchten, zu einer gemeinsamen Position zu gelangen - meistens ein Kompromiß, bei dem sie sich auf eine begrenzte Kooperation einigten (eine Auflistung der offensichtlich hoffnungslosen Fälle) und sich gleichzeitig bemühten, jene zu retten, die sie retten konnten.
Mengele brauchte die Häftlingsärzte nicht nur für seine Forschungsprojekte, er betrachtete sie auch als besondere Kategorie: Gewöhnliche Häftlinge (besonders Juden) waren, wie Dr. Lottie M. es genannt hat, die »Kaninchen und Mäuse«,
die Ärzte hingegen »menschliche Wesen«, so daß sogar jüdische Ärzte seine »Kollegen« werden konnten. Als das tschechische Lager aufgelöst und vernichtet wurde, so berichtet sie uns, habe Mengele eine kleine Liste jener angefertigt, die zu verschonen waren: Neben seinen Zwillingen waren auch einige jüdische Ärzte darunter. Als einer der Ärzte Mengele erklärte, daß er ohne Frau und Tochter nicht mit ihm kommen würde, durften auch diese beiden überleben.
Dr. Alexander O. berichtete von seinen ersten Begegnungen mit Mengele: »Man hätte keinen besseren Eindruck haben können.« Er habe sich als kultiviert, zuvorkommend und gebildet ausgewiesen und nicht nur zu medizinischen, sondern auch zu literarischen Fragen bis hin zu Flaubert kenntnisreich Stellung genommen. »Er vergaß, wer ich war«, und wenn die beiden Männer sich trafen, »war es einfach eine Unterhaltung zwischen zwei Ärzten, die sich vertrauten«.
Dr. O. glaubte, einen Freund gefunden zu haben, »aber dann hat er mich enttäuscht«. Als Mengele ihn nach seiner Familie befragte, sagte Dr. O., seine Frau sei mit nach Auschwitz gekommen (was für Mengele unmißverständlich hieß, daß sie getötet worden war), seine kleinen Kinder hielten sich aber noch in Frankreich auf. Mengele sprang auf und fragte: »Warum sind sie nicht hier?« Hier sah Dr. O. mich sehr ruhig an und meinte: »Wissen Sie, was das bedeutete? Das hieß, warum sind sie nicht hier, damit sie vergast werden können?« Mengele wurde noch viel ärgerlicher, als er hörte, daß die Kinder von französischen Priestern versteckt worden waren. Das war der Punkt, wo Dr. O. dann, wie er sich ausdrückte, »auf ewig enttäuscht« von Mengele war.
Während meines ersten Interviews mit Dr. Ernst B., als wir darüber sprachen, wie weit seine Verstrickung in das Auschwitz-System ging, sagte er plötzlich spontan zu mir: »Ich habe sehr guten Kontakt mit Mengele gehabt. Sie wissen, wer Mengele war.« Und dann erklärte er: »Und ich muß sagen, er ist von allen dort der anständigste Kollege gewesen, den ich je hatte.«
Über einen Zeitraum von zwei Jahren und bei fünf verschiedenen Gesprächen rückte Dr. B. keinen Zoll von diesem erstaunlichen Urteil ab. Das Thema interessierte ihn offensichtlich, er wurde immer sehr lebhaft dabei. Er war bemüht, die seiner Ansicht nach über den Mann und seine Bedeutung in Auschwitz kursierenden Mißverständnisse zu korrigieren. Mengele sei nicht »der Exponent eines SS-Arztes« gewesen, eher »eine Ausnahme«.
Dr. B. betonte, daß sich Mengele von jener Gruppe, die schon lange im Lager war, durch seine unabhängigen Überzeugungen unterschied: Er »gehörte zu denen, die prinzipiell nicht einverstanden waren mit dem ganzen Prinzip«. Mengele, Bruno Weber, der Chef des SS-Hygiene-Instituts in Auschwitz, und er selbst hätten vieles gemeinsam gehabt. Dr. B.: Weber stand der Vernichtung der Juden kritisch gegenüber, ähnlich Mengele der Vernichtung der polnischen Intelligenz. Es waren »ähnliche allgemeine Auffassungen über die falsche Entwicklung der Konzentrationslager«.
Als ich die Frage nach Mengeles Experimenten am Menschen anschnitt, verteidigte Dr. B. seinen Freund: Experimente am Menschen seien »eine relativ geringe Sache« in Auschwitz gewesen. Kinder hätten nur eine kleine Chance gehabt, Auschwitz zu überleben, aber Mengele habe sich darum gekümmert, daß sie ausreichend ernährt und gut behandelt wurden. Er habe sich um eine Verbesserung der Ernährung in den Kranken-Blöcken bemüht und gegen die Korruption bei der Essenszuteilung gekämpft. Die wilden Gerüchte und Phantasien über Mengele seien wohl nur deshalb entstanden, weil er in einem Zimmer arbeitete, das sonst niemand betreten durfte.
B. verneinte, als ich ihn fragte, ob er seine Meinung ändern würde, wenn ich ihm ausreichende Beweise vorlegte, daß Mengele eines der Kinder oder auch ein Zwillingspaar in die Gaskammer geschickt habe: »Unter den Bedingungen von Auschwitz, das muß man immer sagen, waren die Experimente von Mengele keine Grausamkeiten.«
In seinem Plädoyer für Mengele betonte Dr. B. wiederholt die »Bedingungen« oder die »Atmosphäre« von Auschwitz. Es gab dort Gelegenheit, »daß man eben Experimente machen konnte, wie man es in der normalen Welt nicht machen kann«. Deshalb habe Mengele »rein wissenschaftliche Forschung, die man nur unter diesen extremen Bedingungen machen kann«, betrieben.
»Man muß sich vorstellen, in dem Auschwitzer Milieu, wo Tausende ständig umgebracht wurden, war so etwas nichts Außergewöhnliches. Überhaupt nichts, was in irgendeiner Weise aufgefallen wäre oder ihm zum Bewußtsein gekommen ist. Aber als Außenstehender kann man das nicht verstehen.«
B.'s Botschaft lautete: Was ich sah, war lobenswert und kollegial. Was ich nicht gesehen habe, kann ich auch nicht kommentieren. Wenn es heißt, daß Mengele schlimme Sachen gemacht hat, dann übertreiben oder phantasieren sie, und ich kann ihnen nicht glauben.
Schlüsselbegriff bei B.'s Versuch, Mengeles »guten Namen« wiederherzustellen, war das Prinzip der Integrität. Mengele habe seinen Überzeugungen gemäß gehandelt und wertvolle wissenschaftliche Arbeit geleistet. Vielleicht sei es zu einem gewissen Verlust an Menschlichkeit gekommen, wie Dr. B.
auf mein Drängen zugab. »Aber wenn jemand so überzeugt ist, daß die Juden ausgemerzt gehören, daß darüber keine Diskussion besteht, dann kann man sich ja vorstellen, daß dieser (mentale) Block nicht besteht. Immer, wie gesagt, unter den Bedingungen von Auschwitz.«
B. schien der Ansicht zu sein, daß jemand, der von nationalsozialistischen Ideen durchdrungen war, mit »absoluter Integrität« Grausamkeiten und Morde verüben konnte.
Für Dr. B. war Mengele ein Freigeist, ein »optimistischer Charakter«, der auch dann nach seinen Überzeugungen handelte, wenn sie im Gegensatz zur offiziellen Praxis in Auschwitz standen. Als Beispiel nannte er Mengeles Eintreten gegen die Vernichtung des Zigeunerlagers. Für die Sippen eingerichtet, sei es im Zigeunerlager sehr rasch zu selbst für Auschwitz außerordentlich schmutzigen und unhygienischen Zuständen gekommen; Säuglinge, Kinder und Erwachsene hungerten. B. bestand darauf, daß »im Zigeunerlager bestimmt so viel angeliefert worden ist, daß alle hätten überleben können«. Nach seiner Ansicht hätten aber einige wenige Chef-Zigeuner die meisten Nahrungsmittel für sich vereinnahmt und damit allen anderen, auch den hungrigen Kindern, das Notwendige vorenthalten.
Die Lagerverwaltung sei von der Situation »schockiert« gewesen. Man glaubte, die einzige Lösung sei, »das ganze Lager zu vergasen«. B. zufolge hatte Mengele sich entschieden dagegen ausgesprochen, fuhr mehrmals nach Berlin, um eine Revidierung dieser Entscheidung zu erreichen, und sei sogar so weit gegangen, den Lagerbehörden zu erklären, die Vernichtung des Zigeunerlagers sei »ein Verbrechen«.
Ernst B. selbst fühlte sich von der Situation der Zigeuner tief berührt, war, wie er berichtet, entsetzt, wenn er beobachtete, daß Väter und Mütter aßen und zusahen, wie ihre Kinder hungerten. Die Situation »war entsetzlich, war schlimmer als in allen anderen Lagern« und stellte »ein ganz großes Problem« dar. Und »seit ich dieses Zigeunerlager überlebt habe«, fügte er hinzu, »habe ich die allerschlechteste Meinung von den Zigeunern. Wenn ich einen Zigeuner sehe, gehe ich sofort weg, ich kann keine Zigeunermusik mehr hören«.
Die Opfer sind schuld - das tritt hier als Kern der Betrachtungsweise des Dr. B. hervor. Seine nachhaltige Betroffenheit und seine Aversion gegen Zigeuner lassen allerdings vermuten, daß er nichtsdestoweniger mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat; auch die Anmaßung, sich als »Überlebenden« zu bezeichnen, läßt darauf schließen. Er zeigte bemerkenswertes Mitgefühl für die Schwierigkeiten der Lagerleitung mit dem Zigeunerlager, ebenso für Mengele, den er für seine »offene Opposition« bewunderte. Gleichzeitig fand er es wieder völlig normal, daß Mengele, nachdem die Entscheidung einmal gefallen war, aktiv an der Vernichtung des Lagers teilnahm.
Dr. B.'s Schwierigkeiten, mit Mengeles Verhalten klarzukommen, zeigen sich in seinen widersprüchlichen Beschreibungen von Mengeles Einstellung zur Judenvernichtung. Manchmal tat er so, als ob Mengele gegen das Mordprojekt von Auschwitz Sturm gelaufen sei, und zitierte ihn mit Worten wie »absoluter Blödsinn« und »eine Dummheit«. Er ging sogar so weit, zu erklären: »Ich bin überzeugt, daß er nie zur SS gegangen wäre, wenn der Hitler vorher laut verkündet hätte, wenn wir erst gesiegt haben, werden wir alle Juden durch den Schornstein gehen lassen.« Später jedoch meinte er, Mengele sei »voll überzeugt« gewesen, »daß die Vernichtung der Juden eine Voraussetzung für die Gesundung der Welt ist und für Deutschland« und daß es hier nur um die Lösung methodischer Probleme gehe. Diese letztere Auffassung kommt der Wahrheit sicher näher.
Allerdings scheint mir, daß Mengele von Dr. B. zu einer Art Sprachrohr für seine eigenen inneren Widersprüche zum »jüdischen Problem« gemacht wurde: Manchmal redete er von dem gesamten Fragenkomplex der Judenvernichtung, als sei es ein Thema, über das alle Menschen guten Willens nachdenken und »offen und rational« diskutieren sollten. Und wenn er die an Mengele so bewunderten Charaktereigenschaften aufzählte ("ein guter Soldat, hatte keinen falschen Ehrgeiz in der SS, opponierte ganz offen, wo er etwas für falsch hielt"), dann waren das jene Qualitäten, die B. zu bewundern erzogen worden war, die er bei seinem Vater erlebt hatte und von denen er glaubte, sie hätten ihm die Kraft gegeben, sich in Auschwitz anständig zu verhalten.
Einmal fragte ich Dr. B., was er angesichts der unterschiedlichen Bahnen, in denen ihrer beider Leben verlaufen sei, davon hielte, Mengele irgendwann einmal zu treffen. Seine Antwort machte deutlich, daß er sich freuen würde, seinen alten Freund wiederzusehen und ihre Beziehung auf einer noch »rationaleren« Basis als früher wieder aufzunehmen: »Und dann würde sich daraus - so wie ich ihn kenne - eine völlig emotionslose Aussprache ergeben. Ohne Emotionen ... Die Emotionen, die sind in Auschwitz geblieben.«
Ende