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WEIN / WINZER Die nasse Hand

aus DER SPIEGEL 30/1961

Die Einladungskarte war mit einem stilisierten Weinstock verziert und heischte »dunklen Anzug«. Das Steinhäuser-Quartett war zu Haydn-Darbietungen, der Schriftsteller Frank Thieß zu einer poetischen Lobrede angeworben worden. Der Bundespräsident, ebenfalls um einen Beitrag zur Verschönerung der »Deutschen Weinwoche« gebeten, hatte artig ein Grußtelegramm an die Festversammlung in der Stuttgarter Liederhalle gesandt.

Sechs Festredner, unter ihnen der rheinland-pfälzische Weinbauminister Oskar Stübinger, würdigten den hohen Wert heimischer Rebensäfte, und nachdem auch die Deutsche Weinkönigin, das Fräulein Christel Koch aus dem Dorfe Ungstein in der Pfalz, ihren Weinvers aufgesagt hatte, begaben sich die Ehrengäste, um erlesene Kreszenzen zu kosten, zu einer feierlichen »Bundesweinprobe«.

Auf dem Stuttgarter Karlsplatz war derweilen ein hölzerner Weinbrunnen aufgestellt worden, aus dem das gemeine Volk zu Blasmusik weniger edle Tropfen zapfen durfte. Am Abend: ein lärmendes Weinfest, dem der rheinische Humorveteran Paul Henckels launige Führung lieh. Eigens herbeibeorderte Jungwinzerinnen entboten Sing- und Tanzspiele auf dem Killesberg.

Nach dem offiziellen Auftakt begann, geräuschvoll von deutscher Art kündend, auch in anderen Teilen der Bundesrepublik die »Deutsche Weinwoche 1961«. Selbst München, Hamburg und Hannover wurden mit munteren Darbietungen aus Deutschlands Weinorten versorgt.

Der Rummel um den Rebensaft, den die Funktionäre der Weinwirtschaft vor einigen Wochen entfachten, diente freilich nur scheinbar allgemeiner Volksbelustigung. Die Weinfeste und Schunkelabende, Dichterlesungen und Kostproben galten vielmehr einem Ziel, das der christdemokratische Weinbauminister Stübinger »mit feinem Sinn für publikumswirksame Formulierungen« ("Süddeutsche Zeitung") unlängst so präzisierte: »Es muß mehr gesoffen werden.«

Denn mehr als vier Millionen Hektoliter Wein - über die Hälfte der letzten Ernte - lagern noch in den Kellern der Weingutsbesitzer, Winzergenossenschaften und Weingroßhändler. Selbst der wegen seiner außerordentlichen Güte als Jahrhundertwein bezeichnete Rebensaft des Jahres 1959 ist zum Leidwesen der Hersteller noch in Millionen Flaschen vorrätig. Und schon jetzt zeichnet sich ab, daß die Winzer auch in diesem Herbst wieder Rekordmengen von Trauben ernten können. Lamentierte der Generalsekretär des Deutschen Weinbauverbandes, Dr. Werner Becker: »Der deutsche Weinbau ist in Gefahr, im eigenen Wein zu ertrinken.«

Seit Jahren, vor allem aber seit der Weinschwemme des vergangenen Herbstes, sorgen sich die Verbandsfunktionäre zunehmend über die Widerborstigkeit der Bundesbürger gegenüber der Aufforderung, den Weinkonsum drastisch zu erhöhen. Während die Franzosen - pro Kopf der Bevölkerung - jährlich 134, die Italiener 133, die Spanier 49 und die Griechen 42 Liter Wein trinken, begnügen sich die Westdeutschen zur Zeit mit neun bis zehn Litern im Jahr. Ein Mehrquantum von drei Litern aber sei - so Weinbauminister Stübinger - erforderlich, damit die Fässer leer würden.

Indes, bislang versagten sich die Bundesbürger den einschmeichelnden Werbesprüchen ("Wein schenkt Freude«, »Wein vergoldet jeden Tag"), welche die teilweise mit Steuergeldern gefütterte Deutsche Weinwerbung an die Litfaßsäulen hatte kleben lassen. Bundesverteidigungsminister Strauß lehnte das Ansinnen des rheinland-pfälzischen Weinbauministers Stübinger, jedem Bundeswehrsoldaten täglich einen Viertelliter Wein einzuschenken, strikt ab. Und auch die Werbefilme, die das Bundesernährungsministerium fertigen und in die Kinos schleusen ließ, vermochten den Absatz nicht merklich zu heben.

Dieser beharrliche Widerstand der ansonsten jeglichem Wohlstandskonsum aufgeschlossenen Bundesbürger muß geradezu verwunderlich anmuten angesichts des legendären Rufs, den deutscher Wein in aller Welt genießt. Dichter preisen seine »Blume«, »Rasse«, »Eleganz«, »Fruchtigkeit« und »Fülle«, Sinnsprüche und Chroniken rühmen seinen »Charakter« und besingen

ihn verzückt als Gottesgabe und Spender schierer Himmelsfreuden.

In England gilt er als Society-Getränk, seit Königin Viktoria die Liebe zu ihrem deutschen Prinzgemahl Albert auch auf die deutschen Rheinweine übertrug und vor allem die »Hochheimer« ("The Hocks") am Hofe von St. James einführte. Und begüterte Amerikaner sind längst dazu übergegangen, ihre Reiseberichte vom jeweils jüngsten Europa-Trip mit ebenso teuren wie edlen Weinen, etwa »Schloß Johannisberger« oder »Bernkasteler Doktor«, abzuschmecken.

Der Schriftsteller Rudolf Krämer-Badoni weiß von einem amerikanischen Weinkenner namens Frank Schoonmaker zu berichten, der den Rheingau in lyrischer Veredelung als einen Bezirk definiert, »wo Sonne und Boden und eine besondere Traubensorte mit menschlicher Nachhilfe ein Wunder vollbringen, das nirgendwo sonst gewirkt oder wiederholt werden kann«.

Selbst der langjährige Präsident des Internationalen Weinamtes, der Besitzer des bekannten französischen Weingutes Chateauneuf-du-Pape, Baron Le Roy de Boiseaumarié, gesteht unumwunden: »Der beste Weißwein der Welt wächst in Deutschland.« Der zuständige Experte des Pariser »Institut National des Appellations d'Origine des Vins«, Direktor Lugan, bekannte: »Die deutschen Weißweine gehören zu den besten der Welt. Die Weine von der Pfalz, der Mosel und vom Rhein sind von köstlicher Qualität.«

Allein, weder Präsident Le Roy noch Direktor Lugan müssen normalerweise solche Durchschnittstropfen schmecken, wie sie der Bundesbürger als Tischwein in der Gaststätte oder an der Ladentheke erstehen kann; denn wenn sich die Rebsaftspezialisten zu anregendem Gedankenaustausch bei Oskar Stübinger - er ist, neben dem Luxemburger Emile Schaus, der einzige Weinbauminister der Welt - oder bei den westdeutschen Weinbauverbandspräsidenten Graf Matuschka-Greiffenelau (Schloß Vollrads, Winkel/Rhein) und Dr. Albert Bürklin (Wachenheim, Weinstraße) einfinden, wird ihnen kaum schlichter Konsumwein kredenzt. Lugan: »Die Herren sind immer sehr liebenswürdig, sie besitzen exzellente Weine.«

Und auch der Dichter Stefan Andres, der die jüngste Eloge auf den teutonischen Rebensaft verfaßte, beschränkte sich darauf, die »großen« Weine Deutschlands abzuhandeln. Dem Gros der deutschen KonsumWeine aber blieb mit Recht poetische Huldigung versagt: Die Säfte sind von unvergleichlich minderer Qualität.

Klagt der Regierungsdirektor Dr. Fritz Renz vom MainzerWeinbauministerium: »In Deutschland sind wir gewohnt, alles, was nach Traube aussieht, im Herbst zu lesen, auszupressen und auf Wein zu verarbeiten. Dem Geschick des Kellerwirts bleibt es dann überlassen, kleine und kleinste Qualitäten, mögen sie auch noch so unreif schmecken, durch Verbesserung oder Verschnitt irgendwie absatzfähig zu machen... .«

So kann nicht wundernehmen, daß

wie die »Deutsche Zeitung« konstatierte - »weite Verbraucherkreise eine der wichtigsten Voraussetzungen zum Kaufentschluß verloren haben: das Vertrauen in den Wein. Man hat es in der schnellebigen, im reinen Umsatzdenken befangenen Nachkriegszeit allzu oft aufs Spiel gesetzt«.

Denn stärker als jemals zuvor haben sich westdeutsche Weinbereiter der Devise verschrieben, auch mäßigen Most kellertechnisch zum »Sonnentröpfchen« oder »Winzertraum« aufzuputzen und zu Preisen zu vertreiben, die offenbar weniger an der Qualität als an dem falsch verstandenen Anspruch gemessen wurden, das deutsche Kulturgut Wein hochzuhalten.

Meinungsforscher haben die fatalen Folgen dieser Praktiken gründlich ausgeleuchtet. Ihre Recherchen lassen erkennen, daß sich viele Bundesbürger im Weingenuß vor allem deshalb Mäßigung auferlegen, weil sie nur zu oft erfahren mußten, wie wenig der Flascheninhalt dem entsprach, was sie aufgrund des Preises erwartet hatten.

Da ohnedies nur drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung Westdeutschlands regelmäßig und gerade 14 Prozent häufiger einen Schoppen trinken, 34 Prozent aber niemals ein Glas Wein anrühren und 49 Prozent kaum jemals eine Flasche leeren, wiegt die Enttäuschung der Verbraucher doppelt schwer. Fast jeder dritte Weintrinker hat eingestanden, er würde häufiger eine Flasche entkorken, wenn die Weinpreise niedriger wären.

Doch viele deutsche Weinbereiter ignorierten die Ergebnisse der Verbrauchertests ebenso wie die vorsichtigen Mahnungen ihrer staatlichen Beschützer. Weder beherzigten sie die Predigten des Weinbauministers Stübinger ("Man wird es schon bald leid, immer und immer wieder über die Pflicht zur Qualitätssteigerung zu sprechen") noch die Appelle ihres Bonner Schirmherrn, des Staatssekretärs Sonnemann vom Ernährungsministerium, daß es höchste Zeit sei, die »eingeschworenen Liebhaber unserer deutschen Weine so bei Lust und Laune zu erhalten, das heißt vom Preis wie von der Qualität her, daß ihre Liebe nicht erkaltet«.

Statt - wie die französischen Weinbauern - nur auf wirklich geeigneten Böden Rebstöcke anzupflanzen, haben deutsche Winzer nicht der Versuchung widerstanden, »aus jedem Ginsterhang noch Spätlesen hervorzaubern zu wollen« (Sonnemann). Sie verwandelten selbst kalte Ackerböden und saure RheinWiesen in Weingärten, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Juli 1958 die einst vom Reichsnährstand diktierten Anbaubeschränkungen als grundgesetzwidrig aufgehoben hatte. Bis dahin war ihnen untersagt, Reben dort anzusiedeln, wo »die Lage oder die Beschaffenheit des Grundstücks nur die Gewinnung minderwertiger Erzeugnisse erwarten lassen«. Diesem Verbot waren sie nun nicht mehr unterworfen.

Nach dem Karlsruher Urteilsspruch mühten sich deutsche Winzer freilich nicht nur, neue Weingärten anzulegen. Sie nutzten ebenso, emsig die Erkenntnisse der Wissenschaftler, den Rebstöcken immer größere Traubenmengen abzuluchsen.

Französische Weinberge erbrachten im

letzten Jahr einen Hektar-Ertrag von durchschnittlich 67,2 Hektolitern - deutsche Winzer ernteten Hektar-Erträge von 116 Hektolitern. Wenngleich dieser Zugewinn teilweise daraus resultiert, daß deutsche Weinbauern ihre Rebgärten intensiver und rationeller bewirtschaften als die Franzosen, so bauten sie andererseits auch in erheblichem Maße weniger wertvolle Traubensorten an - sogenannte Massenträger. Selbst Vizepräsident Bürklin vom Deutschen Weinbauverband beklagte diesen »Massenanbau«

- »die bedenkenlose Produktion von extrem großen Mengen minderwertiger Moste aus ungeeigneten Sorten auf ungeeignetem Boden«.

Die Absatznöte blieben nicht aus. Der Massenanbau minderte die Qualität, die mindere Qualität verstimmte die Verbraucher. »Und das Weingesetz«, zürnte die »Deutsche Zeitung«, »reichte dazu seine nasse Hand.«

In der Tat: Das deutsche Weingesetz stellt an die Trauben, an den Most und an die Qualität des Weins nicht eben strenge Mindestanforderungen. Als Wein gilt nach deutschem Recht grundsätzlich ein Getränk, das »durch alkoholische Gärung aus dem Safte der frischen Weintraube« gewonnen wurde. Nirgendwo ist vorgeschrieben, daß nur gute Rebsorten angepflanzt werden dürfen, bis zu welchen Ausnutzungsgraden die Trauben zu Most zerquetscht werden sollten. Und großzügig ist geregelt, was dem Rebensaft bei der kellertechnischen Aufbereitung widerfahren darf.

Dank diesem Freibrief ist es weitgehend dem Geschäftssinn von Winzern und Kellermeistern überlassen, was sie als »Wein« kredenzen wollen. Der Weinbereiter braucht auf dem Etikett nicht zu bekennen, ob es sich um einen seichten Tropfen handelt. Er darf beispielsweise unter so blumigen Titeln wie »Rüdesheimer Rosengarten«, »Dürkheimer Feuerberg«, »Oppenheimer Krötenbrunnen« oder »Liebfrauenmilch« Weine offerieren, die ihrer Qualität nach in Frankreich wahrscheinlich nur die Kennkarte »Vin ordinaire« tragen dürften.

Keineswegs gesetzwidrig verhalten sich Weinbauern und Weinhändler, wenn sie dem Verbraucher auf dem Etikett verschweigen, daß sie etwa

- dem Wein bis zu einem vollen Viertel

Leitungswasser, vermischt mit

Rübenzucker, zusetzen;

- dem Wein Kohlendioxyd einpumpen,

um ihn spritzig zu machen;

- den Most aus Trauben pressen, die in dem auf dem Flaschen-Etikett angegebenen Ort gar nicht geerntet wurden;

- die verschiedensten Jahrgänge, Traubensorten und Weinbergslagen zusammenmischen.

Wohl huldigt auch das Weingesetz dem Grundsatz der »Bezeichnungswahrheit« des allgemeinen Lebensmittelrechts. Es ist verboten, »Wein unter einer irreführenden Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung anzubieten«. Doch während jeder Marmeladenfabrikant und Mayonnaisenhersteller auf seinen Waren-Etiketten bekennen muß, ob er Naturprodukte künstlich geschönt und verändert hat, bleibt Winzern und Weinhändlern eine derartige Beichte erspart.

Die Etikettierungsbräuche in Westdeutschland sind mithin vorzüglich geeignet, den Verbraucher zu verwirren. Längst sind die Zeiten entschwunden, da die sogenannten Lagenamen lediglich der kleinen Elite edler Weine vorbehalten waren und dem Weintrinker damit eine Qualitätsgarantie gewährten.

Etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren Klöster, Kurfürsten und Standesherren darangegangen, auf ihren von der Sonne und vom Boden besonders begünstigten Weinbergen an der mittleren Mosel, im Rheingau und in der Pfälzer Mittelhaardt Qualitätsreben anzupflanzen und die aus ihnen gewonnenen Weine im Keller kunstvoll zupflegen(imFachjargon: »auszubauen"). Während sie die Masse der anderen Weine vom Faß abzapften, füllten sie ihre hochwertigen Rebensäfte in Flaschen und schmückten sie mit dem Geburtsschein der betreffenden Weinbergslage.

Auch nach der Säkularisierung, als viele kirchliche Weingärten in bäuerliche oder staatliche Obhut übergingen, blieb dieser Brauch lange Zeit bestehen, so -daß die Weintrinker, wenn sie etwa eine Flasche »Trittenheimer Altärchen«, »Bernkasteler Doktor«, »Leiwerer Laurentiusberg«, »Niersteiner Rehbach«, »Brauneberger Juffer«, »Erbacher Marcobrunn«, »Deidesheimer Herrgottsacker«, »Forster Jesuitengarten« oder »Hochheimer Domdechaney« erwarben, gewiß sein konnten, ein edles Getränk vor sich zuhaben. Noch auf der Weinprobe des Siebten Deutschen Weinbaukongresses im Jahre 1882 wurde die Hälfte der dargereichten Säfte nur unter Gemarkungsnamen präsentiert.

Doch je mehr sich bei der Masse der Winzer herumsprach, wie sehr die Weintrinker bereit waren, den Lagenamen mit Qualität gleichzusetzen und dafür höhere Preise zu bezahlen, desto zügiger statteten sie ihre Säfte gleichfalls mit zierenden Namen aus. Die Folge war ein schier undurchsichtiger Namenwirrwarr.

Die Franzosen hingegen beschränkten von Anbeginn die Lagebezeichnung auf auserlesene Spitzengewächse und gaben dem Weintrinker außerdem die Möglichkeit, gute Qualitätsweine am Flaschen-Etikett zu erkennen und von dem Gros der einfachen Tischweine mühelos zu unterscheiden.

In den Weinbau-Departements wurden bestimmte Areale, die bis zur Größe von halb Rheinhessen reichen konnten, unter einem Gebietsnamen zusammengefaßt, der allen dort gewonnenen Weinen zuerkannt werden darf, sofern bei ihrem Anbau und bei ihrer Kellerbehandlung die äußerst strengen Qualitätsvorschriften beachtet werden. So steht beispielsweise die Bezeichnung »Beaujolais Appellation Controlée« jenen Weinen aus Gemeinden im Departement Rhone von Burgund zu, bei denen von der Pflanzung des Rebstocks bis zur Flaschenabfüllung die staatlichen Gütebestimmungen eingehalten wurden. Der Gebietsname »Medoc« gilt in gleicher Weise für Bordeauxweine an der unteren Gironde.

Der Durchschnittstrinker deutscher Weine aber ist kaum in der Lage, aus der Getränkebezeichnung abzuleiten, ob er einen mittelmäßigen Konsumwein oder einen trefflichen Tropfen vor sich hat. Das deutsche Etikett-Sortiment umfaßt

- 30 000 Lagenamen wie »Bernkasteler Doktor« oder »Deidesheimer Herrgottsacker« (als Lagename gilt die im Grundbuch oder im Kataster eingetragene beziehungsweise im Volksmund gebräuchliche Bezeichnung eines bestimmten Reb-Areals, das verschiedenen Besitzern gehören kann);

- 500 Sammellagenamen wie »Niersteiner

Domtal« oder »Oppenheimer Krötenbrunnen« (unter Sammellagenamen firmieren die Reb-Areale, die innerhalb der Gemarkungsgrenzen mehrerer Weinorte liegen; die Weine können jeweils unter diesem Namen, in Verbindung mit den jeweiligen Ortsnamen, offeriert werden);

- 5000 Phantasienamen wie »Fröhliche

Moselpost« (Bezeichnungen für bestimmte Weine eines bestimmten Weinherstellers, der sich die Titel ausgedacht und - meistens - als »Handelsmarke«, Sondermarke« oder »Markenbezeichnung« hat schützen lassen).

Die Pein des Verbrauchers, der sich in diesem Namengestrüpp zurechtfinden soll, hat der Gesetzgeber bislang nicht lindern mögen. Nur stets neue, kostspielige Erfahrung kann den Konsumenten lehren, daß ein »Deidesheimer Hofstück« (Sammellage) der Qualität eines »Forster Kirchenstück« (Einzellage, Spitzenquallität) nicht nahekommen muß, obwohl die Weingärten nicht allzu weit voneinander entfernt liegen, und daß eine »Trittenheimer Apotheke« nicht mit einem »Trittenheimer Altärchen« (beides Einzellagen, von unterschiedlicher Qualität) verwechselt werden sollte.

Weinkenner sind sich denn auch darin einig, daß bestenfalls ein paar Hundert der 30 000 blumigen Lagenamen einen Wein garantieren, der als trefflich gelten kann und sich deutlich erkennbar von anderen unterscheidet.

Bekennt der frühere Werbeleiter der Deutschen Weinwerbung, Heinz Georg Heep aus Ingelheim: »Das ist doch allmählich unerträglich, was man da dem Verbraucher zumutet. Was hat denn das noch mit einer ernstzunehmenden Weindifferenzierung zu tun?«

Und: »Probt doch einmal die Weinliste eines Weinhändlers durch! Da stehen oft 100 und mehr Weine darauf, aber zehn zeigen vielleicht deutlich wahrnehmbare Geschmacksunterschiede.«

Einen Lagenamen von einem Sammellagenamen zu unterscheiden, vermag normalerweise nur ein Kenner. Der

Durchschnittsverbraucher wird kaum gewahr, daß ihm Weine gewissermaßen unter falschen Namen angeboten werden: Die Winzer dürfen die Sammellagen-Weine unter dem Werbeschild der durch Fremdenverkehr ins Gerede gekommenen Hauptweinorte anpreisen, sofern diese »nahegelegen« oder »benachbart« sind. Was freilich unter dem dehnbaren Begriff »nahegelegen« zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber nicht definiert.

Weingesetz-Kommentator Hieronimi: »Als 'nahegelegen' werden in der Rheinpfalz die Gebiete der Unter-, Mittel- und Oberhaardt und die Nordpfalz unter sich angesehen, an der Mosel, Saar und Ruwer: die Obermosel bis zur Saarmündung, das Gebiet der Saar, der Ruwer, um Trier bis zur Mündung der Ruwer, die Mittel- und Untermosel.«

Zwar müssen die andernorts gefertigten Weine ihren Namensvettern »gleichartig« und »gleichwertig« sein. Doch was das bedeuten soll, hat der Gesetzgeber gleichfalls nicht bestimmt.

Kein Hinweis auf dem Flaschenschild belehrt den Käufer, daß es sich bei dem kredenzten »Oppenheimer Krötenbrunnen«, »Niersteiner Domtal« oder der »Nackenheimer Fritzenhölle« unter Umständen um Weine handelt, deren Trauben auf den Äckern von Schwabsburg, Dienheim, Dexheim oder eines anderen nahegelegenen rheinhessischen Weindorfes gewachsen sind. Die Rechtsprechung neigt dazu, Entfernungen bis zu 15 Kilometer Luftlinie als nahegelegen anzusehen; eine großzügigere Interpretation durch Weinbereiter mußte schon oft geahndet werden.

Nichts auf dem zumeist buntschillernden Flaschen-Etikett hilft dem Verbraucher ergründen, ob der »Rüdesheimer Berg«, das »Oestricher Gottesthal« und das »Hallgartener Mehrhölzchen« ihm zu Recht die Illusion sonnenüberfluteter Spitzenlagen vorgaukeln, denn die Weine müssen keineswegs an den steilen Hängen dieser berühmten Rheingauer Weinorte geerntet werden, sondern dürfen auch aus deren Umgebung stammen. Wer eine Flasche »Piesporter Michelsberg« oder »Graacher Münzlay« einhandelt, darf lediglich gewiß sein, daß die Trauben an der mittleren Mosel geerntet wurden.

Umgekehrt: Was sich unter den bekannten Namen wie »Deidesheimer Hofstück«, »Forster Schnepfenflug« oder »Wachenheimer Schenkelböhl« verbirgt, darf durchaus ein und derselbe durchschnittliche Pfalzwein sein. Denn das Weingesetz verbietet zwar, das gleiche Erzeugnis unter verschiedenen Bezeichnungen feilzubieten. Doch diese Sicherung gegen eine Übertölpelung des Verbrauchers gilt nur für Most, der in einem einzigen Faß zu Wein vergoren ist. Wird der Rebensaft dagegen auf drei oder vier verschiedene Gärtanks verteilt, dann darf der Wein später auch verschieden heißen.

Vollends verzagen mag mancher Weinfreund schließlich angesichts der über 5000 Phantasiebezeichnungen, die

- mit den 30 000 Lage- und 500 Sammellagenamen -

das pralle deutsche Weinsortiment abrunden. Neckische Titel wie »Weiberschreck«, »Hitzköpfchen«, »Himmelsleiter«, »Brückenkätzchen« oder »Senior« verbürgen lediglich, daß die Getränke aus Trauben gewonnen wurden.

Selbst die aufgeklebten Siegelmarken »Eingetragene Schutzmarke« oder »Gesetzlich geschützte Originalausstattung« vermitteln keine besonderen Auskünfte. Sie bedeuten nur, daß der Weinhersteller die poetische Bezeichnung beim Deutschen Patentamt in München hat registrieren lassen.

Ebensowenig erfährt der Verbraucher über den Verschnitt (Mischung) deutscher

Weine, den das Weingesetz ausdrücklich erlaubt: »Es ist gestattet, Wein aus Erzeugnissen verschiedener Herkunft oder verschiedener Jahre herzustellen.« Einschränkung: Deutscher Weißwein darf nur mit Weißwein (deutscher Herkunft), deutscher Rotwein nur mit Rotwein (bis zu einem Viertel ausländischer Herkunft) verschnitten werden.

Doch das Gesetz gestattet, die Tatsache des Verschnitts - Kommentator Hieronimi: »wie es auch allgemein geschieht«

- auf dem Etikett zu verschweigen. Ein

Wein mit Phantasienamen darf aus beliebig vielen Weinen zusammengemixt werden. Soll das Etikett mit einem Lägenamen geschmückt werden, müssen allerdings zwei Drittel des Flascheninhalts der betreffenden Lage entstammen.

War der Weinhersteller indes gewitzt genug, zur Titulierung seiner Säfte in die Schatztruhe der Sammellagenamen oder Phantasienamen zu greifen, so braucht er nicht einmal für zwei Drittel seines Produkts einen bestimmten Jahrgang und einen bestimmten Most zu verwenden. So handelte das rheinhessische Weingut Gustav Adolf Schmitt nach: dem Urteil eines Mainzer Gerichts - durchaus zulässig, als es einst aus Mosten neun verschiedener Lagen und fünf verschiedener Weinorte einen »Niersteiner Ratsherrenwein« fertigte. Der Wein bestand aus

- 1200 Litern »Niersteiner Domtal«,

- 600 Litern »Niersteiner Warte«,

- 600 Litern »Dexheimer Hölle« und

»Königsberg«,

- 600 Litern »Schwabsburger Schloßberg«,

- 2400 Litern »Niederflörsheimer Frauenberg«,

- 1500 Litern »Wörrstadt Goldberg«,

- 5400 Litern Verschnitt aus »Niersteiner Monzenberg« und »Dexheimer Doktor«, »Hölle« und »Königsberg« (der als fertiger Verschnitt eingekauft worden war).

Das deutsche Weingesetz bestimmt zwar, daß Verschnitten die Vokabeln »Wachstum«, »Gewächs« oder »Kreszenz« nicht angeheftet werden dürfen. Doch gelten die »Beschränkungen der Bezeichnungen« nicht für den Verschnitt selbstgewonnener Weine »gleichen Wertes derselben oder einer benachbarten Gemarkung«.

Da rechtlich als »Erzeuger« sogar Winzergenossenschaften und Winzervereine gelten, die Trauben aus einem Dutzend oder mehr Weinorten verarbeiten, können mithin auch diese (von ihnen verschnittenen) Weine als »Wachstum«, »Gewächs« oder »Kreszenz« bezeichnet werden.

Wie eine hilfreiche Tat der Weinwirtschaft mutete an, daß der »Ausschuß für Weinabsatz« der Deutschen: Landwirtschafts-Gesellschaft ein Deutsches Weinsiegel« kreierte, an dem der Verbraucher die Güte eines Weins erkennen sollte. Indes, im Prozeß gegen die Winzergenossenschaft Edenkoben (Pfalz) stellte sich heraus, daß ein stattliches Quantum falsch etikettierter Weine mit dem roten Gütestempel ausgezeichnet worden war. Selbst die Bronzemedaille der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft war einem unedlen Tropfen zuerkannt worden.

So war denn unausbleiblich, was der Diplom-Landwirt Dr. Alfred Reichardt in einer eingehenden Untersuchung über den deutschen Weinbau im vergangenen

Jahr feststellte: »Wegen eines produktionstechnisch bedingten, objektiv feststellbaren Qualitätsrückgangs und mehr noch durch eine Reihe von Weinfälscherskandalen ist der Ruf des deutschen Weins nicht mehr unbestritten.«

Unter solchen Umständen sah sich Reichardt, wie auch andere Experten,

genötigt, die Chancen der bundesrepublikanischen Weinwirtschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als »denkbar ungünstig« zu beurteilen. Fachleute erkannten, daß der durch den EWG-Vertrag bedingte Abbau der Zollschranken und -kontingente besonders den dünnen deutschen Konsumweinen schaden würde, da die qualitativ besseren und zudem billigeren französischen Rebensäfte dann ungehindert in die Bundesrepublik strömen könnten: Allein der Wein-Überschuß von Frankreich und Italien wird auf jährlich acht bis zehn Millionen Hektoliter beziffert - mehr als das Doppelte der westdeutschen Gesamt -Erzeugung von 1959 (siehe Graphik Seite 27).

Als Ausweg aus dem Dilemma empfahlen einsichtige Experten daher schon frühzeitig »die Rückkehr zur Qualitätsweinerzeugung«. Denn obwohl den deutschen Konsumweinen im Gemeinsamen Weinmarkt nur kärgliche Chancen einzuräumen sind, steht außer Frage,

daß deutsche Qualitätsweine - sie sind den meisten ausländischen Rebsäften an fruchtiger Säure und vorzüglichen Bukettstoffen überlegen - »selbst bei gehobenem Preisniveau bestehen«.

Die Weinbaukommission der EWG -Staaten hat bereits eine Art Wertgruppensystem und eine Bezeichnungsklassifizierung für westeuropäische Weine entworfen, so daß die Verbraucher schon am Namen erkennen könnten, ob es sich um einen Landwein, einen Mittelwein oder einen Qualitätswein handelt.

Die europäischen Weinrechtsexperten orientierten sich dabei an der französischen Regelung, die in der Tat die Winzer zwingt, den Wert ihrer Weine zu bekennen. Während es dem deutschen Gesetzgeber ziemlich gleichgültig ist, wie die Trauben beschaffen sind, aus denen schließlich Wein bereitet wird, haben die Franzosen ein Klassifizierungssystem überwiegend vom Anbau her ersonnen.

Der französische Gesetzgeber hat das Reb-Areal strikt abgegrenzt und ahndet jeden Versuch, den Weinbau heimlich auf ungeeignete Böden auszudehnen. »Jede Pflanzung oder Ergänzung von Pflanzungen«, bestimmt das Weingesetz ("Code du Vin"), »als andere, die zur Erhaltung der Weinberge auf einer gleich großen Fläche innerhalb eines gleichen Betriebes... erforderlich sind, ist verboten.«

Innerhalb eines jeden Weinbaugebietes sind bestimmte, für die Erzeugung von Qualitätsweinen besonders geeignete Rebflächen ausgewählt worden, für die zusätzliche Qualitätskriterien gelten. Wer Trauben aus diesen Weingärten ernten und auf den Markt bringen will, hat sich bei der Anpflanzung, der Düngung, dem Rebschnitt an detailliert vorgeschriebene Methoden zu halten und darf seinen Weingärten nur einen begrenzten Hektar-Ertrag abverlangen.

Dafür aber besitzt er die Chance, seine Tropfen unter einer Qualitätsmarke zu verkaufen: unter der Bezeichnung »Vins à appellation d'origine controlée« (AC), die nur nach einer peniblen Kontrolle durch das zuständige Überwachungsamt verliehen wird.

Wer sich außerdem nicht nur beim Anbau und bei der Pflege seiner Rebstöcke, sondern auch bei der Behandlung seines Weins im Keller bestimmten Qualitätsanforderungen unterwirft, darf seine Tropfen mit einer weiteren Gütemarke, der Kennkarte »Vins délimités de qualité supérieure« (V.D.Q.S.) - Wein besonderer Qualität - schmücken oder sie in bestimmten Reb-Arealen von Bordeaux und Burgund, als »Klassegewächs« ("Premier Cru") bezeichnen.

Wie sparsam die Kontrollorgane freilich mit dergleichen Auszeichnungen umgehen, erhellt aus dem Umstand, daß von der gesamten französischen Anbaufläche (1,5 Millionen Hektar) nur 196 000 Hektar zur Erzeugung von AC-Weinen dienen und von der ganzen Ernte des vergangenen Jahres in Höhe von 77 Millionen Hektolitern nur 8,6 Millionen das AC-Gütezeichen und nur 7,1 Millionen die Qualitätsbuchstaben V.D.Q.S. tragen dürfen.

Aber auch für die große Masse der französischen Konsumweine, der »Vins ordinaires«, hat der Gesetzgeber Regelungen ersonnen, die Qualität zu steigern. So hat das vor zwei Jahren eigens errichtete Kontrollinstitut für Konsumwein einen Rebsorten-Katalog herausgegeben, und es hat durchgesetzt, daß nur derjenige Winzer seinen Weinberg im alten Umfang mit neuen Stöcken bepflanzen darf, der sich einer dieser »empfohlenen Sorten« bedient. Will er seinen Garten mit minder guten Rebsorten bestücken, darf er ihn nur zu 70 Prozent des bisherigen Bestandes bepflanzen.

Auf jegliche schmückende Ursprungsbezeichnungen muß der Winzer verzichten. Er darf sein Erzeugnis lediglich »Vin rouge« oder »Vin blanc« betiteln oder den Sortennamen seiner Trauben angeben.

Kein Zentner Trauben kein Bottich Most, kein Liter Wein darf über Frankreichs Landstraßen oder auch nur von Keller zu Keller transportiert werden, ohne daß ihm ein von der jeweiligen Ortspolizeibehörde ausgestellter Transportschein beigegeben wird.

Dennoch berufen sich deutsche Weinbaufunktionäre darauf, daß die Weinkontrolle in keinem weinbautreibenden Land so minutiös geregelt sei wie in der Bundesrepublik.

Nach den deutschen Kontrollbestimmungen muß jeder, der gewerbsmäßig Trauben zur Weinbereitung, Traubenmaische*, Traubenmost oder Wein in den Verkehr bringt oder zu Getränken verarbeitet«, genau darüber Buch führen, welche Äcker er abgeerntet, wieviel Most er selbst gewonnen oder von anderen erworben hat, wieviel Zucker er gekauft und welche Mengen Wein er schließlich veräußert hat.

Die Buchführungsorder ist mit Gründlichkeit geregelt: »Die Bücher müssen gebunden und Blatt für Blatt oder Seite für Seite mit fortlaufenden Nummern versehen sein«, der Schreiber hat sich bei den »Aufzeichnungen der deutschen Sprache zu bedienen«, darf »an Stellen, die der Regel nach zu beschreiben sind ... keine leeren Zwischenräume lassen«, und »die Eintragungen dürfen nur mit Tinte erfolgen«.

Mit der Überwachung dieser angesichts moderner Durchsehreibeverfahren antiquierten Schreibarbeiten sind besonders geschulte Weinkontrolleure beauftragt, die als Sachverständige der jeweiligen Lebensmittelüberwachungsämter fungieren und gesetzlich gehalten sind, bei ihren Kontrollvisiten »höflich, aber bestimmt aufzutreten«.

Die »mit der Beobachtung der Vorschriften dieses (Wein-) Gesetzes« betrauten Kontrolleure sollen sich zwar auch darum sorgen, daß in den Weinkellern nicht gepanscht, kein Kunstwein fabriziert und dem Wein nicht jenes Übermaß an Schwefliger Säure und Gelbem Blutlaugensalz beigemengt wird, das gesundheitsschädlich ist.

Den Erfolg dieser Kontrollarbeit hat der Gesetzgeber jedoch selbst in Frage gestellt, als er die Anzahl dieser berufenen Beschützer des unverfälschten Weines danach bemaß, »daß jeder der Kontrolle unterliegende Betrieb« nur im Zeitraum von drei Jahren mindestens einer unvermuteten Kontrolle unterzogen werden kann. Zudem bestimmte der Gesetzgeber, daß die Weinkontrolleure ihre gesamte Arbeitskraft nicht ausschließlich der Weinkontrolle widmen müssen.

Die Auswirkungen dieser Kontrollvorschriften sind denn auch nicht ermutigend: In der Bundesrepublik sollen 23 Weinkontrolleure darüber wachen, daß in den Tausenden von Kellereien, Weinhandlungen und Gastwirtschaften Ordnung herrscht.

Bei diesen Mühen können sie sich der tatkräftigen Unterstützung der Winzer nicht erfreuen. So klagte Weinkontrolleur Günther Veltes aus Geisenheim im Prozeß gegen den Kunstweinfabrikanten Korn beredt darüber, daß er in den Winzerdörfern jeweils höchstens zwei bis drei Betriebe kontrollieren könne. Seine Anwesenheit spreche sich so schnell herum, daß er nach den ersten Prüfungen alsbald vor verschlossenen Türen stehe oder sich mit dem Bescheid begnügen müsse, es sei leider niemand da, der Auskunft geben könne.

»Unter Umständen«, bekannte überdies der für die (hessische) Weinkontrolle zuständige Innenminister Schneider, »belasten die Ermittlungsarbeiten nur zweier umfangreicher Beanstandungsfälle die Weinkontrolle eines Landes, ja sogar mehrerer Bundesländer so sehr, daß die routinemäßigen Überwachungsarbeiten zurückgestellt werden müssen.«

Freilich: Selbst eine funktionstüchtige Weinkontrolle könnte nicht die Defekte des deutschen Weingesetzes wettmachen, das sich neben dem straffen französischen Klassifizierungssystem fast wie ein Verschleierungskodex ausnimmt.

Nach - freilich umstrittenen - Bräuchen darf »Liebfraumilch« oder »Liebfrauenmilch« heißen, was am Mittelrhein, an der unteren Nahe, in der Rheinpfalz, in Rheinhessen oder im Rheingau gewachsen oder gar aus Mosten dieser Weinbaugebiete zusammengemixt worden ist. Der Wein braucht weder einen bestimmten Alkoholgehalt zu besitzen noch irgendeiner Güteklasse anzugehören. Er soll - unter diesem Etikett - von »guter Qualität« sein und vor allem »lieblich« schmecken. Das aber bringt jeder Kellermeister mühelos zustande.

Denn was in jedem anderen Weinbauland der Erde - mit Ausnahme von Luxemburg, das mit knapp 130 000 Hektolitern gerade ein Sechzigstel der deutschen Weinernte produziert - strikt verboten ist, hat das deutsche Weingesetz gestattet: die »Verbesserung« des Weines bis zu einem vollen Viertel mit Zuckerwasser.

Diese erlaubte Wassertaufe (im Winzerjargon: »Naßzuckerung"), die naturgemäß eine Streckung bedeutet, bewirkt praktisch, daß eine Flasche »Zeller Schwarze Katz«, die nicht mit einem besonderen Reinheitsvermerk versehen, sondern nur mit einer Floskel wie »spritzig« bezeichnet ist, anderthalb Gläser Zuckerwasser enthalten darf. Die Naßzuckerung darf stets dann vorgenommen werden, wenn es gilt, »einem natürlichen Mangel an Zucker oder Alkohol oder einem natürlichen Übermaß an Säure« abzuhelfen. Oder anders: Die Naßzuckerung soll helfen, schwächere Moste so aufzuputzen, daß der fertige Wein schmackhaft oder überhaupt erst genießbar wird.

»Vielfach«, konstatierte Dr. Herbert Weise in einem Forschungsbericht des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, »ist die Naßzuckerung der einzige Weg, schlechte deutsche Jahrgänge überhaupt noch verkäuflich zu machen.«

Denn im Gegensatz zu mediterranen Weinbauländern, wo Jahr für Jahr Rebsäfte ziemlich gleichbleibender Qualität gewonnen werden, ist die Güte des Weins in Deutschland, dem nördlichsten Weinbauland der Erde, in viel- stärkerem Maße von klimatischer Gunst abhängig. Bei ausgeglichenen Sommerniederschlägen, gemäßigten Temperaturen und sonnigem Herbst wachsen in Westdeutschland Spitzenweine heran, die - wie ein Weinkenner formulierte - »bei ihrer Harmonie von Alkohol, Säure. Bukett und dezenter Süße in der Welt ihresgleichen suchen«.

Umgekehrt kann, bei ungünstigen Bedingungen, der Wein an Rhein und Mosel ärger mißraten als anderswo. Nur etwa drei von zehn Jahrgängen reifen voll aus. Oft aber hat der Wein zu viel Säure, zu wenig Süße. Zumal die Säure, die den spezifischen, allenthalben hochgeschätzten Charakter deutscher Rebensäfte mitbestimmt, bedroht bei allzu starker Konzentration die Qualität des Weins; sie ist zugleich Crux und Juwel des deutschen Weins.

Jede Traube enthält neben ihrem - durch die Sorte bestimmten - Maß an Trauben- und Fruchtzucker, Bukettstoffen, Vitaminen, Mineralien und Glyzerin ein Quantum Wein- und Apfelsäure, das gleichfalls je nach Sorte verschieden ist. Die vorwiegend an Rhein und Mosel heimischen Rieslingtrauben* enthalten beispielsweise mehr Säure als die in Franken angebauten Silvanerreben, bestechen dafür freilich durch ihren Reichtum an Aromastoffen.

Solange die Trauben heranwachsen, bis etwa Mitte oder Ende August, sind sie hart und grün und beherbergen reichlich Säure (20 bis 30 Prozent), jedoch nur wenig Zucker. Mit Beginn der Reife, wenn die Beeren durchscheinend und weich werden, ändert sich das Säure-Zucker-Verhältnis: Die Säurequote sinkt, die Zuckerquote steigt an.

»Die zweckmäßigste Methode zur Herabsetzung der Mostsäure«, konstatiert der Weinfachmann Dr. Paul Böhringer von der Landeslehr- und Forschungsanstalt für Weinbau in Neustadt an der Weinstraße, »ist das möglichst lange Hängenlassen der Trauben am Stock, also bis die Säure des Traubensaftes durch Veratmung weitgehend herabgesetzt worden ist.«

In sonnenarmen und regenreichen Herbsten kann der Winzer diese sinnvolle Umkehr nicht immer abwarten; die Beeren würden sonst am Stock verfaulen. Der Winzer kann jedoch darauf vertrauen, daß sich der Säuregehalt bei der Vergärung des Mostes in Wein vermindert.

Bei der sogenannten Hauptgärung verwandeln die im Most enthaltenen (oder notfalls eingeimpften) Hefepilze den Zucker in Alkohol und Kohlendioxyd. Der Vorgang dauert gewöhnlich nur wenige Tage, doch setzt dann die wesentlich langsamere Nachgärung ein, die stets etliche Wochen, oft viele Monate währt. In dieser Nachgärungsperiode wird nicht nur der Zucker weiter zu Alkohol vergoren, es vollzieht sich auch ein »biologischer Säure-Abbau«. Bakterien spalten scharf schmekkende Apfelsäure in (kaum hervorschmeckende) Milchsäure und in (fast geschmacklose) Kohlensäure auf.

Die Weinsäure kann der Kellermeister (bis auf den für die natürliche Haltbarkeit des Weins notwendigen Restbestand) vertreiben. Er braucht seinem Most nur ein bestimmtes Quantum Kalziumkarbonat (kohlensauren Kalk) zuzusetzen, das sich alsbald mit der Weinsäure zu Kristallen umsetzt; sie sinken auf den Faßboden nieder und bleiben später beim Ablassen des Weins - ebenso wie Hefereste - zurück. Erläutert der Freiburger Weinbau-Fachmann Professor Ernst Vogt: »In der Entsäuerung mit kohlensaurem Kalk steht ein einwandfreies Mittel zur Verfügung, die Säure eines Weins ohne die mit der Naßzuckerung notwendig verbundene Streckung herabzusetzen.«

Zudem haben Wissenschaftler im Großversuch eine weitere Methode - die Herabsetzung des Säurewertes mit Hilfe sogenannter Ionenaustauscher - erfolgreich getestet, die zwar noch nicht gesetzlich erlaubt und überdies umstritten ist, aber Fachleute zu dem Schluß nötigte: »Bei einer etwaigen Zulassung müßte damit gerechnet werden, daß die bisherige Naßverbesserung verboten würde.«

Professor Kurt Hennig von der Geisenheimer Lehr- und Forschungsanstalt für Wein-, Obst- und Gartenbau resümierte schon 1958 den Stand der Forschung so: »Wir können heute auf die Naßverbesserung verzichten, nur wagen wir es nicht laut zu sagen. An der Mosel würden wir wahrscheinlich erschlagen werden.«

Denn die Naßzuckerung, die sich unter Moselwinzern offenbar besonderer Beliebtheit erfreut, ist die wirtschaftlich vorteilhafteste Behandlungsmethode, die das deutsche Weingesetz den Weinbauern erlaubt. Gesteht der Nestor der deutschen Weinwirtschaft, der Ökonomierat Emil Schätzel: »Jeder, der verbessert, will doch auf ein besseres Geschäft hin.«

Kaum weniger vorteilhaft freilich wirkt sich für die Weinhersteller aus, daß sie ihre Säfte kellertechnisch mit dem Qualitätsmerkmal eines edlen Tropfens schmücken dürfen, der sogenannten Restsüße, die von Natur aus nur bei vollreifen Mosten und sorgsam gepflegten Weinen vorhanden ist.

Natürliche Restsüße besitzen nur jene Weine, deren Trauben mehr Zucker haben, als zu Alkohol vergären kann. Denn hat der Alkohol etwa achtzehn Prozent erreicht, frißt er die Hefepilze gleichsam auf und stoppt dadurch die Gärung. Der noch vorhandene Zukkerschatz bleibt dem Wein als Restsüße erhalten und gibt ihm eine vollmundige Schwere, die beim Kenner Entzücken auslöst.

Indes, deutsche Winzer sind darangegangen, auch mäßigen Mosten die Weitergärung zu verbieten und sie zu einem Zeitpunkt abzustoppen, da sich der vorhandene Trauben- und Fruchtzucker normalerweise noch in Alkohol und Kohlendioxyd verwandeln würde.

Der Gefahr, daß die derart vergewaltigten Säfte zwangsläufig zu alkoholschwachen Weinen degenerieren, besteht nicht, wenn der Winzer den Wein

mit der vom Gesetzgeber erlaubten Zuckerwasserbrause behandelt hat. Denn ebenso wie der natürliche Zucker in den Beeren, vermag auch zugesetzter Zucker durch Gärung Alkohol zu produzieren.

Dank kellertechnischen Neuerungen läßt sich der Gärungsverlauf in jedem Stadium unter Kontrolle halten. Viele Weinkeller sahen bald aus wie chemische Großlabors, betagte Eichenfässer wurden durch zimmerhohe Gärtanks aus Stahl, Glas und Beton ersetzt, deren mechanische Druckvorrichtung das bei der Gärung entstehende Kohlendioxyd derart zu komprimieren vermag, daß die Hefezellen sich nicht mehr vermehren können (und folglich die Gärung bremsen).

Die Essigbakterien und Schimmelpilze, die den Mosten mitunter anhaften, lassen sich schließlich durch eine kräftige Schwefeldusche vertreiben - Schwefel bindet den für die Schmarotzer lebensnotwendigen Sauerstoff - und ferner dadurch, daß der abrupt gestoppte Wein durch sogenannte Entkeimungsfilter getrieben wird. (Kohlendioxyd, das den Wein spritzig macht, kann eingepumpt werden. Trübungen werden mit Hilfe von Chemikalien wie Kaliumferrocyanid oder Tannin, Gelatine oder Fischblasen beseitigt.)

Zuckerwasserbrause und Gärungsstopp erweisen sich mithin als ein bequemes Mittel, Weine gewinnbringend zu »veredeln«. Die in anderen Weinbauländern praktizierte Methode der sogenannten Trockenzukkerung - etwa (in Frankreich) durch Zusatz von festem Zucker - ist unter deutschen Winzern ungleich weniger beliebt.

Zwar hat sich der Gesetzgeber nach mancherlei Weinskandalen und Panscherprozessen - das Wiesbadener Landgericht mußte allein innerhalb von fünf Monaten acht Winzer, Weinhändler und Gehilfen wegen Weinfälschung hinter Gitter schicken - dazu durchgerungen, gewisse Höchstgrenzen für die widernatürliche Süßung vorzuschreiben. Doch diese Grenzen sind derart, weit gezogen, daß in normalen Jahren rund achtzig Prozent der deutschen Weinernte unter die Zuckerbrause gestellt werden dürfen.

Die den Winzern amtlich zugebilligte Chance, für seichte Säfte mittels Zucker und billigem Leitungswasser gute Gelder einzustreichen, erklärt zugleich, warum deutsche Weinbauern sich der Mühe unterzogen, ihre Rebflächen in den letzten Jahren auszudehnen.

Während das französische Reb-Areal merklich schrumpfte (die Anbaufläche für Klasseweine aber größer wurde) und selbst die protektionistisch gesonnenen Schweizer sich dazu durchrangen, weniger geeignete Weinbaugebiete nicht mehr zu subventionieren, weiteten die deutschen Winzer in den letzten Jahren ihre Anbauflächen um fast ein Drittel aus.

Schrieb die »Süddeutsche Zeitung": »Der alte Grundsatz, wo der Pflug geht, habe die Rebe nichts zu suchen, wurde dabei mißachtet: Wo einst Kartoffeln, Korn und Zwiebeln wuchsen, gedeiht heute Wein.«

»Das Weinblatt« berichtete von der Mosel: »Bei den letzten Versteigerungen von Rebland wurden selbst für Nebenlagen in einigen Gemeinden Preise gezahlt, die man in dieser Höhe noch vor einigen Jahren für unmöglich gehalten hätte. Man bezahlte bis zehn DM pro Quadratmeter für bisher nicht weinbaulich genutzte Flächen, auf denen früher niemand Weinbau für möglich gehalten hätte. In guten Lagen wurden bis 30 DM pro Quadratmeter bezahlt.«

Da diese horrenden Bodenpreise notgedrungen den Erzeugnissen wieder abgerungen werden müssen, ist Zuckerwasser gewissermaßen ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor geworden. Selbst der Vizepräsident des Deutschen Weinbauverbandes, der Großweingutsbesitzer Dr. Bürklin aus Wachenheim in der Pfalz, beklagte sich darüber, »wie wenig erfreulich die jetzige Handhabung der Naßzuckerung ist, die die Tendenz zum Massenträgeranbau und zur Ausweitung der Rebfläche geradezu fördert«.

Freilich hat der Konsument theoretisch die Chance, aus dem Meer der korrigierten Säfte die unverwässerten Tropfen (Ökonomierat Schätzel: »Naturreine Weine gibt's noch keine sechs bis sieben Prozent") herauszufinden. Denn jeder Wein, der nicht mit der Zuckerwassertaufe gestreckt worden ist, darf diese Sonderstellung auf dem Flaschen-Etikett anzeigen. Er darf »Naturrein«, »Kreszenz«, »Gewächs«, »Wachstum« oder »Cabinetwein"* heißen, und »Originalabfüllung«, sofern er zugleich im Keller des Erzeugers gepflegt und auf Flaschen gezogen wurde.

Auch die auf bessere oder gar hervorragende Qualität hindeutenden Vokabeln »Spätlese«, »Auslese«, »Beerenauslese«, »Trockenbeerenauslese« und »Hochgewächs« sind den ungestreckten Rebsäften vorbehalten. Desgleichen deuten Etikett-Bezeichnungen wie »Faß Nr. ...« oder »Fuder Nr. ...« auf die Reinheit des Weins oder besondere Sorgfalt bei der Traubengewinnung hin.

Der Gütestempel »Korkbrand« hingegen ist fragwürdiger Natur. Denn er darf auch die Zuckerwasser-Weine zieren, allerdings dann nicht auf den Flaschenschürzen eingedruckt sein. »Das ist alles recht wirr«, fand der Wein-Schriftsteller Krämer-Badoni. »Also ist es am einfachsten, den Korkbrand nicht zu beachten.«

Das Vorrecht der Naturweinhersteller, ihre Flaschen mit aufklärenden Zusatzvokabeln zu schmücken, ist allerdings der Masse der deutschen Weinbereiter seit je ein Ärgernis. Verdrossen zieht das Verbandsblatt »Deutsche Wein-Zeitung« fast in jeder Ausgabe gegen die »Naturwein-Psychose« und den »seit Jahrzehnten hochgezüchteten Naturweingedanken« zu Felde, und der Weinbauer und SPD-Landtagsabgeordnete von Rheinland-Pfalz Johann Beckenbach aus Framersheim bei Alzey schimpfte: »Die weingesetzliche Situation ist vorn Weinwirtschaftsstandpunkt aus widernatürlich. Wir haben schon vor vier Jahren versucht, der Bundesregierung die Gesetzesänderung unterzuschieben, die wir vom Weinbau für richtig halten. Aber die haben da einen Naturweinkomplex.«

Was Winzer und Weinhändler den Bonnern unterschieben wollten, war offenbar die Aufweichung des Rechts auf Reinheits-Deklarierung. Dabei mögen sie sich nicht zuletzt von einem für sie nützlichen, indes für den Verbraucher mißlichen Umstand haben leiten lassen: Die Verbraucher können nicht erkennen, ob ein Wein mit Zuckerwasser verbessert wurde oder nicht. ( Nicht einmal die Wissenschaftler verfügen über ein sicheres Mittel, einen solchen Nachweis zu erbringen.) Lediglich in jahrzehntelangem Weintrinken erfahrene Experten sind imstande, mit Zunge und Nase (organoleptische Probe) den Zuckerwasserzusatz aufzuspüren.

Wie fragwürdig selbst diese Methode ist, bewies indes der (1958 verurteilte) Kunstweinmacher Valentin Korn aus Geisenheim, der seine als »Niersteiner Domtal«, »Sankt Johanner Klostergarten« oder »Sprendlinger Wiesberg« deklarierten Produkte mit Expertisen schmücken konnte, die edle Naturreinheit bescheinigten.

Wie die Zuckerwassertaufe, so darf auch der Gärungsstopp dem Weintrinker gegenüber verschwiegen werden. Ein künstlich restgesüßtes Getränk kann etwa unter »Oppenheimer Goldberg« ("harmonisch, fein"), »Oestricher Magdalenenweinberg« ("feine Art"), »Binger Rosengarten« ("lieblich, ansprechende Art") ebenso firmieren wie unter »Burgkellerwein« ("markant, fein abgestimmt") und Tausenden von ähnlich klangvollen Namen.

Zwar hat der Gesetzgeber den Versuch unternommen, die Weinsüßer wenigstens in einem Sonderfall zum Etikett-Bekenntnis zu zwingen. In seiner Ausführungsverordnung zum Weingesetz aus dem Jahre 1932 hat er verlangt, daß der künstlich gestoppte Wein das Aushängeschild »Wachstum« nur tragen darf, wenn »er zugleich eine auf diese Behandlung deutlich hinweisende Beziehung (Mit Filter entkeimt) trägt«.

In der Praxis tauchten solche Entkeimungs-Etiketts allerdings so selten auf, daß sich selbst Weinbauminister Oskar Stübinger erst durch Nachschlagen von der Existenz einer solchen Gebotsvorschrift überzeugen mußte.

Ein Referent seines Ministeriums, der Regierungsdirektor Dr. Renz, war es, der das Dilemma des deutschen Weinrechts diagnostizierte: »Wir erleben auf dem Gebiet des Weinrechts die merkwürdige Erscheinung, daß die Wirtschaft, die ansonsten doch in allem der vorwärtsdrängende Motor der Dinge zu sein pflegt, in puncto Weingesetz auf der Stelle tritt.«

So machte sich Regierungsdirektor Renz selbst daran, konkrete Vorschläge zur Gesetzesreform auszuarbeiten. Er fertigte einen »Referentenentwurf einer Novelle zum Weingesetz«, die »den Trinkweinmarkt von den Mengen anonymer Massenerzeugnisse freistellen« und für die Winzer die Anreize eliminieren sollte, »zugunsten der Quantität die Qualität zu vernachlässigen«.

Weinbaukenner Renz weiß aus Erfahrung: »Vielfach ist es aber leider so, daß das Streben nach Menge sich nicht danach richtet, ob ein Wein noch trinkbar ist, sondern es wird eine möglichst große Menge ohne Rücksicht auf einen inhaltlichen Wert erzeugt.«

Die entscheidenden Forderungen des Regierungsdirektors waren:

- Moste, die weniger als ein natürliches Mostgewicht von 55 Grad Oechsle* aufweisen, dürfen nicht zu Trinkwein verarbeitet werden.

- Die Zuckerwassertaufe ist drastisch

einzuschränken.

- Spätlesen und Auslesen dürfen nicht verschnitten und müssen eine bestimmte Mindestzeit gelagert werden.

- Mit einer Lagebezeichnung darf nur ein Wein versehen werden, der qualitativ beträchtlich höher steht als der Durchschnitt aller Weine der betreffenden Gemeinde.

Als die Winzer freilich vernahmen, zu welchen Qualitätsverbesserungen sie gezwungen werden sollten, machten sie sich eilends daran, die Reformbemühungen des Mainzer Regierungsdirektors zu torpedieren. Vor allem der Weinbauverband Mosel-Saar-Ruwer - leitete eine Kampagne gegen den Referentenentwurf ein und verdammte ihn als »unklug«.

»Der Verband«, verkündete der Verbandsvorsitzende Tyrell, »wird sich auch in Zukunft gegen alle Reglementierungen wehren, die den besonderen Belangen des nördlichsten größten Weinbaugebietes, das das Weinbaugebiet mit einem 90prozentigen Riesling-Qualitätsanbau darstellt, nicht Rechnung tragen.«

Sei es, daß sich der Renz-Vorgesetzte, der Weinbauminister Stübinger, von der Erinnerung an den Winzeraufstand von Bernkastel leiten ließ (1926 stürmten 5000 Moselwinzer das Finanzamt des Moselortes und brachten dadurch die damals bestehende Weinsteuer zu Fall), sei es, daß es ihm nicht opportun erschien, just im Wahljahr auf Winzerstimmen zu verzichten - der Entwurf des, Regierungsdirektors Renz gedieh nicht weiter.

Statt dessen ergriffen die Winzer selbst die Gesetzes-Initiative. Ihre Verbandsfunktionäre vermochten 39 CDU-Abgeordnete zu bewegen, im Bundestag ein protektionistisch eingefärbtes Weinwirtschaftsgesetz einzubringen, das in der letzten Parlamentssitzung vor den Wahlen, am 30. Juni, verabschiedet und am Freitag letzter Woche auch vom Bundesrat angenommen wurde.

Zwar wollen die deutschen Winzer danach eine Anbaubeschränkung auf sich nehmen und es sich fortan versagen; Reben auf Grundstücken anzupflanzen, »die für die Erzeugung von Wein ungeeignet sind«. Doch diese Selbstbeschränkung gilt nur für künftige Junganlagen und setzt die Weinbauern nicht der Unbill aus, ihre nach dem Karlsruher Verfassungsspruch (l958) auf minderwertige Böden ausgedehnten Rebgärten zu roden.

Dieses bescheidene Zugeständnis haben sie sich zudem vom Gesetzgeber teuer honorieren lassen. Denn der Bundestag hat zugleich zugestanden, daß

- ein »Stabilisierungsfonds« eingerichtet wird, der überschüssigen Konsumwein übernehmen, lagern und notfalls auch verwerten soll, und

- Vergleichspreise (Mindestpreise) für Konsumweine festgesetzt werden können - mit der Maßgabe, daß die Einfuhr ausländischer Weine gestoppt oder eingeschränkt werden kann, wenn die Mindestpreise für die eigenen Erzeugnisse unterschritten werden.

»Die Winzer«, hatte die »Süddeutsche Zeitung« bereits vor der Beschlußfassung des Bundestags resümiert, »demonstrieren also in diesem Gesetzentwurf - ebenso wie bei der Landtagswahl durch ihre Stimmabgabe für die Deutsche Reichspartei - eine weltanschauliche Kehrtwendung zum autarken Nationalstaat, der seine Bürger gegen alle fremdländischen Einflüsse schützt, wie etwa freie Einfuhren aus den EWG-Ländern.«

Zudem bedrängen die Winzer den Weinbauminister Stübinger, er möge bei den EWG-Partnern oder beim Internationalen Weinamt dafür sorgen, daß dem deutschen Wein die Einordnung in ein internationales Wertsystem nach französischem Muster erspart bleibt.

Die Gründe für dieses Bestreben sind dem Weinbauminister wohl bekannt. Stübinger: »Nach dem internationalen System wären nur zehn Prozent der deutschen Weine Spitzenklasse.«

* Traubenmaische ist das zerstampfte oder gemahlene Traubengut, aus dem der Most gewonnen wird.

* In Deutschland angebaute Weißwein-Rebsorten: Riesling (an Rhein und Mosel vorherrschend), Silvaner (Rheinhessen, Franken), Rulander (Baden-württemberg), Traminer (Pfalz, Baden-Württemberg), Müller-Thurgau-Rebe (Kreuzung zwischen Riesling und Silvaner). Rotwein-Rebsorten: Blauer Spätburgunder, Frühburgunder, Portugieser, Trollinger, Schwarzriesling.

* Cabinetwein ist eine von der Herzoglich -Nassauischen Domänenverwaltung um das Jahr 1806 eingeführte Bezeichnung für ausgesuchte Spitzenweine, die in kleinen, besonderen Kellerräumen (Cabinete) gelagert wurden.

* Mit der von dem Pforzheimer Goldschmied Ferdinand Oechsle erfundenen Mostwaage wird der Zuckergehalt des Traubensaftes gemessen.

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