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»Die Mörder sind noch unter uns« Ns-Ärzte: Von der Euthanasie

zur Massenvernichtung (I)./ Von Hans Halter _____« Bewältigung der Schuld kann nichts an deres heißen, » _____« als der Wahrheit ins Auge sehen. Alexander Mitscherlich, » _____« 1960 » *
Von Hans Halter
aus DER SPIEGEL 25/1988

Kurz nach seinem Dienstantritt im Konzentrationslager Auschwitz ließ Dr. med. Dr. phil. Josef Mengele im weißgestrichenen Flur der Krankenbaracke für Kinder einen waagerechten schwarzen Strich ziehen, millimetergenau in einer Höhe von 1,56 Meter. Fortan trennte diese Linie die Lebenden von den Toten.

Kinder, die die Markierung des deutschen Doktors nicht erreichten, hatten ihr Leben verwirkt. Nach den Maßstäben des SS-Hauptsturmführers lohnte bei den kleinen Patienten keinerlei Therapie. Sie galten als »unnütze Esser«, die auch nach ihrer Genesung zur Zwangsarbeit nicht zu gebrauchen wären. Deshalb führte man sie sofort in ein sogenanntes »Behandlungszimmer«. Dort wurden sie »abgespritzt«, durch eine Phenol-Injektion direkt ins Herz.

Den Mord besorgten rangniedere SS-Leute, mit deren Arbeit Hauptsturmführer Mengele anfangs nicht zufrieden war. Sie kamen nicht voran, im Flur bildeten sich Warteschlangen. Kühl und konzentriert brachte der Akademiker im weißen Kittel seinen Helfern bei, wieviel Phenol in die Spritze aufgezogen wird und welche Sitzhaltung die Opfer einzunehmen hätten. Dann zeigte er den Sanitätern, wie man an der linken Seite des Brustbeins den fünften Zwischenrippenraum findet und das Gift injiziert.

Nach dieser Lektion rühmte sich der Krankenpfleger Josef Klehr, daß er nun zwei bis drei Patienten pro Minute abspritzen könne. Dr. med. Mengele war es zufrieden. Als SS-Führer haßte er Ineffizienz, als Arzt und Anthropologe weiche Daten - daher der Strich an der Wand.

Unter Mengele wurde im größten Vernichtungslager, das die Weltgeschichte kennt, stets sorgsam gezählt, gemessen und gewogen. Der Standortarzt beschäftigte Dutzende von Gefangenen mit der Dokumentation seiner Taten. Er unterhielt einen Sektionsraum, Labors, ein Sekretariat. Von hier ging, versehen mit dem Stempel »Kriegswichtig - Dringend«, umfangreiches Forschungsmaterial an das angesehene »Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« in Berlin-Dahlem. Die präparierten Schädel, Knochen und Augen der Opfer sollten dort den Kollegen eine Freude machen und zugleich einen Grundstock bilden zu Mengeles geliebter Wissenschaft, der Zwillingsforschung.

In einem benachbarten Block des Konzentrationslagers Auschwitz trug der junge SS-Obersturmführer Hans Delmotte Material für seine medizinische

Doktorarbeit zusammen. Bei den Fleckfieberversuchen ging ihm ein inhaftierter älterer, jüdischer Professor zur Hand. Es ging gut voran, die Zahl der Opfer hielt sich in Grenzen. Auch deshalb galt Delmotte bei seinesgleichen als skrupelhafter Edelmann.

Die anderen KZ-Ärzte kannten keine Bedenken. Zu Forschungszwecken kastrierte beispielsweise der Obermedizinalrat Dr. med. Horst Schumann mindestens 152 Versuchspersonen durch Röntgenstrahlen, beobachtete im Block 28 der SS-Untersturmführer Prof. Dr. med. Dr. phil. Johann Paul Kremer die »Veränderungen im menschlichen Organismus unter Einwirkung des Hungers«, insbesondere die Schrumpfung der Leber, operierte SS-Sturmbannführer Dr. Eduard Wirths, um in Übung zu bleiben, »Krebsverdächtige«.

Andere SS-Ärzte in Auschwitz injizierten gesunden Häftlingen Eiter, fügten ihnen Brandwunden zu, experimentierten mit Drogen, Röntgenkontrastmitteln und Elektroschocks. Bei vollem Bewußtsein mußten junge Frauen die äußerst schmerzhafte Einspritzung sterilisierender Substanzen in die Gebärmutter erdulden. Alle diese, häufig tödlichen ("terminalen") Menschenversuche galten als wissenschaftliche Forschung. »Sie nahmen uns«, erinnert sich eine überlebende griechische Jüdin, »weil sie keine Kaninchen hatten.«

SS-Ärzte standen an der Rampe des Vernichtungslagers und »selektierten«, oft in Stundenfrist, tausend Neuankömmlinge. Die meisten wurden sofort zur Vergasung geführt, Kranke in Rot-Kreuz-Wagen dorthin gefahren. Der diensthabende Arzt gab den »Desinfektoren« das Zeichen zum Einwurf des »Zyklon B« in die Luftschächte, er beobachtete durch ein Fenster pflichtgemäß den minutenlangen Todeskampf der Opfer. Ohne die Erlaubnis des Arztes durfte die Gaskammer nicht geöffnet werden.

Die Ermordung hieß offiziell »Desinfektion« oder »Sonderbehandlung«. Von den Gaskammern sprach man ohne Spott als »Zentralkrankenhaus«. Getötet wurden »Untermenschen« und »lebensunwertes Leben«.

Tausende von »Ballastexistenzen«, »menschlichen Hülsen ohne Verstand«, »geistig Tote« ließen die Ärzte Heinrich Bunke aus Celle und Aquilin Ullrich aus Stuttgart (mittlerweile beide 73 Jahre alt) im Rahmen der »Aktion T4« 1940/41 in die Gaskammern der Tötungsanstalten von Bernburg und Brandenburg schaffen. Sie beaufsichtigten den Massenmord, drehten den Gashahn auf, fälschten die Totenscheine. Man hat sie, im letzten Jahr, nach 20jährigem Hin und Her, zu jeweils vier Jahren Gefängnis wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Sitzen müssen sie nicht.

Deutsche Ärzte, dem Eid des Hippokrates und dem auf ihren Führer Adolf Hitler gleichermaßen verpflichtet, duldeten zu Beginn des Krieges die

Massenerschießung pommerscher Kranker, um »Lazarettraum« freizumachen; sahen zu, als im russischen Minsk probehalber Patienten mit Dynamit in die Luft gesprengt wurden; vergifteten Zehntausende von Kindern mit dem Schlafmittel Luminal; ließen ihre Kranken zu Hunderttausenden verbluten, ersticken, verhungern.

Deutsche Ärzte schossen mit vergifteten Kugeln russische Kriegsgefangene forschungshalber in den Oberschenkel und protokollierten gewissenhaft den mehrstündigen Todeskampf; sie ließen Häftlinge Meerwasser trinken und unterkühlten sie so lange, bis das Herz endgültig stillstand. Dr. med. Ernst Grawitz, »Reichsarzt SS« und Geschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes, ordnete an, daß bei Sulfonamid-Versuchen den dazu herangezogenen 60 Polinnen des Frauen-KZ Ravensbrück »absolut kriegsgleiche Wunden« beizubringen seien durch »Hinzufügung von _(Jüdische Kinder in Auschwitz. )

Schmutz, Glassplittern usw.« (SPIEGEL 11/1947).

Alle diese pseudomedizinischen Versuche, urteilte der amerikanische Militärgerichtshof beim Nürnberger Ärzte-Prozeß 1946/47, seien gekennzeichnet durch »Grausamkeiten, Qualen, verstümmelnde Verletzungen und Todesfälle«.

Noch fünf Minuten vor zwölf, als das Tausendjährige Reich die KZs in Polen fluchtartig räumen mußte, standen die Ärzte in Treue fest zu ihren mörderischen Herren. Dr. Mengele, obwohl dafür eigentlich nicht zuständig, sorgte dafür, daß die Gaskammern in Auschwitz ordnungsgemäß gesprengt wurden. Das Anatomische Institut der Medizinischen Akademie Danzig, Direktor: Rudolf Spanner, erläuterte den braunen Machthabern noch schnell, wie man aus menschlichen »Fettresten« Seife kocht. Andere Ärzte sorgten sich um die Wiederverwendung des »Altgoldes jüdischer Herkunft«, welches den Ermordeten aus den Zähnen gebrochen wurde.

»Die Ärzte«, urteilt Robert Jay Lifton, 62, amerikanischer Psychoanalytiker jüdischer Konfession, legten »die Grundlage für den Massenmord« und folgten bereitwillig »der Nazi-Doktrin vom Heilen durch Töten«.

Lifton ist der Autor des unlängst in den USA erschienenen Buches »The Nazi Doctors« _(Robert Jay Lifton: »The Nazi Doctors. ) _(Medical Killing and the Psychology of ) _(Genocide«. Basic Books Inc., New York; ) _(526 Seiten; 19,95 Dollar. )

. Es erscheint im Herbst dieses Jahres bei Klett-Cotta auch in deutscher Sprache. Von der kommenden Woche an druckt der SPIEGEL Auszüge aus Liftons Buch.

Der New Yorker Autor, ausgewiesen durch profunde Veröffentlichungen über die Überlebenden von Hiroschima (1968), die Psychologie der Vietnam-Veteranen (1973) und den »Verlust des Todes« (1979), hat sich der mörderischen Medizin der NS-Zeit nicht über Dokumente genähert. Lifton nutzte, wohl als einer der letzten, die Chance, mit Tätern, Helfern und Opfern zu sprechen. Er führte Hunderte von Interviews. Unter seinen Gesprächspartnern waren 28 Ärzte, darunter SS-Angehörige, die in Auschwitz gedient haben.

Lifton hat alle Gespräche auf Tonband aufgenommen - es sind Zeitdokumente von großer Eindringlichkeit. »Zwei Umstände überraschen«, bemerkt die »Neue Zürcher Zeitung« zu Liftons Arbeitsweise: »daß der Autor es über sich brachte, diese für ihn zweifellos fast unerträglichen Begegnungen mit den SS-Ärzten durchzustehen«, und daß »seine Gesprächspartner (70 Prozent der Angefragten) überhaupt einwilligten«, Auskunft zu geben. Der Amerikaner sicherte den Mördern von einst dafür Anonymität zu. Beim richtigen Namen genannt werden sie nicht - das hat es einigen wohl erleichtert, sich am Ende ihres Lebens über ihre Taten und deren Motive freimütig zu äußern.

Für viele ist es das erste Mal. Denn die weitaus meisten Täter in den weißen Kitteln sind niemals zur Rechenschaft gezogen worden. Sie tauchten 1945 unter, wechselten Arbeitsplatz und notfalls vorübergehend auch Beruf und Namen. Etliche wurden nur pro forma vernommen, viele sogar in den Entnazifizierungsverfahren als »Mitläufer« eingestuft. »Wie weit Dr. Mengele selbst zu der in Frage stehenden Zeit (1943/44) über die Greuel und das Morden in Auschwitz orientiert war, läßt sich aus den verfügbaren Unterlagen nicht erkennen«, gutachtete der deutsche Nobelpreisträger Adolf Butenandt 1949, die Aktenlage korrekt wiedergebend. Der »Persilschein« galt dem akademischen Lehrer und Förderer Mengeles, dem Rassehygieniker Professor Otmar von Verschuer. Der war gerade dabei, wieder einen ordentlichen Lehrstuhl zu besetzen, diesmal in Münster - für Genetik.

Wie Verschuer gelang auch anderen NS-Gelehrten der schmerzlose Übergang in das demokratische Zeitalter. Kein akademischer Propagandist der Rassehygiene, Zwangssterilisierung und Ausmerzung wurde zur Verantwortung gezogen. Hans Bürger-Prinz, der seine psychiatrischen Kollegen 1935 streng ermahnt hatte, »Erbkranke« schon als Kinder, »vor der Fruchtbarkeit«, zu »erfassen«, um sie »herauszulesen und von der Fortpflanzung auszuschalten«, wurde ordentlicher Professor in Hamburg. Der spätere Medizin-Nobelpreisträger Konrad Lorenz, der 1940 für die »schärfere Ausmerzung ethisch Minderwertiger« eingetreten war, sorgte sich nach den braunen Jahren als Bestsellerautor nur noch ganz allgemein um das »sogenannte Böse«, nicht um seine Vergangenheit.

Johannes Heinrich Schultz, sanfter Vater des »Autogenen Trainings« und zugleich strenger Gutachter für Erbgesundheit und homosexuelles Verhaltener schickte Homosexuelle ins KZ, wenn sie nicht vor seinen Augen einer Frau beiwohnen konnten -, wurde nach 1945 einer der beliebtesten ärztlichen Fortbilder. Der Professor starb, steinalt und hochgeehrt, 1970. Jahrzehntelang war Hans-Joachim Rauch, 79, der als Gerichtspsychiater noch in Stammheim seine großen Auftritte

hatte, Ordinarius in Heidelberg. Während der NS-Zeit, damals noch Pathologe, sezierte er die Gehirne vergaster Kinder. Die kleinen Patienten wurden in die Tötungsanstalt Eichberg bei Heidelberg gebracht; Rauchs Institut stillte sein Begehr nach ihren lebendfrischen Organen, zum Beispiel »außer dem Gehirn Ausschnitte aus dem gesamten inneren Drüsensystem«.

Der Anatom Anton Kiesselbach, Helfer des sadistischen SS-Hauptsturmführers Professor August Hirt, der eine Skelettsammlung »jüdisch-bolschewistischer Untermenschen« anlegte (wofür über 100 Häftlinge ihr Leben lassen mußten), wurde 1962 zum Rektor der Universität Düsseldorf gewählt. Zum geplanten Prozeß wegen Mordes kam es nie.

Und wenn, vor allem in den frühen Jahren der Bundesrepublik, die Prozeßeröffnung nicht zu vermeiden war, gab es lächerlich geringe Strafen, die meist zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Sühne pro Ermordeten, so wurde errechnet, betrug oft nur acht Minuten Haft. Die »Verkürzung lebensunwerten Lebens«, erkannte das Landgericht Hamburg am 19. April 1949, könne keinesfalls eine »Maßnahme genannt werden, welche den allgemeinen Sittengesetzen widerstreitet«. Dr. med. Lotte A., die 14 Kinder getötet und das auch zugegeben hatte, wurde »außer Verfolgung gesetzt«. Das Urteil sprach ein Richter, der vormals Kreisleiter der NSDAP Bielefeld gewesen war. Lotte A. praktizierte bis 1986.

Die meisten Mörder hat nur der Ablauf von Zeit, ihr eigenes Alter, besiegt. Nach Gründung der Bundesrepublik brachten sie es wieder zu Chefarzt-, Amtsarzt- und Professorenstellen, geachtet als Akademiker und Hochschullehrer, tadellos vernetzt mit Justiz, Bürokratie und Archiven, beschützt durch alte Kameraden, fürsorglich alimentiert von ihrem Vater Staat. »Das Thema Medizin und Nationalsozialismus«, sagt der Kölner Psychosomatiker Ulrich Schultz, 36, der dazu einige fundierte Untersuchungen vorgelegt hat, »wurde vergessen, verdrängt, retuschiert«, von Anfang an.

Niemals gab es ein »Zielfahndungskommando« des BKA, wie es beispielsweise gegen den fröhlichen Anarchisten Michael ("Bommi") Baumann fünf Jahre lang zum Einsatz kam. Nicht einmal nach Mengele wurde ordentlich gefahndet. Der Günzburger ertrank 67jährig im Jahre 1979 beim Baden im Atlantik, vor der Küste Brasiliens.

Kein einziger deutscher Arzt von Rang erklärte sich bereit, 1946/47 an dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß gegen 21 prominente NS-Ärzte als Beobachter teilzunehmen. Keiner wollte wissen, was in den KZs wirklich geschehen war. So traf die Beobachterrolle den ehemaligen Gestapo-Häftling Alexander Mitscherlich und einen Medizinstudenten, Fred Mielke (nicht einmal seinen Namen schreibt das »Deutsche Ärzteblatt« 1987 richtig). Die beiden Deutschen, tief erschüttert von den bewiesenen »Untaten ungezügelter und zugleich bürokratisch-sachlich organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier«, publizierten 1947 in Buchform eine erschreckende Dokumentensammlung, »Das Diktat der Menschenverachtung«, später in »Medizin ohne Menschlichkeit« umbenannt.

Doch damit hatte es sich auch. »Nahezu nirgends wurde das Buch bekannt«, erinnerte sich Mitscherlich 1960 (Fred Mielke war schon gestorben), »keine Rezensionen, keine Zuschriften aus dem Leserkreis; unter den Menschen, mit denen wir in den nächsten zehn Jahren zusammentrafen, keiner, der das Buch kannte. Es war und blieb ein Rätsel - als ob das Buch nie erschienen wäre.«

Die Ärzte, allen voran die neu formierte, zumeist aus alten Nazis rekrutierte »Standesführung«, bewachten das Tabu. Ihr amtliches Kredo hieß: »Die Masse der deutschen Ärzte hat unter der Diktatur des Nationalsozialismus ihre Pflichten getreu den Forderungen des hippokratischen Eides erfüllt, von den Vorgängen nichts gewußt und mit ihnen nicht in Zusammenhang gestanden.« Mitscherlich wurde zur Unperson, als »Vaterlandsverräter« und »Nestbeschmutzer« beschimpft. »Das Verhalten der Kapazitäten grenzte an Rufmord« (Mitscherlich).

Erst die Studentenrevolte 1967/68 entstaubte das tabuisierte Thema. Unter den blütenweißen Kitteln der Professoren kam vielfach die blutrote Henkerschürze zum Vorschein. Plötzlich entdeckte der ärztliche Nachwuchs, daß selbst hochverehrte Lehrer während der NS-Zeit dem Führer Adolf Hitler verfallen waren. Ihm gebühre, schrieb die »Naturärztliche Rundschau« 1936, der »Ehrentitel Arzt des Deutschen Volkes«, mehr noch: »Heiler und Reiniger der arischen Menschheit.«

Wohin die Wahnideen von Blut und Boden, Rasse und Reinheit am Ende führten, läßt sich im Tagebuch des Anatomieprofessors Hermann Voss von der »Reichsuniversität Posen« nachlesen. 1942 notierte Voss: _____« Hier im Institutsgebäude ist auch im Kellergeschoß » _____« eine Verbrennungseinrichtung für Leichen. Sie steht jetzt » _____« ausschließlich im Dienst der Geheimen Staatspolizei. Die » _____« von ihr erschossenen Polen werden hier nachts » _____« eingeliefert und verbrannt. Wenn man die ganze polnische » _____« Gesellschaft so veraschen könnte! Das polnische Volk muß » _____« ausgerottet werden, sonst gibt es hier keine Ruhe im » _____« Osten. »

Nach dem Krieg übernahm Voss den Anatomie-Lehrstuhl an der Universität Jena und brachte es zum »Hervorragenden Wissenschaftler des Volkes«. Denn auch die Arbeiter- und Bauernmacht ließ die NS-Ärzte ungeschoren - und ist darauf sogar noch stolz. Heinz Domeinski, Dozent am Erfurter »Institut für Marxismus-Leninismus«, rühmt die Partei, weil sie bei der Entnazifizierung der Ärzte einige besonders braune Medizinprofessoren wenigstens so lange von der »Mitwirkung im Ausbildungs- und Erziehungsprozeß der Studenten« ausschloß, bis sie sich das »Vertrauen der demokratischen Machtorgane« neuerlich »erworben« hatten. Voss blieb gänzlich unbehelligt. Sein dreibändiges Lehrbuch, der »Voss-Herrlinger«, ist in Ost und West noch immer ein Bestseller.

»Unsere Ausbildung«, sagt der Berliner Arzt Helmut Becker, Jahrgang

1941, »wurde wesentlich geprägt von Männern, die Nationalsozialisten waren.« Als Beispiel erwähnte Becker auf dem 86. Deutschen Ärztetag in Kassel 1983 öffentlich den Nervenarzt Gerhard Kloos, »der während des Dritten Reiches an der Kinder-Euthanasie maßgeblichen Anteil hatte« und dessen Psychiatrie-Lehrbuch noch immer neu aufgelegt wird. Wegen dieser Äußerung ließ Kloos - im Dritten Reich Mitglied der NSDAP, des NS-Ärztebundes, des NS-Dozentenbundes, Gründer und Leiter der Ortsgruppe Freiburg der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht in Jena und Chefarzt des thüringischen Landeskrankenhauses Stadtroda, dem eine Euthanasie-»Kinderfachabteilung« angegliedert war - seinen Kritiker fünf Jahre lang wegen »Beleidigung« gerichtlich verfolgen.

Erst im April dieses Jahres gab der rüstige Pensionär, der es nach dem Kriege zum Professor in Göttingen gebracht hat, auf. Nun darf Becker weiter ungestraft die Wahrheit sagen. Sie gilt nicht mehr als Beleidigung.

Der Berliner Arzt zählt zu einer wachsenden Gruppe von jüngeren Medizinern, die das von den alten Nazi-Ärzten verordnete Tabu nicht länger hinnehmen wollen. Im letzten Jahr organisierte die mehrheitlich linke Berliner Ärztekammer, zu deren Vorstand Becker gehört, in der Berliner Tiergartenstraße eine mobile Ausstellung, genau an dem Platz, an dem während der NS-Zeit das administrative Zentrum der »T 4« genannten Euthanasieaktion seinen Amtssitz hatte. Heute steht dort die neu erbaute »Philharmonie«. Becker, Leiter eines Arbeitskreises »Ärzte und Nationalsozialismus": »Noch sind nicht alle Spuren verweht. Die Mörder sind noch unter uns.«

In Hunderten von Krankenhäusern, Landgerichten und Archiven lagern die verstaubten Akten der Unmenschlichkeit. Auf einigen steht: »Nicht in Feindeshand fallen lassen! Bei Feindgefahr vernichten!« Auf wenigen der Faszikel ist handschriftlich vermerkt: »WAR CRIMES«, von Feindeshand. Während der Nazizeit wurden rund 350 000 Deutsche zwangsweise unfruchtbar gemacht (88 000 leben noch), an die 200 000 psychiatrische Patienten »euthanasiert« und nahezu sechs Millionen Menschen in den Vernichtungslagern unter ärztlicher Beihilfe oder sogar Leitung getötet.

Bisher haben sich die deutschen Medizin- und Zeithistoriker wenig Mühe gegeben, die einschlägigen Dokumente zu bergen und auszuwerten. Weltweit erschienen zwischen 1966 und 1979 insgesamt 422 wissenschaftliche Publikationen zum Themenbereich »Medizin im Nationalsozialismus« - zwei davon wurden in der Bundesrepublik Deutschland verfaßt.

»Die Geschichtsschreibung über Ärzte und ärztliche Kunst im Dritten Reich«, urteilt der kanadische Historiker Michael H. Kater, »befindet sich immer noch in einem unbefriedigenden Zustand.« Der deutschstämmige Professor der »York University« bei Toronto ist der beste Kenner der NS-Ärzteverbrechen. Seit 20 Jahren publiziert der jetzt 51jährige Gelehrte über »Medizin und Mediziner im Dritten Reich«. Ende dieses Jahres erscheint sein neues Buch, »Doctors under Hitler«.

Kater weist nach, daß die grausamen Untaten an Millionen Menschen nicht das Werk von »höchstens 400« an »Medizinverbrechen« beteiligten Ärzten waren, wie Karsten Vilmar, der jetzige Präsident der Bundesärztekammer, behauptet. Vilmar ortet die Schuld allein bei diesem »makabren Orden«, gemeint ist die SS. Er verschweigt, daß sein Vorgänger Hans Joachim Sewering ebenso Mitglied der SS war wie dessen Amtsvorgänger Ernst Fromm.

Die Wurzeln der ärztlichen Unmenschlichkeit reichen jedoch tiefer. Seit gut 100 Jahren sind Deutschlands Ärzte mehrheitlich stets staatstreu gewesen, jedem strengen Regiment besonders zugetan. Führen und Folgen, Befehlen und Gehorchen galten als probate Behandlungsarten, am einzelnen Kranken und am Volkskörper gleichermaßen. Die »sozialbiologischen Forderungen nach einer reinrassigen Volksgemeinschaft, nach der Reinheit des deutschen Blutes« (Kater) fanden bei den Doktoren offene Ohren. Viele hielten den Nationalsozialismus für nichts anderes als angewandte Biologie.

An menschenfeindliche Begriffe wie »leere Hülse« für psychiatrisch Kranke oder »rassisch Minderwertige« für Ausländer hatten die akademischen Lehrer ihre Medizinstudenten schon in den zwanziger Jahren gewöhnt. Antisemitismus war unter Ärzten weit verbreitet, gespeist auch aus dem finanziellen Neid auf erfolgreiche jüdische Doktoren.

Mit fliegenden Fahnen lief die ärztliche Standesführung 1933 zu den neuen Machthabern über. Im »Deutschen Ärzteblatt« jubelte der Chefredakteur ("Hauptschriftleiter") Dr. med. Karl Haedenkamp: »Die Zeiten der Unehre und der Unsauberkeit sind vorbei!« Endlich sei Deutschland »zu völkischem Bewußtsein erwacht«. Pg. Haedenkamp

leitet auch nach 1945 die organisierte Lobby der Ärzte und brachte es 1954 im Rahmen seines berufsständischen Wirkens zum »Großen Verdienstkreuz« der Bundesrepublik.

Anhand einer 4000köpfigen Stichprobe, die Michael H. Kater nach den im »Berlin Document Center« verwahrten Karteikarten der Reichsärztekammer vornahm, hat der Historiker errechnet, daß 50 Prozent der männlichen Ärzte Parteigenossen waren, 26 Prozent der SA angehörten und 7 Prozent der SS. Diese Werte liegen weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt, sogar über denen der Lehrer und der Juristen.

Für die gegenseitige Attraktion zwischen den Arzten und der SS nennt Kater mehrere Gründe: Da sei, erstens, die »natürliche Affinität zwischen einer traditionell sozial elitären Gruppierung und einem sich elitär gerierenden politischen Führungskader«. Auch habe, zweitens, der »Anspruch technischer und auch intellektueller Perfektion in den SS-Führungsgremien« seinen Eindruck auf die akademisch gebildeten Mediziner nicht verfehlt. Schließlich habe die ständige Auseinandersetzung mit Fragen über Leben und Tod, also »der Umgang mit wirklicher Macht über Menschen« SS und Ärzte nachhaltig geprägt.

Die nationalsozialistische Politik der »Erbpflege«, gedacht zur »Aufartung« der germanischen Rasse, stieß bei den meisten Ärzten 1933 auf freudige Zustimmung. Die »weitverbreiteten Gedanken des Sozialdarwinismus«, so der Berliner Medizinhistoriker Gerhard Baader, 59, und selbst noch von den Nazis Verfolgter, förderten die Bereitschaft der Ärzte, an den NS-Verbrechen mitzuwirken.

Rund 10 000 jüdische, kommunistische oder links-sozialdemokratische Ärzte (von insgesamt rund 72 000 reichsdeutschen Medizinern) wurden von 1933 an brutal aus ihren Praxen und den Krankenhäusern verjagt, erhielten Berufsverbot, wurden zur Emigration oder in den Tod getrieben. Exodus und Exitus stießen auf keinen nennenswerten Protest der nicht selbst betroffenen Kollegen.

Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (1933) und das Nürnberger Rasse-»Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« (1935) machen die deutsche Ärzteschaft in ihrer Gesamtheit zu Mitwissern, Gutachtern und Tätern. Die meinungsbildenden Herren freute das. Im Operationssaal, rühmte der Breslauer Chirurgie-Professor Karl-Heinrich Bauer, werde das Gesetz »in die allein befreiende Tat umgesetzt«. Nach dem

Krieg war Bauer Rektor der Universität Heidelberg.

Mit ruhig-festem Tritt machte sich die Ärzteschaft 1933 auf den Weg in die Barbarei. Ärzte quälten kranke Menschen, statt ihre Not zu lindern, töteten, statt zu heilen. Michael H. Kater nennt die Stationen dieser pervertierten Medizin: »Von der gesundheitspolitischen Überwachung und Asylierung zur Sterilisierung und Kastration, von dort zum Menschenversuch, weiter zur ,Euthanasie'' und schließlich zum Massenmord.« Am Ende stand Dr. med. Mengele an der Rampe von Auschwitz.

Mit großem Talent schmückten alte und junge Ärzte die unmenschlichen Vorstellungen der Nazis weiter aus. So galt schon 1939 die »Arbeitstherapie« dem Internisten Professor Richard Siebeck (bis 1952 Ordinarius in Heidelberg) als der »letzte Akt der Behandlung«. Heinrich Himmler, »Reichsführer SS«, zog daraus im September 1942 praktische Konsequenzen. Er ordnete die »Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug« zwecks » Vernichtung durch Arbeit« an.

Im Jahr zuvor hatte Dr. phil. Dr. med. Siegfried Koller bereits eine »praktische Lösung« für das Problem der »Asozialen und Gemeinschaftsunfähigen« entworfen: Sie sollten allesamt von Staats wegen für eheunwürdig erklärt, unfruchtbar gemacht und »asyliert« werden. Die Kinder seien ausnahmslos »in Erziehungsanstalten zu überführen«. Dem Schreibtischtäter Koller widmete das »Deutsche Ärzteblatt« im März dieses Jahres eine lange Laudatio zum 80. Geburtstag, den der Bundesverdienstkreuzträger bei guter Gesundheit, wohlversorgt mit einer Professorenpension, verbrachte.

Die notwendige »Erkennung und Ausmerze der Gemeinschaftsunfähigen«, so das »Deutsche Ärzteblatt« 1940, galt allen Zigeunern, »Entarteten« und »Asozialen«, die der Arzt durch ihre »querulatorischen und staatsfeindlichen Neigungen« erkennen konnte. Ein Medizinalrat schlug den Kollegen allen Ernstes vor, beim großen Aufräumen gleich noch die »schwer Tabaksüchtigen« unfruchtbar zu machen, wegen »psychopathischer Degeneration«.

Mit dem Beginn des Krieges fielen die letzten Hemmungen. Vor allem Ärzte im schwarzen Rock der SS fühlten sich gegenüber Rasse, Volk und Vaterland in die Pflicht genommen, nicht gegenüber den Kranken. Die Verantwortung für ihre Mordtaten überließen sie fernen Vorgesetzten und dem mythisch überhöhten Führer. Mit »Küßlis« und »Ahoi« meldete der reisende Euthanasie-Gutachter Friedrich Mennecke seiner Frau jeden Abend brieflich die Erfolge: »Heute habe ich 34 gemacht« (aus Bethel, 1941), »hier sind 2000 Mann, die bald fertig sein werden« (KZ Dachau), »morgen früh kann es mit vollen Segeln losgehen« (KZ Buchenwald).

Mord wurde zur alltäglichen Berufstätigkeit beamteter Akademiker. Nach Feierabend sorgten sich die Herren liebevoll um ihre Ehefrauen (Mennecke: »Mein liebstes Puttli-Muttilein") , Kinder und Haustiere. Auf irgendeine ärztliche Tarnung ihrer Taten verzichteten viele Täter. Zur Vergasung wegen unheilbarer Geisteskrankheit wurden Menschen »selektiert«, auf deren Meldebogen als einzige medizinische Diagnose »Deutschfeindliche Agitation« eingetragen wurde. Die Symptome lauteten:

»Schwerer Hetzer und Wühler.« Andere mußten sterben, weil sie als »eingefleischter Kommunist« oder »fanatischer Deutschenhasser« galten.

»Wie keine andere akademische Disziplin«, urteilt Historiker Kater, habe die »Medizin unter dem Nationalsozialismus« ihre »Mission verraten«. Gnadenlos erprobten die KZ-Ärzte versuchsweise immer neue Tötungsmethoden: Sie injizierten Evipan und Benzin, Phenol und Luft. Lange fachmännische Diskussionen, so erfuhr Robert Jay Lifton von seinen deutschen Gesprächspartnern, gab es darüber, wie die Tausenden von Leichen in Auschwitz möglichst schnell und vollständig zu verbrennen seien. Die »chirurgische Aufgabe der SS«, hat Joseph Goebbels im Stil eines Heilkünstlers notiert, sei es, das »Geschwür des Judentums« aus dem »deutschen Volkskörper herauszuschneiden«. An hilfswilligen Chirurgen hat es nicht gefehlt.

Die Details der Barbarei sind so entsetzlich, daß einsichtig wird, warum die Enthüllung des Schreckens seit 1945 in langen Wellen verläuft und zwischendurch für Jahrzehnte immer wieder der kollektiven Verdrängung anheimfällt. Pschoanalytiker Lifton vermutet, daß auch Mengele und seine Kameraden ihre Untaten nur überleben konnten, weil sie einen seelischen Adaptationsvorgang durchmachten, den Lifton »doubling« nennt: Ihr »Ich« verdoppelte sich, in das mörderische Auschwitz-Ich und das »gute« Ich, das den tüchtigen Arzt, liebevollen Vater und verläßlichen Kameraden bis heute stabilisiert.

Die Täter von einst fand Lifton fast ausnahmslos in komfortablen Verhältnissen vor. Sie haben es nach dem Krieg zu gutgehenden Praxen und Privatkliniken gebracht, viele erleben ihren Ruhestand im eigenen Haus am Mittelmeer. Auf Ordnung und Disziplin sind sie noch immer bedacht, im privaten Leben wie im Großen. Die ehemaligen SS-Ärzte legen, beobachtete der amerikanische Psychologe, Wert auf physische Fitneß und propere Garderobe. Die Empfehlung eines alten Kameraden öffnet ihre Tür. Keiner hat sich nach 1945 irgend etwas zuschulden kommen lassen. Ihr ärztliches Handwerk übten sie ohne Tadel aus.

Wie konnten diese Männer, fragt sich Lifton, in den SS-Jahren von Heilern zu Massenmördern werden? Wie lebt man danach mit der Schuld und bleibt dabei bei guter Gesundheit?

Der grauhaarige Professor Lifton, ein Mann von großer Geduld und sanften Umgangsformen, hat sich sieben Jahre Zeit genommen, diesen Fragen nachzuspüren. Dutzende von Malen ist er durch Europa gereist, Hunderte von Stunden hat er aufmerksam zugehört und seine Gesprächspartner wie ein Therapeut immer wieder zum Punkt geführt - auf die Alltagspraxis des staatlich organisierten Mordens.

Von der ihm erwiesenen Gastfreundschaft und dem ruhigen Gleichmut seiner nationalsozialistischen Gesprächspartner war der jüdische Wissenschaftler wiederholt sehr beeindruckt. Überlebende Opfer des KZ Auschwitz äußern sich distanzierter. Keiner der Mörder habe sein Tun jemals wirklich bereut, geschweige die Opfer und ihre Familien um Verzeihung gebeten.

»Die haben keine moralischen Probleme«, erklärt der ehemalige polnische Häftlingsarzt Dr. S., der den SS-Ärzten in den KZ-Krankenbaracken zur Hand gehen mußte, seinem Gesprächspartner Lifton: »Die leben noch immer überall auf der Welt. Die sind nur unglücklich, daß sie den Krieg verloren haben.«

Im nächsten Heft

Robert Jay Lifton: Wie Ärzte zu Mördern wurden - Die Kinder-Euthanasie - Aktion T 4 - Der Weg ins Gas

Jüdische Kinder in Auschwitz.Robert Jay Lifton: »The Nazi Doctors. Medical Killing and thePsychology of Genocide«. Basic Books Inc., New York; 526 Seiten;19,95 Dollar.

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