»Die Moral hier verroht«
Immer wenn Isabella Schonert, 23, das Haus verläßt, hängt sie sich ein großes Pappschild um den Hals. Auf den Karton hat sie in Blockbuchstaben geschrieben: »Suche Wohnung! Telefon 7861947«.
Vor sechs Wochen ist die Architekturstudentin von Hamburg nach Berlin gekommen und für die Dauer der Wohnungssuche bei einem Freund in Kreuzberg untergeschlüpft. Mindestens vier Stunden läuft sie täglich mit ihrem Pappschild durch die Straßen der Stadt. Auch in der Kneipe, im Kaufhaus oder beim Friseur macht sie Werbung in eigener Sache.
Mehrmals am Tag wird Isabella Schonert von Passanten angesprochen - doch immer sind es nur Leidensgenossen, die sich neugierig erkundigen, ob »diese Masche« erfolgreich sei. Ein Makler oder Hausbesitzer hat bislang noch nicht reagiert. Nun sinkt der Studentin der Mut: »Für mich wird das hier wohl nichts mehr werden.«
Tyler Marshall, 49, Leiter des Berliner Büros der Los Angeles Times, sieht das Problem der Wohnungssuche in einer fremden Stadt hingegen ganz weltmännisch: »Das ist in Berlin nicht einfacher oder schwieriger als in Neu-Delhi oder London.«
Der Journalist beauftragte eine angesehene Maklerfirma, kurze Zeit später konnte er eine geräumige Wohnung in Charlottenburg beziehen. Über die Kosten des Unternehmens schweigt der Amerikaner sich aus. »Eine Metropole hat eben ihren Preis«, sagt Marshall, »daran werden sich die Deutschen gewöhnen müssen.«
Ohne ein gut gefülltes Bankkonto geht zur Zeit auf dem Berliner Wohnungsmarkt kaum etwas. Nirgendwo in Deutschland ziehen die Mieten so steil an wie in der neuen Bundeshauptstadt. Nach Einschätzung des Berliner Landesverbands des Vereins Deutscher Makler (VDM) hat sich der Quadratmeterpreis für Wohnraum seit dem Fall der Mauer verdoppelt, für Gewerbeflächen gar verfünffacht.
In Zeitungsinseraten ("Schließen Sie sich der Edelwohnwelle an") werden Ein-Zimmer-Apartments für über 2000 Mark Monatsmiete gehandelt. Der »Traum vom luxuriösen Wohnen« auf 180 Quadratmetern in Berlin-Dahlem kostet 6800 Mark im Monat, kalt versteht sich. Die Erdgeschoßetage in einem »repräsentativen Bauvorhaben« in der Schillerstraße 16 ist für 36 Mark pro Quadratmeter zu haben.
Verantwortlich für den starken Preisanstieg sind vor allem Manager und leitende Angestellte großer Versicherungen, Banken, Verlage und Handelskonzerne, die seit Maueröffnung in Scharen die Stadt bevölkern. Von den Firmen mit üppigen Spesenkonten ausgestattet, nehmen sie es auch bei der Miete nicht so genau. 1000 Mark mehr oder weniger, ganz egal, die Firma zahlt. Die Hotelrechnung, so das Kalkül der Unternehmen, kommt allemal teurer.
Besonders Ausländer haben sich in den letzten Monaten bei Maklern einen fast legendären Ruf erworben. »Amis und Japaner mieten hier zu jedem Preis alles an«, sagt Alexander Rainoff, Vorsitzender des Berliner VDM: »Selbst bei völlig irrsinnigen Forderungen zucken die nicht mal mit der Wimper.«
Eine Adresse an der Spree, so scheint es, gilt in den Chefetagen der Wirtschaft als Zukunftsinvestition, dafür wird auch Wucher billigend in Kauf genommen. »Die ganze Welt starrt auf Berlin«, sagt Rainoff; selbst aus Korea oder Hongkong erreichen den Makler Anfragen ("dringend«, »sehr eilig"). Monat für Monat ziehen Tausende Arbeitnehmer in die Hauptstadt; dem Wirtschaftssenator liegen mittlerweile 500 Briefe von Firmen aus dem In- und Ausland vor, die in der Boom-Town Zweigstellen einrichten wollen.
Doch der sprunghaft gestiegenen Nachfrage an Mietraum steht kein entsprechendes Angebot gegenüber. Schon jetzt gibt es in Berlin rund 150 000 Wohnungen zuwenig, jeder Zuzügler verschärft die Lage.
Selbst gutbetuchte Kunden können von den professionellen Wohnungsvermittlern mangels Masse oft nicht mehr bedient werden. »Pausenlos klingelt das Telefon, und ich kann immer nur sagen: Wir haben nichts und kriegen auch nichts rein«, klagt die Maklerin Gerlinde Lohmüller, »es ist so frustrierend.«
Das Wohnungsangebot schrumpft weiter, weil nur noch wenige Mieter ihre Wohnung freiwillig räumen. Auch bei einem längeren Auslandsaufenthalt ziehen viele Berliner die doppelte Mietbelastung mittlerweile einer Kündigung vor. Und wo eine Wohnung frei wird, bestehen immer mehr Vermieter auf einem befristeten Vertrag: Nach ein, zwei Jahren kann dann neu vermietet werden, zu deutlich höheren Preisen. _(* Links: am Schlachtensee, 4600 Mark ) _(Monatsmiete; rechts: Metzer Straße 14, ) _(Wohnungsmiete bisher zwischen 35 und 80 ) _(Mark. )
Der mit der Vereinigung hinzugewonnene Ost-Teil der Stadt bringt kaum Entlastung. Bei den meisten Mietshäusern in der ehemaligen DDR ist die Eigentumsfrage noch ungeklärt; bereits jetzt liegen den Berliner Behörden 150 000 Anträge auf sogenannte Eigentumsrückübertragung vor. Ost-Wohnungen gelten zudem als schwer vermittelbar. Das »düstere Umfeld« schrecke viele Westler ab, berichtet der Berliner Makler Rüdiger Becker. »Völlig inakzeptabel« sei für Interessenten der Mangel an Kommunikation, weil es kein Telefon gibt oder die Leitungen ins alte Bundesgebiet überlastet sind.
Die Preise können kaum zum Umdenken verlocken. Viele Ost-Vermieter haben ihre Mietforderungen längst dem West-Niveau angeglichen, 1500 Mark für eine Drei-Zimmer-Wohnung im Sanierungs-Viertel Prenzlauer Berg sind ein gängiger Preis. Zwar bestimmt der Einigungsvertrag, daß die Mieten in der ehemaligen DDR nicht eigenmächtig über von der Bundesregierung festgelegte Obergrenzen hinaus erhöht werden dürfen. Aber so mancher Hausbesitzer beherzigt lieber die Sponti-Losung: legal, illegal, scheißegal.
West-Makler, die mit der Vermietung von Wohnraum in Ost-Berlin beauftragt sind, schert das Bonner Gesetz ebenfalls wenig. Sie nehmen''s, wie es kommt. Becker: »Wir sind ja nicht dazu da, unsern Auftraggebern Rechtsbelehrungen zu erteilen.«
Wo das Verhältnis von Angebot und Nachfrage außer Kraft gesetzt ist, bleiben neben juristischen Feinheiten auch die guten Sitten auf der Strecke. »Die Moral hier verroht, der Ton wird rauher«, sagt Hartmann Vetter, Vorsitzender des Berliner Mietervereins.
»Anscheinend haben Sie noch nicht begriffen, daß Sie derzeit in Deutschland und nicht in Anatolien leben«, herrschte der Berliner Hausverwalter Joachim Rubinger einen türkischen Familienvater in Neukölln an, der seine kleine Wohnung in eine größere umtauschen wollte: »Sie als Mieter haben überhaupt keinerlei Forderungen zu stellen.«
Friedfertig soll der Mieter sein, duldsam und still. Immer mehr Berliner Makler gehen dazu über, unsichere Kantonisten aus der Schar der Bewerber mittels detaillierter Fragebögen herauszufiltern; ein anständiges Einkommen ist seit der Wende, ob in Kreuzberg oder Zehlendorf, keine ausreichende Empfehlung mehr.
In Berlin zählt inzwischen zum Standard, daß Makler und Hauseigner nach den Adressen der letzten Vermieter fragen, um dort diskret Erkundigungen über das Wohlverhalten einziehen zu können. Fragen nach Parteizugehörigkeit oder Mitgliedschaft in einem Mieterverein sind die gehobene Form des Kandidaten-Verhörs.
Die Bankangestellte Renate Anft sollte bei ihrer Wohnungssuche Auskunft darüber erteilen, ob sie Nichtraucherin sei und Herrenbesuch zu empfangen gedenke. Entnervt von der monatelangen Suche, gab Anft Antwort, obwohl sie »dieses devote Getue eigentlich widerlich findet«.
Auch die Mieter im Osten müssen sich nun im nachhinein Befragungen durch die neuen, privaten Hausverwaltungen gefallen lassen. So verschickte eine Mannheimer Erbengemeinschaft nach der Wiedervereinigung an die Bewohner der Ost-Berliner Krossener Straße 25 einen umfangreichen Fragebogen, »damit wir auch wissen, wer unsere Mieter sind«. Die neuen Hausbesitzer verlangten Angaben über den Zeitpunkt der »letzten Mieterhöhung« sowie über Einkommen und Arbeitgeber des Ehegatten.
Dem Auskunftsbegehren der Vermieter beugen sich immer mehr Bewerber schon in vorauseilendem Gehorsam, Wohnungsinserate gleichen zunehmend Kontaktanzeigen. »Suchen Sie einen soliden Mieter, mit dem sich gut auskommen läßt, der die Miete pünktlich zahlt und die Wohnung behandelt, als sei es seine eigene?« fragt in der Berliner Morgenpost ein »Beamter im höheren Dienst«, der gleich mehrere Vorzüge zu nennen weiß: »ledig, Nichtraucher, ohne Haustiere«.
Ein »Modellbahner« hebt hervor, daß er »gläubig« sei, eine »Studienrätin aus Bayern« empfiehlt sich als »sympathisch und unkompliziert«. Und im Stadtmagazin Tip sucht »Westdeutschlands bestes berufstätiges Mieterehepaar« nach einer neuen Bleibe.
Unter dem Druck, endlich auch einmal zum Zuge zu kommen, verlieren immer mehr Wohnungssuchende die Contenance: Bei Besichtigungsterminen versuchen sich Interessenten untereinander lautstark auszustechen. »Die Solidarität ist weg, jeder ist sich selbst der Nächste«, sagt Hartmann Vetter.
Die Bewerber wissen, was Konkurrenten ins Hintertreffen bringt. Ungebührlich langes Begutachten der Wohnung, kalkulieren sie, nervt den Makler. Typisch ist die Vorgehensweise zweier Münchnerinnen, die nach einem flüchtigen Blick auf eine überteuerte 2000-Mark-Wohnung in Kreuzberg sogleich den verdutzten Vermittler bestürmten. Beim angebotenen Objekt handele es sich um »einen Schatz«, den sie »sofort« zu nehmen gedächten.
Zweifel an ihrer Solvenz ließen die beiden jungen Damen erst gar nicht aufkommen: Ihr Arbeitgeber, eine bayerische Bank, übernehme »selbstverständlich alle Kosten«. Und auch sonst sei bei ihnen mit keinerlei Schwierigkeiten zu rechnen. »Mir san liab«, verkündeten sie vor versammelter Mannschaft.
Mit guten Worten allein ist es allerdings nicht mehr getan. Durch immer höhere Schmiergeldzahlungen versuchen Wohnungssuchende die Vermittler milde zu stimmen. In den Anzeigenteilen der Berliner Zeitungen werden neuerdings »Belohnungen« zwischen 5000 und 10 000 Mark ausgelobt, der Spitzenwert liegt zur Zeit bei 12 000 Mark für eine Zwei-Zimmer-Wohnung, zuzüglich »Abstand bis?«.
Zwar ist die Courtage in Berlin - deutscher Sonderfall - per Gesetz auf zehn Prozent der sogenannten Jahreskaltmiete beschränkt. Aber Bewerber und Makler kennen vielfältige Wege, die Bestimmung zu unterlaufen. Die Berliner Jugend-Zeitschrift Blickpunkt erörterte in der Februar-Nummer bereits die Frage »Wie sag'' ich''s meinem Makler« und gab ihren Lesern Tips im »Schmiergeldmanagement«.
Gängige Praxis sei es, sagt Mietervertreter Vetter, daß »schwarz, ohne Quittung auf die Hand« gezahlt werde. Doch nicht immer muß es Bargeld sein: Die »Spannbreite des Angebots« habe sich in den letzten Monaten »deutlich erweitert«, berichtet VDM-Sprecher Rainoff; »als kleine Aufmerksamkeit« seien ihm für seine Bemühungen schon Reisen, Gemälde und Antiquitäten versprochen worden.
Allein die Adresse eines Maklers kann in Berlin Geld kosten. So traf die Indologin Agnete Kutar bei ihrer Wohnungssuche auf einen Handelsvertreter mit Beziehungen. Sein Freund, brüstete der sich, habe gerade »einen wunderbaren Altbau« auf der Liste, »spottbillig«. Natürlich könne er auch die Makleranschrift nennen. Die sei jedoch wohl ein kleines Handgeld wert. Höhe: eine Monatsmiete im voraus.
Auch nach Abschluß eines Vertrages ist der Mieter vor finanziellen Nachstellungen nicht sicher. So sind viele Hausbesitzer in der Hauptstadt dazu übergegangen, Namensschild und Schlüsselbund in Rechnung zu stellen. Die Benutzung der Kellerräume oder des Dachbodens, in anderen Großstädten im Mietpreis inbegriffen, wird ebenfalls extra berechnet.
»Immer mehr Vermieter handeln jetzt nach dem Motto: Kleinvieh macht auch Mist«, sagt Mieter-Rechtsanwalt Walter Bergmann: »Da wird rausgeholt, was rauszuholen geht.«
Mit unerwarteten Renovierungskosten wurden die arglosen Korrespondenten von Newsweek traktiert, die Ende letzten Jahres eine Wohnung mit Büroräumen in der City angemietet hatten. Per Fax schickte ihnen die Hausverwaltung beispielsweise eine Rechnung über 1400 Mark für eine nachträglich eingezogene Wand. Wenige Tage später folgten »Rechnung Türen« und »Rechnung WC«. »Es war der reine Alptraum«, sagt Korrespondentin Karen Breslau.
Als die Journalisten die ebenfalls eintreffende »Rechnung Badewanne« an ihren New Yorker Geschäftsführer mit der Bitte um Bezahlung weiterleiteten, kabelte der entgeistert zurück: »Warum kauft ihr eine Badewanne???« Dem Mann in Übersee war unverständlich, daß die Miete einer Wohnung, die US-Preisniveau erreicht, nicht einmal die sanitäre Grundausstattung umfaßt.
Mancher Eigentümer überzieht seine Mieter auch deshalb mit immer neuen Forderungen, weil er sich beim Neuerwerb eines Hauses finanziell verhoben hat und nun die Kosten auf die Bewohner abzuwälzen versucht; die Hoffnung auf schnelle Rendite habe Geldanleger zu »teilweise abenteuerlichen Grundstücksgeschäften« verleitet, urteilt Andreas Wilke vom Kreuzberger Stadtplanungsamt. Die Aussicht, daß Berlin womöglich deutscher Regierungssitz werde, habe zu einem »regelrechten Spekulationsfieber« geführt.
Die hochgespannten Erwartungen lassen die Kaufpreise für Immobilien drastisch nach oben schnellen. Vor der Währungsunion im Sommer letzten Jahres kostete ein Mietshaus in guter Berliner Stadtlage etwa das Zehnfache der zu erwartenden jährlichen Mieteinnahme, also soviel wie ein vergleichbares Objekt in Hannover oder Essen. Jetzt wird für dasselbe Haus bereits das 17fache der Jahreskaltmiete gefordert und auch bezahlt. Wilke: »Bei solchen Preisen entsteht für neue Eigentümer notwendig der Zwang, sich unkorrekt zu verhalten.«
Fast schon kriminell verfahren Hausbesitzer im Ost-Teil der Stadt. Von ihren Opfern müssen sie kaum Gegenwehr befürchten: Die meisten Ossis kennen nicht einmal die Grundbegriffe bundesdeutschen Mietrechts, sozialistisches Obrigkeitsdenken ist nach wie vor in vielen Köpfen verankert. »Die Leute sind nicht gewöhnt, sich zu wehren«, weiß Mieteranwalt Thomas Fruth aus Beratungsgesprächen, »was der Vermieter sagt, ist für viele quasi Gesetz.«
Die Unwissenheit ihrer Mieter nutzen die neuen Herren über Grund und Boden weidlich aus. Kündigungen werden oft »fristlos« ausgesprochen, die gesetzlichen Kündigungsfristen bewußt ignoriert. Auch in der Wahl der Druckmittel sind einige Vermieter im Osten nicht zimperlich, Mieterberater wie Hartmann Vetter sprechen von »offenem Psychoterror«.
Besonders dreiste Eigentümer liefen »demonstrativ mit dem Zollstock herum« und gäben »Auszugstermine« bekannt, aufsässigen Mietern werde kurzerhand Hausverbot erteilt. »Wird die Einigung zur Peinigung?« fragt das MieterEcho, Verbandsorgan der Berliner MieterGemeinschaft.
Die Bewohner des Hauses Metzer Straße 14 im Ost-Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ahnten bereits, daß ihnen harte Zeiten bevorstehen, als vor Jahreswende eines Morgens ein kurzes Schreiben im Treppenhaus hing. Eine »Niko Immobilien GmbH« forderte in barschem Amtsdeutsch dazu auf, die Miete künftig auf ein West-Konto zu überweisen. »Die haben uns«, so Mieter Olaf Müller, »nicht mal guten Tag gesagt.«
Der Abgesandte der Firma, der Tage später in der Metzer Straße auftauchte, bestätigte alle Befürchtungen: Er war in den Augen der Bewohner »das volle Klischee«, mit »Ringen, Goldkettchen, dickem Daimler«, wie sich Familienvater Müller erinnert. Er verhehlte nicht, daß es in absehbarer Zeit wohl einige Mieterhöhungen und Kündigungen geben müsse.
Den Studenten Axel Siegemund, Seitenflügel 4. Stock, traf es als einen der ersten. Für ein Zimmer mit Küche und Klo wollte Niko Immobilien 200 Mark im Monat sehen, vor dem Eigentümerwechsel hatte die Wohnung lediglich 35 Mark gekostet.
Als Siegemund die Zahlung verweigerte und auf den Einigungsvertrag verwies, der solche Mieterhöhungen verbietet, erhielt er prompt die Kündigung: »Da die Vereinbarung des Mietzinses mit Hinweis auf gesetzliche Bestimmungen in Zweifel« gezogen werde, so die Rechtsanwälte der Immobiliengesellschaft, habe der uneinsichtige Student die »Schlüssel an den Vermieter zurückzugeben und etwaige Einrichtungen aus der Wohnung zu entfernen«.
Während private Mieter den Wucher mit Hilfe eines Anwalts häufig abwehren können, sind Gewerbetreibende finanziellen Übergriffen der Eigentümer zumeist hilflos ausgeliefert. Für Gewerberaum gibt es keinerlei einklagbares Preislimit; die Miete kann nach Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer, also im Normalfall alle ein oder zwei Jahre, willkürlich heraufgesetzt werden.
Und die Vermieter langen, durch die Wiedervereinigung beflügelt, nach Kräften zu. »Preissprünge von 50 bis 100 Prozent« seien »an der Tagesordnung«, stellt Maklerin Lohmüller fest; unter 40 Mark pro Quadratmeter gehe »nischt mehr«.
In Ost-Berlin reichen die Mieten schon an die Spitzenpreise der Prestigeobjekte im Frankfurter Bankenviertel heran. Am Ku''damm werden gar bis zu 350 Mark für den Quadratmeter verlangt - deutscher Rekord.
Vor allem Einzelhändler und kleine Handwerksbetriebe können da nicht mehr mithalten. Wo sie gehen müssen, rücken zahlungskräftige Betriebe nach: Videotheken, Spielhallen oder Gaststätten. »Das läuft total aus dem Ruder«, urteilt Nils Busch-Petersen, Sprecher des Berliner Einzelhandelsverbandes. In einigen Stadtteilen breite sich das Firmensterben »wie ein Flächenbrand« aus.
Pünktlich zum neuen Jahr mußte die Zeitungshändlerin Christel Mayr ihren Laden in der Kreuzberger Forster Straße dichtmachen, die Miete war von 400 auf 1200 Mark verdreifacht worden. Der Kleinverlag Quorum, ein Haus weiter, steht vor dem Kollaps: Der Hauseigentümer hat einen »Hauptstadtzuschlag« von 7850 Mark pro Monat verlangt. Und die Spiralfeder-Fabrik Sauerbier, Forster Straße 4-6, betreibt nach der letzten Mieterhöhung Krisenmanagement.
Auf der Strecke bleiben auch immer mehr soziale Einrichtungen wie Kindergärten, Ausbildungswerkstätten und Beratungsstellen. Von den 600 Berliner Kinderläden beispielsweise, die der Senat mit festgelegten Pflegesätzen unterstützt, haben 30 in den letzten Wochen Mieterhöhungen zwischen 100 und 450 Prozent präsentiert bekommen; zwei Tagesstätten mußten die Arbeit bereits einstellen und ihre Schützlinge zurück zu den Eltern schicken.
Jüngstes Opfer des mietpreissteigernden Mauerfalls sind die Berliner Maler und Bildhauer. »Beinahe täglich« erreichen Hannes Schwenger vom Berliner Berufsverband bildender Künstler »verzweifelte Anrufe« von Kollegen, die ihre Ateliers räumen mußten und ihre Werke notdürftig in Lagerhallen oder bei Speditionen untergestellt haben. »Wenn das so weitergeht«, sagt Schwenger, »ist die Berliner Kunst bald am Ende.«
Doch nun regt sich Widerstand. Aus Protest gegen ihre Vertreibung organisieren Künstler Museumsbesetzungen. Gemäß dem Dreisatz »Ohne Ateliers keine Kunst - Ohne Kunst keine Museen - Museen zu Ateliers« stürmte eine Delegation kürzlich Nationalgalerie und Gropiusbau; erste Malversuche der Aktionisten in den neueroberten Arbeitsräumen scheiterten allerdings am beherzten Einschreiten der Museumswächter.
In Kreuzberg demonstrierten Anwohner Mitte Januar mit einem Zug durchs Viertel gegen »Mietenexplosion und Citywahn«. Und auch die autonome Fraktion macht mobil: Eine »UnterstützerInnengruppe ,Wir bleiben''« ruft in Flugblättern zur Wiederbesetzung zwangsgeräumter Fabriketagen auf.
In Szenekneipen kursieren Namenslisten, in die sich Gäste eintragen können, um bei Bedarf eine »Telefonkette für eine Blockade« zu bilden: »Denn ein Haus, das nur unter Polizeischutz umgebaut werden kann, wird vielleicht nicht umgebaut.«
Wieviel Ärger sich ein Berliner Vermieter gerade in Kreuzberg mit dem etwas zu forsch vorgetragenen Wunsch nach höherer Mieteinnahme einhandeln kann, zeigt der Fall Heinrich Bollack. Im Sommer 1989 hatte der Orthopäde ein Haus in der Eisenbahnstraße 4 gekauft; pünktlich zur Wiedervereinigung ließ er seinen Mietern per Gerichtsvollzieher ein Kündigungsschreiben zukommen und forderte sie auf, die Räume zum 31. Dezember »besenrein zu übergeben«.
Bollack hatte allerdings versäumt, sich die Empfänger des Briefes zuvor genau anzusehen: Im zweiten Stock des Gebäudes residieren das Bildarchiv Umbruch sowie die Redaktionen der Lesbenzeitschrift Blau und der Autonomen-Gazette ProWo.
Die gingen in die Gegenoffensive, gaben Interviews und riefen zu einer Protestkundgebung vor der Bollack-Praxis. Anfang Januar agitierte eine Abordnung die Bollack-Patienten im Wartezimmer, dann wurde an alle Orthopäden der Stadt ein Brief mit der »Bitte um Engagement« verschickt.
Der Vermieter hat Anzeige wegen Nötigung und Hausfriedensbruch erstattet und die Staatsschutzabteilung der Polizei eingeschaltet. »Die wollen mich entnerven«, weiß Bollack: »Ich muß das jetzt aussitzen.«
Über neugeplante Protestaktionen informiert sich der Orthopäde neuerdings in der linken Tageszeitung. Das Abonnement hatten Mieter in seinem Namen und an seine Adresse bestellt - zwecks Bewußtseinsbildung. o
* Links: am Schlachtensee, 4600 Mark Monatsmiete; rechts: MetzerStraße 14, Wohnungsmiete bisher zwischen 35 und 80 Mark.