HORROR Die Monstersinger
In dem Kinostück »Der Vampir von
Notre Dame« gönnt eine greise Dame sich hin und wieder eine ebenso ungewöhnliche wie erfolgreiche Verjüngungskur: Schon das Blut eines jungen Mädchens, körperwarm aus der Halsader gesogen, beseitigt Falten und Warzen im Nu und verleiht ihrem Gesicht den Zauber jugendlicher Frische.
Der Farbfilm »Frankensteins Rache« zeigt in einer seiner pikanten Szenen herrenlose Menschenhirne, die - von rosigen Wölkchen umspielt - in lysolgefüllten Glasbehältern schwimmen. Und in der Centfox-Produktion »Die Fliege« bringt ein allzu kühner Experimentator die Atome seines eigenen Körpers mit denen des Titelinsekts durcheinander, was dazu führt, daß er am Ende des Versuches einen riesigen Fliegenkopf statt seines menschlichen Hauptes hat. Er taucht insektenköpfig aus der Versuchskabine auf und stellt seine Frau vor die »herzzerreißende Entscheidung, das gräßliche Ding, zu dem ihr Mann geworden ist« (Centfox), mittels einer hydraulischen Presse zu erlösen.
Dies alles - und außerdem »Der Dämon mit den blutigen Händen«, ein irrer Gefängnisarzt, neben dem sich KZ-Doktor Eisele wie ein rechter Albert Schweitzer ausnimmt - empfahl sich im vergangenen Monat dem bundesdeutschen Kinogänger zur Einkehr. Denn die Blutsauger und Wolfsmenschen, die von panischen Produzenten aus der Gruselgruft des Kintopps exhumiert und wiederbelebt wurden, sind von den Filmverleihern als letztes Aufgebot der Flimmer-Industrie gegen den wandernden Wald der Fernseh-Antennen vorgeschickt worden. Oder, wie es die Film-Reklame annonciert: »Frankenstein kommt zurück und verbreitet neuen Schrecken!«
In der Tat ist der Horrorfilm seit Beginn der Fernsehwelle die erste und einzige Filmkategorie mit wachsenden Produktionszahlen. 75 Schauerstücke wurden im Laufe des Jahres 1958 allein in Hollywood fabriziert, gegenüber 52 im Jahr zuvor. Britische und französische Studios sind mit einem Dutzend Gänsehäutern in die Katakomben-Konjunktur eingestiegen, und allein der kleine deutsche Lehmacher-Verleih offeriert den besorgten Kinobesitzern für die gegenwärtige Saison sechs »Grusel-Thriller«, darunter »Macabre«, »Die Hexenküche des Dr. Rambow« ("Wahnsinniger Forscher experimentiert und mordet") und »Dr. Jenkins unheimliche Nächte« (Original-Titel »Neanderthal Man«, eine neue Version des klassischen Nervenzerrers »Dr. Jekyll und Mr. Hyde").
»Es ist, als ob eine neue Seuche ausgebrochen ist und plötzlich alle Bande der Scheu vor schlechtem Geschmack gesprengt sind«, kommentierte die deutschsprachige New Yorker Zeitschrift »Aufbau«, und das US - Familienblatt »Cosmopolitan« berichtete: »Der letzte Ratschluß Hollywoods lautet: Wenn du die Leute nicht mehr ins Kino locken kannst, dann graul sie hinein!'« Skelette, Särge, Grabsteine aus Pappe und blutige Fußspuren schmücken beziehungsreich die Foyers existenzbedrohter amerikanischer Lichtspielhäuser, umrahmt von Ankündigungen wie: »Schaut euch an, wie ein Holzkeil in das Herz eines schönen Vamps gehämmert wird! Zittert! Schaudert! Schlottert!«
Im Vorspann eines »Haarkräuselers« mit dem Titel »Der schreiende Totenschädel« ("Das Grab kann ihn nicht halten ... nichts Menschliches kann ihn stoppen") erscheint ein Sarg auf der Leinwand, dessen Deckel sich langsam hebt, bis auf der Innenseite zu lesen ist: »Dieser ist für Sie reserviert!« Eine Geisterstimme erläutert, vom Gewinsel verdammter Seelen untermalt: »Sie sind im Begriff, einen Film zu sehen, dessen Wucht Sie töten könnte. Wir garantieren jedem, der vor Schreck stirbt, eine kostenlose Beerdigung!«
Die Produzenten von »Macabre«, die mehr Geld in den Werberummel steckten als in die Herstellung des Films, lassen den Zuschauern beim Kartenkauf eine Tausend-Dollar-Versicherungspolice gegen »Tod durch Schrecken« überreichen, freilich mit der Einschränkung, daß »bereits vorhandene Herzbeschwerden oder Selbstmord im Kino« die Bezahlung der Versicherungssumme (durch Lloyd's in London) ausschließen. Der Universal-Verleih suggeriert den Kinobesitzern die »Werbe-Idee«, im Kassenraum Testamentsformulare bereitzulegen.
Mit der Greuelpropaganda und solchen »Heulern« wie »Teenage Frankenstein« versuchen die Alptraumfabrikanten vor allem den jugendlichen Geschmack für das Unkonventionelle zu treffen - mit Erfolg. Und um die Monster-Manie vollends in die Dimensionen eines Hula-Hoop-ähnlichen Modefimmels zu steigern, werden Preisausschreiben ("Ein Monster, das man nie vergißt") und Widerlichkeitswettbewerbe veranstaltet, werden als neueste Art der Freizeitgestaltung Do-it-yourself -Monster-Bastelkästen angepriesen.
Manche Kritiker führen den Hollywooder Totentanz auf einen »Hang zum Morbiden« zurück, dem die Amerikaner neuerdings auch in ihrer Vorliebe für »schwarzen Humor« frönen, um (wie die Zeitschrift »Esquire« meinte) gegen »den verkrampften Positivismus ihrer Lebensart zu protestieren«. Bei den Filmleuten indes ist der Rückfall in die Barbarei wohlberechnet. »Der enorme kommerzielle Vorzug des Horrorfilms sind seine niedrigen Herstellungskosten«, berichtete der Londoner »Economist«.
Ein Grund für die Rentabilität des Grauens ist, daß Darsteller meist durch Gipsfratzen, atavistische Haarbüschel und Fangzahn - Prothesen aller Menschenähnlichkeit beraubt werden: Infolgedessen können praktisch auch unbekannte Komparsen zum Tariflohn die Hauptrollen füllen.
Nicht minder preiswert ist die Szenerie. Die Kulissen der Horrorfilme, die Spukgewölbe, Alchimistenküchen und Pseudo -Laboratorien, können mit geringfügigen Veränderungen immer verwendet werden. Kamera-Einstellungen und Schnitt-Technik reichen aus, um auch dem aufmerksamsten Zuschauer neue Handlungsorte vorzutäuschen, so daß sich die Drehzeit eines Gruselfilms auf höchstens die Hälfte der normalen Dauer reduziert.
Frankensteins Rache« kostete die britische »Hammer«-Filmgesellschaft nur 850 000 Mark, obwohl das Werk in drei Versionen gekurbelt wurde: in einer-zahmen für das Commonwealth, einer mittelharten für die USA und einer ganz grimmigen für Japan und Südasien, dessen Bewohner, durch die einheimischen Tempelmasken verwöhnt, nur durch solche Kurzweil wie das Aus - den - Höhlen - Klauben echter Augen (die Produzenten beziehen sie von einer Großschlächterei) bei Laune zu halten sind.
Die Netto-Einnahmen, die der Produktions-Firma Hammer bisher aus internationalen Kinokassen für dieses Werk zugeflossen sind, belaufen sich auf 8,2 Millionen Mark - also fast das Zehnfache der Herstellungskosten. Dieser Gewinn im Verhältnis zum Einsatz (und darauf allein kommt es im Geschäft an) reicht ohne weiteres an die Profitsätze der erfolgreichsten Großproduktionen ("Die Zehn Gebote«, »In 80 Tagen um die Welt«, »Die Brücke am Kwai") heran, die infolge ihrer exorbitanten Kosten mindestens 200 Millionen Mark allein für den Produzenten einspielen müssen, ehe die Investitionen einen prozentual vergleichbaren Ertrag abwerfen.
Mithin können von den Waffen des Films gegen das Fernsehen die Monstrositätenschauen mit weit geringerem Risiko eingesetzt werden als die Monsterschauen. Horror-Schmarren ziehen mehr Zuschauer an als die heute nicht mehr absetzbare, einst massenproduzierte Konsumware, die zu billig ist, um die Hausfrau vom Heimgerät wegzulocken, und zu teuer, um bei geschrumpften Publikumszahlen dem Produzenten auch nur das Geld für seine Kreislaufpillen einzubringen. Die Horror-Schmarren zahlen sich auch dann noch aus, wenn sie nur von den Außenseitern der Gesellschaft frequentiert werden.
Der wichtigste Faktor in der Rechnung freilich ist der legendäre Hex -Appeal des Abscheulichen, den die Draculas und Frankensteins verbreiten, seit sie zum ersten Male von der Leinwand grinsten. Reminiszenzen an die Krise der dreißiger Jahre, als die Bestien den Film schon einmal vor dem Ruin retten halfen, bestimmten die Produzenten zu
ihrer Rückkehr in die Schreckenskammer, zur Wiedererweckung der Monster, die »zu unvergessenen Figuren der Asphalt-Mythologie wurden«, wie der Filmhistoriker Richard Griffith vom New-Yorker »Museum of Modern Art« in seiner Geschichte des amerikanischen Films bemerkte.
Das »Kabinett des Dr. Caligari« von 1919 war der Ort, wo der Film zugleich das Gruseln und das Geheimnis künstlicher optischer Effekte lernte, als Conrad Veidt unter dem bösen Bann von Werner Krauß in, einer Atmosphäre expressionistischen Wahns eine schwarzlockige Zirkuskünstlerin strangulierte - »Kabinette des Grauens« sind bis heute Hauptattraktionen des Film-Marktes geblieben.
Wie sie begann endete die kurze, glückliche Zeit deutscher Film-Meisterschaft mit einem gruseligen-Film, dem vielleicht eisigsten aller Schocker, dem »Testament des Dr. Mabuse« (Regie: Fritz Lang), einer lähmenden Beschwörung des Geistes absoluter Vernichtung.
Von »Dr. Caligari« und später von »Dr. Mabuse« inspiriert, schickte sich auch Hollywood an, die Kamera als moderne Büchse der Pandora zu benutzen, und drehte stumme Kriminal-Thriller mit zähnebleckenden Lustmördern ("Das Phantom der Oper"). Doch stets bemühte man sich während der Stummfilmzeit noch um eine natürliche Motivierung
des Grusels, und wenn auch übernatürliche Kräfte am Werk zu sein schienen, so entpuppten sie sich doch zum Schluß stets als bloße Gaukelei eines zwar angeknacksten, doch insgesamt beruhigend menschlichen Verbrechers.
Erst 1931 erschien das erste echte Monster. Es sah aus wie, ein Salon-Hellseher, komplett mit Frack, Umhang und Pomadehaaren. Aber es hatte die Angewohnheit, hypnotisierten Blondinen in den Hals zu beißen und sie blutleer zu saugen. Es war »Dracula«, der Vampir, der größere Entfernungen in Gestalt einer Fledermaus überwand und tagsüber in einem gepolsterten Luxus-Sarg im Souterrain seines meerumschlungenen Geisterschlosses zu ruhen pflegte, gemeinsam mit seinen drei hübschen, doch nicht minder blutdürstigen Schwestern.
Der Überraschungserfolg, den die Hollywood-Interpretation der im Aberglauben aller westlichen Völker geläufigen Fledermaus-Vampir-Mär buchte, löste in der krisenbedrohten Filmkolonie einen Run auf die Gruselgeschichten der anglo-amerikanischen Romantiker, auf Schmöker über mittelalterliche Geisterkunde und Alchimie aus. Der trächtigste Fund: eine Horrorstory in Tagebuchform, die im Jahre 1818 von der jungen Frau des zartsinnigen britischen Poeten Shelley veröffentlicht worden war: »Frankenstein«.
Mary Wollstonecraft Shelleys Geschichte, das aufregendste Literaturprodukt eines weiblichen Autors, war eine nervensägende Variation über das Homunculus-Thema, mit dem sich just zur gleichen Zeit auch Goethe im »Faust II« beschäftigte.. Baron Frankenstein schuf einen künstlichen Menschen, nicht wie Goethes Wagner in der Retorte, sondern durch hautchirurgische Montage von auserlesenen Leichenteilen. Nach vollendetem Zusammenbau hauchte er seiner Ausgeburt ("Ein Wesen von gigantischer Statur, d.h. etwa acht Fuß groß und entsprechend breit gebaut") auf elektrischem Wege Leben ein. Indes, der künstliche Mensch hatte einen moralischen Kurzschluß, und nach einem polternden Amoklauf verendete er auf dem Scheiterhaufen.
Diese Vision menschlicher Forscherdämonie nun wurde 1931 mit bizarren Ausschmückungen verfilmt. Ein britischer Riese namens Boris Karloff riß in der Rolle des quadratschädeligen Monsters die Zuschauer erbarmungslos zwischen blankem Horror und Beinahe-Mitgefühl für seine dumpfverdrehte Menschhaftigkeit hin und her.
Der hysterische Zerreißpunkt kam, als er im Verlauf einer seiner wirren Exkursionen am Ufer eines idyllischen Sees auf ein kleines Mädchen stieß, das Blumen pflückte. Das Mädchen lächelte ihm zu, es hatte keine Angst. Das Monster, verblüfft, kniete nieder und fing an, mit linkischen Pratzen gleichfalls Margueriten auszurupfen. Es mühte sich, zurückzulächeln, und eine stumpfsinnige Ahnung von Humanität huschte über seine Visage. Da erst erschrak das Kind - und das Ungetüm brachte es um.
»Schließlich hatte das Publikum genug«, berichtete Richard Griffith, »und der Horror-Zyklus endete in der Selbstparodie mit Filmen wie ,Abbott und Costello treffen Frankenstein'.« Doch noch erstaunlicher als die Entstehung eines neuen Horror-Zyklus für die neue Generation ist die Tatsache, daß er sich im wesentlichen um die gleichen alten Gruselfiguren dreht - allein das Frankenstein-Thema ist in den letzten beiden Jahren insgesamt dreimal verfilmt worden -, obschon die Filmleute keine Mühe gescheut haben, der neuen Wirklichkeit und ihrer Phantasie neue Greuel abzugewinnen.
Die Produzenten des Schockers »Meine Welt stirbt schreiend« haben in ihr Opus bereits unterschwellige Signale des Schrekkens - Totenschädel, Blutlachen, herrenlose Augenpaare - eingeblendet, die für Bruchteile einer Sekunde im Filmhintergrund aufblitzen. Sie unterschlüpfen gewissermaßen die bewußte Wahrnehmung des Zuschauers - mithin auch seine bewußte Abwehr -, werden jedoch vom Unterbewußtsein aufgefaßt.
»Die Wirkung ist verblüffend«, berichtete Bill Edwards, der Produzent. »Bei unseren ersten Vorführungen haben die Besucher heftig reagiert und geschrien, obwohl die Handlung selbst in diesen Momenten so schlimm gar nicht war.«
Horrorfilm »Die Fliege": »Zittert! Schaudert! Schlottert!«
US-Horrorfilm 1944*: Bewährte Blutsauger und Wolfsmenschen...
... verbreiten neuen Schrecken: US-Horrorfilm 1959
Horrorfilm-Masken: Blutlachen im Kino-Foyer
* »Die Rückkehr des Vampirs« (The Return of the Vampire).