»Die nach mir kommen, tun mir echt leid«
Beinahe jeder kennt einen, der irgendwann mal »von drüben« gekommen ist: einen, der Schulerinnerungen hat an morgendliche Fahnenappelle und zungenspaltende Zwiesprache-Übungen namens »Stabü« (Staatsbürgerkunde) statt an Comics-gestützten Gesellschaftskunde-Unterricht, an Tramp-Fahrten im »Trabant« nach Usedom und an die Müritz statt im zerbeulten VW-Bus halb ums Mittelmeer; einen, dem manchmal noch nach Jahren im Westen ein fremdartiges »Kollektiv« rausrutscht, wenn er bloß die Kollegen seiner Abteilung meint.
Doch ein Austausch über Stereotypen und Abweichungen deutscher Nachkriegs-Kindheiten, über das allmähliche Erwachsenwerden von Leuten und Staaten findet selten statt - weder in den Frühstückspausen bundesdeutscher Büros und Betriebe noch beim Feierabend-Bier. Was liegt schon daran, ob einer im Ruhrrevier vor Kohle ging Anfang der fünfziger Jahre, als Lehrstellen knapp waren in den gerade zur Bonner Republik vernähten Westzonen, oder ob einer auf russische Traktoren stieg als Erntehelfer im blauen FDJ-Hemd, ob einer später seinen Wehrdienst abriß unter der Fahne mit Hammer und Zirkel und der andere »beim Bund« das Nato-Gewehr gebrauchen lernte.
Wenn einer dann hier ankommt mit zwanzig, dreißig Jahren durchwachsener DDR-Biographie im Gepäck - was fängt er an damit bei dem kärglichen Interesse für andere Lebens(ver)läufe, vor allem für solche, die im anderen Deutschland begonnen haben?
Daß »ostig« ein Synonym ist für mies und überhaupt das Allerletzte, erzählen ihm schließlich schon West-Berliner Grundschulkinder. Dieses Klischee, in allen intellektuellen und ideologischen Preislagen vertrieben, bedarf einzig und beständig der möglichst prominenten Kronzeugenschaft.
Wenig gefragt dagegen sind auch nur milde Korrekturen am düster-dumpfen DDR-Bild, vor dem die Hiesigen sich zu spreizen angewöhnt haben wie demokratische Lichtgestalten vorm dunklen Paravent; und gänzlich unbefragt bleiben für gewöhnlich diejenigen, die namenlos und nachdenklich genug sind, ihren Abgang von Ost nach West nicht unablässig berühmen zu müssen als einen vom sozialistischen Knast ins bürgerliche Paradies.
Jetzt ist in der Reihe »rororo aktuell« ein schmales Buch erschienen, das eben diese simple politische Geographie im Titel führt, freilich listig eingezwängt zwischen Anführungsstriche und zusätzlich relativiert durch ein Fragezeichen.
Auf gut 200 Seiten haben die beiden Autoren Horst-Günter Kessler, 45, und Jürgen Miermeister, 35, Lebensgeschichten von DDR-Bürgern in der Bundesrepublik versammelt und dabei ihre Neugier auf die jeweilige Verarbeitung »dieses lebensgeschichtlichen Bruches« zum Transmissionsriemen gemacht für einen ersten Dialog mit denjenigen, deren Ortswechsel von drüben nach hüben zwar mitunter parteipolitisches Getöse verursacht, aber kaum je alltagsgeschichtliche Spuren hinterläßt.
Dabei würden die schieren Zahlen eher das Gegenteil vermuten lassen: 2,7 Millionen Deutsche verließen die DDR allein bis zum Mauerjahr 1961 Richtung Westen. Seitdem ist es fast noch mal eine halbe Million geworden, die immer öfter auf legalen und immer seltener auf ostwärts verbotenen Wegen herüberwanderte. Und Jahr für Jahr kommt die Bevölkerung einer veritablen Kleinstadt hinzu - rund 15 000 zwischen dem Kap Arkona und Klingenthal Geborene, die sich auf den Boden des Grundgesetzes begeben, gegenüber nur anderthalbtausend, die jährlich von Deutschland West nach Deutschland Ost verziehen.
Wie die »Ostis« es antreften bei den »Bundis« - darüber erzählt das Bändchen von Kessler und Miermeister mehr als viele bemühte Aufklärungsbroschüren des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen.
Beide Herausgeber leben in West-Berlin, »im Riß Deutschlands«, der zum Dazwischenbleiben zwingt und immer spürbarer eine dritte Form deutscher Nachkriegsexistenz prägt - nicht DDR, aber trotz gleicher Währung, gleicher Markenartikel, gleicher Gesetze immer weniger vergleichbar dem »übrigen Bundesgebiet": Berlin taugt nicht zufällig zum selbstgewählten Ort für viele DDR-Ehemalige.
Berlin, bekennt der 23jährige Manfred R., drei Fluchtversuche, freigekauft vor achtzehn Monaten, drüben Tierpfleger, hier Sozialarbeiter - Berlin hat »ein anderes Flair, das ist für mich so die einzige Stadt, wo man in Deutschland wohnen kann«. Junge Aussteiger aus Westdeutschland, die aus ihren aufgeräumten Heimaten flüchten und sich zu Tausenden zur Berliner Szene amalgamieren, würden es kaum anders formulieren.
Rund 40 000 Aussteiger aus dem Osten bremsten allein im letzten Jahrzehnt den Bevölkerungsverfall der »westlichen Vororte« (Walter Ulbricht) ihrer einstigen Hauptstadt. Nur nach Nordrhein-Westfalen melden sich immer noch ein paar hundert mehr, sobald sie ihre »Notaufnahmeverfahren« in den Lagern Gießen oder Berlin-Marienfelde abgeschlossen und die »Sichtungsstellen« des Verfassungsschutzes und der einschlägigen Dienste von Amerikanern, Briten und Franzosen ihre Durchleuchtung auf dem Laufzettel bescheinigt haben.
Von denen, die Kessler und Miermeister ihre Lebensgeschichte anvertraut haben, fühlt sich bislang keiner ins »Paradies« versetzt oder auch nur in seine Nähe - ganz gleich, ob sie im Kofferraum eines Fluchthelfer-Autos ihren Weg nach Westen zurücklegten, im Sonderbus für losgekaufte DDR-Häftlinge oder mit amtlichem Ausbürgerungsbescheid per S-Bahn von Berlin-Friedrichstraße nach Berlin-Zoologischer Garten, ganz gleich auch, ob der Bruch noch frisch oder schon leidlich vernarbt ist.
So unterschiedlich wie die Wege weg von der Heimat erweisen sich die Motive: Dominant der Mangel an Freizügigkeit, das Gefühl des Eingesperrtseins bei zugestanden guter Kost und passablem Logis; daneben häufig westwärts vagabundierende Liebe - zum Freund, zur Freundin, zur Freiheit, Freizeit und neuerdings auch vom roten zum grünen Frieden.
Und jede Variante davon reichlich versehen mit oft schmerzhaften Fußtritten der DDR-Bürokraten, die noch jeden, der fortwollte aus dem deutschen Hinter- ins Vorderhaus, bestärkt haben in der Migrationsmoral der Bremer Stadtmusikanten, daß sich etwas Besseres als der Tod leicht überall in der Welt finden lasse.
Wohl auch deshalb, weil derjenige, der aus kleinen, überschaubaren Verhältnissen sich aufmacht, in größeren, unkalkulierbaren sein Glück zu suchen, nie mehr zurück kann ohne Eingeständnis seines Scheiterns, wird der Weg retour selbst von jenen nicht erwogen, die im kapitalistischen Gedränge erst recht nicht jenen Tritt fassen konnten, aus dem sie schon in der betulichen sozialistischen Menschen- und Notgemeinschaft geraten waren.
»Hier mußt du stark sein«, empfindet Lena K., Wissenschaftlerin, Anfang 30,
»um die vielfältigen Möglichkeiten wahrnehmen, alle ausschöpfen zu können.«
Doch wer aus der DDR kommt, hat für diese Konkurrenz zumeist untrainierte Ellenbogen. Denn drüben - da »mußt du dich bekennen, und damit ist alles geregelt«, dann »ebnet man dir den Weg«. Oft genug landen gerade diejenigen, die als große DDR-Kinder angetrotzt haben gegen den lückenlos und flächendeckend fürsorglichen Vaterstaat, im Traumland der schnellen Westmark bei der Fürsorge. Geradewegs dorthin führt nicht selten der einzige ebene Weg aus der ersten Verwirrung durch eine glitzernde Konsum- und Klassenwelt, die zugleich einlädt und ausschließt.
An mittlerweile 20 000 DDR-Ehemaligen hat sich bereits die parteiliche Prophezeiung des SED-Politbüromitgliedes Kurt Hager erfüllt, der einst vor der westlichen Freiheit als einer warnte, die erlaube, »unter Brücken zu verhungern«. Jeder fünfte Nichtseßhafte auf bundesdeutschen Straßen stammt aus der DDR - »erschreckend viele«, urteilt Horst-Günter Kessler, »wenn man bedenkt, daß der Anteil der ehemaligen DDR-Bürger an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik nur etwa fünf Prozent beträgt«.
Für Andreas T., 47, Landwirt aus dem Thüringischen, begann der Abstieg in »fünf Jahre Nichtsein« unmittelbar nach dem Lager Gießen: Männerwohnheime, Obdachlosenasyle, Pennerkolonien - lauter letzte Adressen quer durchs Brüder-und-Schwestern-Land, überall viel Schnaps, wenig Glück, die meisten Kumpane wie er aus der DDR. »Wir alle«, resümiert T., der inzwischen die Kurve gekriegt, geheiratet, auch Arbeit und Wohnung gefunden hat, »haben den Start in der BRD verpaßt.« Seine Schuld am sozialen Fiasko will er nicht leugnen, »aber die Behörden der BRD tragen auch ihren Teil«.
Als sozialistisches Erbe findet sie sich in beinahe allen Kurz-Biographien dieser Sammlung: die Sehnsucht nach einer mächtigen gesellschaftlichen Instanz, die gerecht und gütig das allzu freie Spiel der Kräfte überwacht, die Starken zügelt und die Schwachen schützt. Die meisten, so scheint es immer wieder durch alle Verwerfungen und individuellen Unterschiede hindurch, kamen vordergründig wegen des westdeutschen Kontrastprogramms, und doch suchen sie - eigentlich und vergeblich - in der Bundesrepublik die bessere DDR.
Selbst Michael W., 26, mit seiner gesamtdeutschen Horror-Karriere - unehelich, körperbehindert, Heime und Knast im Osten, Knast und Psychiatrie im Westen -, ist es noch immer nicht leid geworden zu beklagen, daß Freundschaft, Zusammenhalt, rechtzeitige Hilfe in diesem Land so extrem unterentwickelt seien. Daß hier einer beim Überleben untergehen kann, bevor er auch nur die Grundregel »Jeder für sich, notfalls gegen alle« begriffen hat, erfuhr W. am eigenen Leibe. Und doch reklamiert er für sich noch das absurde »Glück, daß ich schon 'ne Weile hier bin und mich (nach immerhin sieben Jahren) etwas auskenne. Die nach mir kommen, tun mir echt leid«.
Gewiß kann gegen die Auswahl der Befragten manches eingewandt werden. Doch ist die Absicht der Kompilateure zu respektieren, sowohl auf Prominente zu verzichten, die ihre Grenzüberschreitung alsbald atemlos vermarkten, als auch auf jene, die in die Bundesrepublik einsteigen wie in ein gutes Geschäft, aus dem es ohne hemmenden Blick zurück in kürzester Zeit das Bestmögliche herauszuholen gilt.
Manchmal schlägt der Fibel-Charakter der rotgelben Duve-Reihe penetrant durch, etwa wenn ernsthaft Lebenshilfe für zukünftige DDR-Flüchtlinge angedroht wird oder wenn auf sieben Seiten siebzehn Jahre DDR-Vor- und -Frühgeschichte als historischer Hackepeter angerichtet werden. Doch abgesehen davon und von einigen geschwätzigen Fragen, zeichnet sich die Sammlung vernehmlich durch Zwischentöne aus - den Zerbrechlichen und Zerbrochenen abgelauscht und damit über die Gemengelage der Nation mehr verratend als die meisten Politiker-Reden zum selben Thema.
Aber auch manchen alternativen Einheitsfreak, der sich gelegentlich und vornehmlich theoretisch das DDR-Volk als Beleg für eigene nationale Sehnsüchte und »gegen die Supermächte in Ost und West« ausborgt, werden diese westwärts versetzten Lebensgeschichten zwar nicht um den Schlaf, aber doch um heimliche Irredenta-Illusionen bringen. Der Haß aufs Übervaterland, so verrät dieses Dossier der von drüben Gekommenen, schlägt gar nicht so selten um in rückwärts gewandte Träume, mitunter sogar in verbissene Parteinahme für einen Staat, dessen illegitime Kinder sie trotz schmerzhafter Abtreibung bleiben.
Das Biermann-Wort, wonach »gerade scharf« macht, »was verboten ist«, gilt auch in umgekehrter Richtung. Und wer, vom Opfer zum Bundesbürger umdekoriert, alsbald unter die DDR-Einreisesperre für »unerwünschte Besucher« fällt, wäre danach, oft zu seiner eigenen Verblüffung, wie die neunjährige Anne »am liebsten überall, auf beiden Seiten«.
Die DDR, so scheint es, ist das Deutschland, von dem einer leicht weggeht, aber schwer loskommt. Nicht einmal annähernd genau zu trennen, geschweige denn zu gewichten ist, wieviel von dieser hartnäckigen Anhänglichkeit der verlassenen Heimat gilt und wieviel der anderen Gesellschaft, der durch Mangel bewußter gebliebenen Lebensweise, dem leiseren, langsameren Umgang miteinander.
Die Übereinstimmung in diesem Punkt reicht von der Akademikerin, die inzwischen die »Rücksichtnahme auf Schwächere« als eine »neue Qualität des menschlichen Verhaltens« erkannt hat, »wie man es im Sozialismus lernt« und hier nur selten vorfindet, bis zum Sozialhilfe-Empfänger, der noch weniger Illusionen hat: »Gegenseitige Hilfe ist hier in der Bundesrepublik glatt null ... hier zählt bloß der Schotter.«
Die DDR als menschliche, jenseits staatlicher Repressionsbezirke vielleicht sogar die menschlichere deutsche Veranstaltung? Dieses Bild vom kleineren, kommunistischen Deutschland mag hier gerade so ungewohnt erscheinen wie jenes von Franz Josef Strauß bei Erich Honecker am Werbellinsee. Aber beide Momentaufnahmen, die eine für eine Milliarde, die andere für 9,80 Mark feil, transportieren womöglich mehr zwischendeutsche Realität als die unermüdlichen Neuauflagen alter Arroganz, Stasi-Land immer nur als Quasi-Land zu behandeln.