SCHRIFTSTELLER / MARQUIS DE SADE Die Natur, dieses Tier
Napoleon, so berichtet sein Sekretär de las Cases, entrüstete sich auf Sankt Helena über die Verwilderung der Pariser Sitten und erwähnte dabei ein Buch, das als »schmutzigstes und widerlichstes« Produkt einer total verderbten Phantasie zu gelten habe.
Der Korse sprach von der 1797 unter dem Titel »La Nouvelle Justine« anonym erschienenen vierten Fassung des Romans »Justine«, in dem die Tugend bestraft, sowie von der Fortsetzung »Juliette«, in der das Laster belohnt wird.
Wegen der Neuveröffentlichung dieser Werke wurde ihr Verfasser, der Marquis de Sade, 1801 erneut inhaftiert – wegen verschiedener Sittenskandale und wegen politischer Unzuverlässigkeit hatte er schon früher fast 15 Jahre in den Kerkern der Monarchie und der Revolution verbracht. 1803 wurde er in die Pariser Irrenanstalt Charenton überführt; spätere Verfügungen, ihn dort festzuhalten, tragen die Unterschrift Napoleons.
Das Urteil Bonapartes über seinen Zeitgenossen Sade, der ihm an universeller Berühmtheit kaum nachsteht, gilt heute noch immer, wenn auch nicht im Sinne eines konventionell moralischen Verdikts. In der Darstellung menschlicher Abgründe steht Sade in der Weltliteratur, obwohl er sie nachhaltig beeinflußt hat, allein.
»Man darf behaupten«, schrieb der französische Sade-Deuter Maurice Blanchot, »daß es zu keiner Zeit, in keiner Literatur ein so skandalöses Werk gegeben hat.« Sade selbst glaubte, über die Natur des Menschen, die ihn dazu treibe, mit Lust Böses zu tun, erschöpfend Auskunft gegeben zu haben. Sein Fragment »Die 120 Tage von Sodom« nannte er stolz die »unreinste Erzählung ... seit Anbeginn der Welt«.
1886 wählte der deutsche Psychiater Richard Freiherr von Krafft-Ebing ("Psychopathia sexualis") den Namen Sades zur Bezeichnung einer sexuellen Empfindung, »die sich mit dem Wunsche, Schmerz zu verursachen oder Gewalt anzuwenden« verbindet – der Begriff »Sadismus«, von Sigmund Freud aufgenommen, hat den Namen des literarischen Erzbösewichts Sade ein für allemal konserviert und popularisiert. Dem Zeitungsleser des 20. Jahrhunderts, dem die Lustmörder täglich erscheinen - vom hannoverschen Knaben-Schlächter Haarmann über den Kölner Mädchen-Töter Strack bis zum schottischen »Moormörder« (und Sade-Leser) Brady –, den Zeitgenossen der Boger und Kaduk schließlich, dem Publikum, das über einen Jürgen Bartsch ausführlich informiert und über einen James Bond ausnehmend amüsiert ist, wurde der Begriff – und das hat der Marquis nun freilich nicht verdient – zum schaurigen Gemeinplatz*.
Dennoch – und trotz des großen Sade-Einflusses auf Schriftsteller wie Flaubert, Baudelaire, Lautréamont, Shelley, Swinburne oder Huysmans, trotz Sades Nachwirkung in der sogenannten Schwarzen Romantik des 19. Jahrhunderts – blieb der Marquis eine im Halbdunkel modriger Kerker und morbider Legenden zerfließende Schemengestalt, der die Biographen nur mühsam menschliche Züge verliehen.
Schon zu Lebzeiten Sades wurden seine Manuskripte und Briefe immer wieder entwendet und vernichtet, nach seinem Tode (1814) öffentlich verbrannt. Seine Bücher waren die meiste Zeit nur unterm Ladentisch erhältlich. So kam es, daß der französische Sade-Forscher Maurice Heine konstatieren konnte: »Unter den Schriftstellern, von denen man am meisten spricht, gehört Sade zu denen, die man am wenigsten kennt.«
Dafür, daß auch die Deutschen diese dunkelgraueste Eminenz aller neueren Sex-Kunst bis hinab zum Horror-Film und Comic strip, endlich gründlich kennenlernen, wird neuerdings gut (und meistens teuer) gesorgt:
‣ Der Hamburger Merlin-Verlag veröffentlichte kürzlich den dritten Band ausgewählter Sade-Werke und schloß damit die bislang umfassendste deutsche Sade-Ausgabe ab. Preis der drei Bände: 237 Mark.
‣ Der Münchner Desch-Verlag brachte einen mit zeitgenössischen Illustrationen bebilderten Sade-Digest heraus (38 Mark).
‣ Der Berliner Gerhardt-Verlag will die 15bändige französische Sade-Gesamtausgabe in zwölf Bänden zu je 40 bis 45 Mark für Deutschland adaptieren und außerdem fünf oder sechs Luxusbände mit moderner Originalgraphik anreichern. Preis je Band: 500 bis 2000 Mark.
Schon früher sind Bücher von Geoffrey Gorer ("Marquis de Sade, Schicksal und Gedanke«, 1959), Gilbert Lely ("Leben und Werk des Marquis de Sade«, 1961), Norman Gear ("Dämon Marquis de Sade«, 1964) und Simone de Beauvoir ("Soll man de Sade verbrennen?«, 1964) über Sade in Deutschland erschienen. Ausgewählte Sade-Briefe und Sade-Erzählungen, allerdings kaum anstößige, sind in mehreren Taschenbüchern zugänglich. (In den USA gibt es Sade jetzt sogar »ungereinigt« im Paperback.) Bei Rowohlt erschien 1965 eine Sade-Taschenbuchmonographie. Der »Untugendbold« Sade, spöttelte der Kritiker Hans Daiber in der Kulturzeitschrift »Forum«, sei in der saturierten und nach Libertinage (zumindest nach Ersatz-Sex in Wort und Bild) lüsternen Bundesrepublik schon fast zum »Volksschriftsteller« avanciert.
Wer sich ein Bild vom »Göttlichen Marquis« machen will, ist jedenfalls nicht etwa nur auf die vielgerühmte Sade-Verkörperung durch den Schauspieler Ernst Schröder im Marat-Sade-Stück des Peter Weiss angewiesen**.
Ein authentisches Abbild des Marquis ist jedoch nicht erhalten, und die Hinweise auf sein Äußeres sind spärlich. Gesichert erscheint: Er hatte blaue Augen, blondes Haar, einen kleinen Mund und neigte zur Korpulenz. Die Angaben über seine Körpergröße schwanken zwischen 1,60 und 1,68 Meter.
Spärlich sind auch die Quellen, die über die Kindheit Sades Auskunft geben. Sie bestehen im wesentlichen aus der Geburtsurkunde und einigen autobiographischen Passagen im Sade-Roman »Aline und Valcour«. Sie reichen jedenfalls nicht aus, schlüssig – etwa nach psychoanalytischer Methode – zu erklären, warum Sade zum Sadisten wurde, warum beispielsweise in seinen Werken vor allem die mütterliche Frau gemartert und verhöhnt wird.
Der fettleibige Unhold Gernande im Roman »Justine«, nach Simone de Beauvoir ein Selbstporträt Sades, rechnet die Frauen zu den »Haustieren«, die nur nach der »Gebrauchsanweisung der Natur« behandelt – und das heißt auch: gemetzelt – werden sollten. Gernande: »Habe ich etwa Mitleid mit meinem Suppenhuhn?«
Der Libertin und Literat, der Perverse und der Pornograph, der philosophische, und politische Schriftsteller Sade ist noch und noch gedeutet worden – verständig und verstiegen. Der französische Schriftsteller Pierre Klossowski sah in dem Marquis eine Art von christlichem Häretiker – die Existentialistin Simone de Beauvoir spottete darüber: »Man bedient sich heute gern des Sophismus, daß Gott angreifen ihn bestätigen heiße...«
Der Engländer Gorer sprach Sade »konstruktives politisches Denken« zu und nannte ihn einen der ersten »konsequenten Sozialisten« – dagegen Albert Camus: »Sade kannte nur eine Logik, die der Gefühle. Er hat keine Philosophie begründet, sondern ist den monströsen Träumereien eines Verfolgten nachgegangen.«
Aus den sexuellen Wach- und Wunschträumen des eingekerkerten, frustrierten Lebemanns, der ohnehin von einer übererregbaren Phantasie geplagt wurde, entstanden Sades monströse Sex-Sagen. Der Einzelhäftling schrieb an seine Frau (und meinte die ihm feindliche Gesellschaft): »Ihr habt mich gezwungen, Wunschbilder zu gestalten, ich werde sie verwirklichen müssen.«
Die jahrhundertlange Ächtung des Sade-Werks durch die bürgerliche Gesellschaft und die offizielle Literaturhistorik hat schließlich – vor allem in Frankreich – eine betont bürgerschreckliche Sade-Vergötzung provoziert. Das Signal gab 1909 der Dichter Guillaume Apollinaire: »Dieser Mann (Sade), der nichts zu gelten schien während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts, könnte gut das zwanzigste beherrschen.«
Für den verdienstvollen, aber verschwärmten französischen Sade-Biographen Lely ist fast jedes Sade-Werk »ein Meisterwerk«. Für den amerikanischen Literaturkritiker Edmund Wilson ist fast das ganze Sade-Oeuvre ein sich immer wiederholender und darum oft ermüdender Versuch des Autors, die eigene Abartigkeit durch philosophische Konstruktionen zu rechtfertigen.
Sades Bücher, urteilt Wilson, »sind von psychiatrischem Interesse und stellenweise von haßvergifteter Kraft, aber sie gehören sicherlich zu den Kuriositäten, nicht zu den Meisterwerken der Weltliteratur«. Im übrigen, konstatiert der Amerikaner, sei die Lebensgeschichte des Marquis »in mancher Beziehung interessanter als sein Werk«.
Sades Familie, alter provenzalischer Adel, stammte aus Avignon. Sein Vater diente Frankreich als Diplomat am russischen Hof, in London und Köln. Seine Mutter, Verwandte und Ehrendame einer Prinzessin Condé, wohnte im Pariser Stadtpalais der Condés. Dort wurde ihr einziges Kind, Donatien-Alphonse-François de Sade, am 2. Juni 1740 geboren.
Als die Mutter den Vater auf eine Auslandsreise begleitete, kam Donatien zu einer Großmutter, die den Knaben hemmungslos verwöhnte. Sades Romanheld Valcour beklagt, Sade-autobiographisch, er sei als Kind vom Luxus und Hochmut seiner Umgebung verdorben worden, man habe von früh an seine Eitelkeit angestachelt und ihn dadurch herrschsüchtig und jähzornig gemacht.
Mit sechs Jahren kam Sade in die Obhut eines Onkels, des Abbé Jacques de Sade. Der mit Voltaire befreundete, als ebenso gelehrt wie lasterhaft renommierte Kleriker erzog seinen Neffen bis zu dessen Eintritt in das Pariser Jesuiten-Kolleg Louis-le-Grand.
Schon als 14jähriger ist der Marquis de Sade Zögling einer Kavallerie-Schule; 17jährig nimmt er als Kornett am Siebenjährigen Krieg in Deutschland teil; als 19jähriger berichtet er in einem Brief von »Lustpartien« während eines Urlaubs in Paris. Mit 23 Jahren hat sich der Jesuitenzögling als Libertin fest etabliert, er unterhält in und bei Paris mehrere »petites maisons«, private Absteigequartiere, sein schlechter Ruf ist ihm sicher.
Im selben Jahr 1763 wird er verehelicht und zum erstenmal eingesperrt. Auf Wunsch seines verschuldeten Vaters heiratet der Marquis ein Mädchen aus niederem Adel, aber reichem Hause: Renée-Pélagie de Montreuil, Tochter des Pariser Steuergerichtspräsidenten. Sie brachte eine stattliche Mitgift ein, war jedoch äußerlich wenig anziehend.
Fünf Monate nach der Hochzeit – die Marquise war schwanger (Sade hatte mit ihr drei Kinder) – wird der Marquis wegen eines Exzesses in Paris verhaftet. Er sitzt 15 Tage im Gefängnis von Vincennes, dann erwirkt seine Familie die Freilassung.
Von da an ist Sades Leben eine Kette von Skandalen und Inhaftierungen. Von da an wird er auch beschattet: Der Pariser Polizei-Inspektor Marais beobachtet und verfolgt ihn mehrere Jahre lang. Marais kann bald »neue Nachrichten über Greuel des Marquis de Sade« melden.
1765, während seine Gattin sich auf einem Schloß ihrer Eltern in der Normandie aufhält, zelebriert der Marquis mit einer Geliebten auf seinem Stammschloß La Coste in der Provence Theateraufführungen und ausschweifende Feste. Die adligen Gäste sind ganz zwanglos: Von den »Altären der Liebe«, so schwärmt Sade-Biograph Lely, seien »die Opferdüfte der Lust« aufgestiegen.
Am Ostersonntag des Jahres 1768 spricht der Marquis auf der Straße in Paris die 36jährige Witwe und Bettlerin Rose Keller an und nimmt sie in eines seiner Liebesnester mit. Er fesselt sie auf einem Kanapee und peitscht sie mit Gerte und Knotenstrick. Die Frau, die um ihr Leben bangt, fleht um Schonung, da sie die Osterbeichte noch nicht abgelegt habe. Sade antwortet, er selbst werde ihr die Beichte abnehmen, peitscht weiter, stößt – so Rose Keller später – »schrille und schreckliche Schreie« aus und löst dann die Fesseln. Er bringt der Gemarterten Wasser und Handtuch, serviert ihr Brot, Suppe und Wein und verspricht, sie bei Anbruch der Dunkelheit freizulassen. Mit Hilfe zweier zusammengeknoteter Bettücher kann sie sich in den Garten abseilen und entfliehen.
Rose Keller reichte Klage ein. Der Gerichtsarzt konstatierte bei ihr Hautabschürfungen und Prellungen. Spuren weiterer Mißhandlungen mit einem Messer und mit heißem Siegellack wurden nicht festgestellt. Dennoch horrifizierte die Phantasie seiner Zeitgenossen den Marquis von nun an zu einem Über-Blaubart. Sades Kollege und Feind, der erotische Schriftsteller Restif de la Brétonne, behauptete in seinen »Pariser Nächten«, Sade habe sich gerade angeschickt, den Körper der Keller zu zerstückeln, als es ihr dennoch gelang zu entfliehen. Daß die Keller-Keile an einem Ostersonntag stattfand, wurde als Blasphemie auf die Geißelung Christi ausgelegt.
Daß Sade aus dieser Affäre noch glimpflich herauskam, verdankte er seiner Schwiegermutter, Madame de Montreuil. Die »Présidente«, die über einflußreiche Beziehungen zum französischen Hof verfügte, bestach Rose Keller mit einem Schmerzensgeld, ihre Klage zurückzuziehen, und bewog Ludwig XV., den Marquis zu begnadigen.
»Warum so viel Lärm wegen eines versohlten Hinterns?« fragte Sade-Forscher Heine in seiner Analyse des Keller-Falles, die 1933 im Pariser »Jahrbuch für Gerichtsmedizin« erschien. Heines Antwort: Sade war nur der Sündenbock für viele straflos gebliebene fürstliche Lüstlinge seiner Zeit, die ebenfalls blutige Orgien zu feiern pflegten. Er schockierte die an sich ebenso libertinistische Gesellschaft, weil er seine Ausschweifungen kaum verheimlichte oder sich sogar zu ihnen bekannte und damit gegen die Spielregeln des »ancien régime« verstieß. Die öffentliche Meinung verlangte nach einem Exempel – an Sade sollte es statuiert werden.
Vier Jahre später kam der nächste Streich. Sade und sein Diener Latour vergnügten sich in Marseille mit vier Prostituierten in verschiedenen »Arrangements«. Nach Aussage der Mädchen soll Sade ihnen »sodomitische« Wünsche angetragen haben; zwischen Sade und seinem Diener sei es zu solchen Praktiken gekommen***.
Die Dirnen wurden von Sade, der nach der Keller-Affäre in diesem Punkt offenbar Zurückhaltung übte, nur »leicht« geschlagen. Sie ihrerseits lehnten seinen Wunsch ab, ihn mit einer Nagelpeitsche zu züchtigen. Gegen den Gebrauch eines konventionellen Besenstiels hatten sie indes nichts einzuwenden. Nach den Merkziffern, die Sade selbst an die Wand malte, soll er über 800 Besenstreiche genossen haben.
Der Sadomasochist bot den Mädchen Bonbons an, die Kantharidin enthielten, ein nach einer Käferart, der »Spanischen Fliege«, benanntes Aphrodisiakum. Nur eines der Mädchen aß davon – und beklagte sich über Magenbeschwerden. Sade wiederholte das Experiment mit einer fünften Prostituierten, die mehrere der Lust-Bonbons lutschte: auch sie zeigte nicht die von Sade erhoffte Wirkung, erkrankte aber ernstlich.
Die Mädchen erstatteten Anzeige. Sade und sein Diener wurden wegen versuchten Giftmordes und wegen des »antiphysischen« Lasters der »Sodomie« vom Gericht in Aix zum Tode verurteilt – in Abwesenheit. Auf einem öffentlichen Platz von Aix wurde wenige Tage später das Urteil vollstreckt – »in effigie«, symbolisch.
Denn der Marquis war inzwischen nach Italien entflohen, und zwar in Gesellschaft seiner Schwägerin Anne-Prospére.
Sade hatte die um sechs Jahre jüngere und schönere Schwester seiner Frau schon bei seinem ersten Besuch im Haus der Familie Montreuil kennengelernt. Er verliebte sich sofort in sie. Wenige Monate vor dem Kantharidin-Skandal brachte die Marquise de Sade ihre Schwester, die in einem Kloster erzogen worden war, auf das Schloß La Coste mit, wo der Marquis gerade zum erstenmal ein Theaterstück hatte aufführen lassen.
Ob Sades Frau von der bald angebahnten Liaison ihres Mannes zu ihrer Schwester gewußt hat, ist ungewiß. Tatsache ist, daß sie auch andere Affären des Marquis hingenommen und bei manchen Exzessen auf La Coste sogar mitgewirkt hat. Ältere Sade-Biographen haben sie zu einer »Heiligen der Ehe« verklärt, später ist sie als charakterschwach-unterwürfig und sogar als Masochistin gedeutet worden. Jedenfalls hat sie ihrem Mann nach seinem Marseiller Sex-Skandal als Fluchthelferin beigestanden. Sade konnte – mit seiner Geliebten Anne-Prospére – drei Monate in Italien untertauchen.
Die Affäre mit der Schwägerin fügt dem Sitten-Dossier des Marquis eine eher romantische Note hinzu. Maurice Heine nennt die schöne und lebenshungrige, aber zur Melancholie neigende Anne-Prospére das »perfekte Produkt einer halb-mondänen und halb-religiösen Erziehung«. Sie starb unverehelicht wenige Jahre später an den Pocken.
Für die »Présidente« de Montreuil aber war die Entehrung ihrer zweiten Tochter durch den Marquis ein unwiderruflicher Affront. Von jetzt an war sie nur noch bemüht, den schrecklichen Schwiegersohn unschädlich zu machen.
Dank ihrer Beziehungen gelang es Madame de Montreuil, den flüchtigen Sade in Savoyen verhaften zu lassen. Nach vier Monaten Festungshaft konnte er jedoch durch ein Latrinenfenster entweichen und kehrte auf sein Schloß zurück. Die Schwiegermutter gab sich versöhnlich, erwirkte insgeheim aber einen Haftbefehl und finanzierte eine Polizei-Aktion. Sade entging den Gendarmen, die nachts in La Coste einstiegen, im letzten Augenblick.
Nach einigen Wochen, in denen er sich versteckt hielt, kam der Marquis wieder nach La Coste. Eine Zeitlang führte er sich scheinbar manierlich auf, dann war der nächste Skandal fällig. Und diesmal war seine Frau mit im Spiel: Sie half, fünf minderjährige Mädchen und einen knabenhaften »Sekretär« aufs Schloß zu engagieren: eine »Vermittlerin« mit Namen Nanon wurde als Kammerzofe angestellt. Sade walkte die Mädchen kräftig durch, wobei der Sekretär, wie es nach einer galanten Floskel heißt, die »Flötenpartie« zu spielen hatte.
Madame de Sade, die zugeschaut haben soll, versuchte später mit allen Mitteln, den neuen Skandal zu ersticken. Sie ließ die malträtierten Mädchen in Klöstern unterbringen; eines der Opfer mußte der Abbé de Sade in seinem Schloß verstecken. Die Zofe Nanon, die ein Kind erwartete und zu reden begann, wurde von der Marquise als Diebin verleumdet und verschwand für einige Zeit im Gefängnis.
Sade entzog sich der Verhaftung durch eine zweite Italienreise. Nach seiner Rückkehr begab er sich nach Paris. Dort wurde er am 13. Februar 1777 von seinem alten Aufpasser Marais gestellt und festgenommen – aufgrund einer »Lettre de cachet«, eines mit dem Siegel König Ludwigs XVI. (Ludwig XV. war 1774 gestorben) versehenen Haftbefehls, der die willkürliche Einsperrung des Delinquenten ohne Prozeß gestattete.
Sades Schwiegermutter behauptete ihrer Tochter gegenüber, daß sie die Verhaftung nicht veranlaßt habe, da sie »eines solchen Verrats« nicht fähig sei. In einem Brief an den Notar Gaufridy, der Sades mehr und mehr verschuldeten Besitz verwaltete, äußerte sich die »Présidente« jedoch auf andere Weise: »Es war Zeit!«
In den 16 Monaten, die Sade auf der Zwingburg Vincennes verbrachte, bevor er dem Berufungsgericht in Aix vorgeführt wurde, versuchte Madame de Montreuil beständig, ihren Schwiegersohn davon zu überzeugen, die beste Lösung sei, sich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Sade lehnte das Ansinnen ab. In Briefen an seine Frau nannte er die Schwiegermutter fortan »die Hyäne«.
Ludwig XVI. entsprach schließlich einem Bittgesuch Sades und ordnete eine Revisionsverhandlung an. Nach dreiwöchiger Prozeßdauer wurde Sade freigesprochen – die Sicherungsverwahrung blieb in Kraft; Sade sollte nach dem Plan seiner Schwiegermutter auf Lebenszeit eingekerkert bleiben.
Auf dem Transport von Aix nach Vincennes gelang es dem Gefangenen noch einmal, zu entfliehen. Fünf Wochen später holte Inspektor Marais den Marquis auf La Coste nachts aus dem Bett, hielt ihm die Faust unter die Nase und rief: »Komm, du komischer Wicht!« Sade kam in Fesseln wieder nach Vincennes.
Das war, im August 1778, der Beginn einer über elfjährigen Gefangenschaft. Sie deformierte den Menschen Sade endgültig, sie machte ihn zum literarischen Unhold, sie wurde – vorläufig – beendet erst durch die Französische Revolution.
Schon aus der früheren Kerkerhaft hatte der Marquis in einem Brief geklagt: »Der Verlust der Freiheit ist für einen sensiblen Menschen jener Gemütsart, wie sie mir die Natur geschenkt hat, eine nicht zu überbietende Marter.«
Nach weiteren Monaten in den Verliesen von Vincennes hatten ihn die Entbehrungen und Erniedrigungen der Haft, vor allem aber die totale Isolierung und die Ungewißheit über sein ferneres Schicksal in einen Zustand permanenter Erregung versetzt. Er hatte Anfälle von Jähzorn und suchte in den Briefen seiner Frau nach »Zeichen«, nach Zahlensymbolen, aus denen sich etwa die Dauer seiner Haft berechnen ließe. Kam er mit seinen Kombinationen nicht zu Rande, so vermutete er, daß seine Schwiegermutter absichtlich falsche Zahlen eingefügt hätte, um ihn zu demoralisieren.
Im Mai 1780 schrieb Sade seiner Frau, daß er den Inhalt gewisser Manuskripte, die sich in einem Geheimfach auf La Coste befunden hätten und jetzt wohl in den Händen seiner Schwiegermutter seien, aus dem Gedächtnis rekonstruieren werde. Es handelte sich um die ersten Vorarbeiten zu Sades Hauptwerk, den fünf Jahre später geschriebenen »120 Tagen von Sodom«.
Auf seiner zweiten Italienreise hatte der Marquis zum erstenmal ein theoretisches Interesse an den Trieb-Anomalien bekundet, die ihm zu schaffen machten, und den Plan gefaßt, ein umfassendes Werk über die sexuellen Perversionen zu schreiben. In Rom beauftragte er einen sittenkundigen »kleinen Doktor«, für ihn einschlägige Literaturstellen und zeitgenössische »Anekdoten« zu sammeln. Sade selbst notierte vorwiegend, was ihm im Zusammenhang mit der Anklage in seinem Prozeß interessant erschien: Einzelheiten über Flagellation und »Sodomie«.
Die Bücher, die er im Gefängnis erhielt, waren zensiert. Es befanden sich kaum Werke darunter, die ihm – wie es in einem Polizeibericht hieß – »den Kopf erhitzen« konnten. Sade hatte die Philosophen der Aufklärung, so Diderot und Voltaire, schon vor seiner Inhaftierung gelesen. Über den Gefühlsschwärmer Rousseau, für den der Mensch von Natur aus gut war, machte er sich in Briefen lustig. Besonderes Interesse zeigte Sade dagegen für den Materialisten La Mettrie, dessen mechanistische Auffassung vom Menschen ("Der Mensch als Maschine") er ebenso teilte wie dessen Theorie vom Glücksstreben, das – unabhängig von Charakter und Tugend – allein von den Instinkten herzuleiten sei.
Unter Sades Büchern war auch der »Traktat über die Existenz Gottes« von dem klerikalen Denker Fénélon. Die Ideen Fénélons und La Mettries speisten einen atheistischen Essay, mit dem Sade in die Literatur eintrat: das 1782 im Gefängnis von Vincennes geschriebene »Gespräch zwischen einem Priester und einem Sterbenden« – der Sterbende »bekehrt« den Priester zur Libertinage.
Als Sade 1785 – nun in der Bastille einsitzend – die Niederschrift der »120 Tage von Sodom« begann, befand er sich in einem Zustand, den er selbst als moralischen »Isolismus« bezeichnete. Er erwartete von seiner Schwiegermutter keine menschliche Regung mehr, und auch das Verhältnis zu seiner Frau, die ihn in Vincennes wiederholt besucht und der er absurde Eifersuchtsszenen gemacht hatte, wurde kühler.
Der Einzelhäftling wußte, daß seine Kenntnis von den »bizarren Trieben der Natur« (Sade: »Die Natur, dieses Tier, von dem man spricht, ohne es zu kennen") sowie die Rechtfertigung, die er dem Menschen als Triebwesen gab, dem Zeitalter der Aufklärung mit seiner moralisch getünchten Vernunftgläubigkeit nicht mitteilbar war.
Die »120 Tage von Sodom« (Untertitel: »Die Schule der Libertinage") sollten aus vier Teilen bestehen. Sade arbeitete nur den ersten Teil fast vollständig aus, die restlichen drei Teile bestehen aus Notizen. Da der Autor zu Recht eine Entwendung oder Beschlagnahme seines Manuskripts befürchtete, fertigte er eine Kopie an: mit winziger Schrift auf einer elf Zentimeter breiten und nur etwa zwölf Meter langen Papierrolle, die er aus einzelnen Blättern zusammenklebte.
Am 4. Juli 1789, zehn Tage vor dem Sturm auf die Bastille, vor dem Ausbruch der Revolution, wurde der Marquis in die Irrenanstalt Charenton geschafft. Er hatte aus seinem Zellenfenster vorübergehenden Parisern rebellische Parolen zugerufen – durch ein mit einem Trichter versehenes Rohr, durch das er sonst in den Festungsgraben zu urinieren pflegte.
Sades Frau kümmerte sich trotz dringender Bitten ihres Mannes nicht um den Abtransport seiner Sachen; sie »aß, ging aufs Klosett, beichtete und schlief«, wie Sade später schrieb. Zusammen mit 15 Manuskript-Heften verschwand bei der Plünderung der Bastille am 14. Juli 1789 auch die Papierrolle, so daß Sade, der über sein Mißgeschick »blutige Tränen« weinte, sein Hauptwerk als verloren ansah.
Erst 90 Jahre nach dem Tode des Marquis kamen die »120 Tage von Sodom« ans Licht: Der Berliner Sexualforscher Iwan Bloch (Schriftstellername: Eugen Dühren) gab das Werk 1904 in der Originalsprache in einer Auflage von 125 Exemplaren heraus. Das Manuskript, jene verschollene Papierrolle, war nach der Plünderung in der Bastille gefunden und Ende des 19. Jahrhunderts für einen Liebhaberpreis nach Deutschland verkauft worden.
Hauptfiguren der »120 Tage von Sodom« sind vier monströse Playboys – ein Herzog, ein Bischof, ein hoher Richter und ein Steuerpächter –, die mit Hilfe von vier Kupplerinnen und acht »Bedienern« sechzehn Knaben und Mädchen, planmäßig geraubte »Lustobjekte«, in ein einsames Schloß im Schwarzwald bringen. Mit von der Party sind außerdem die Frauen der vier Libertins, vier Aufseherinnen, sechs Köchinnen und Dienerinnen.
Jede der Kupplerinnen muß jeweils einen Monat lang täglich fünf verschiedene Perversionen durch Erzählungen aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz erläutern. Mit den Lustobjekten werden die geschilderten Abartigkeiten – bis zu Folterung und Mord – oft sofort durchprobiert.
Die »120 Tage von Sodom« sind der beste Beleg für das Urteil Edmund Wilsons, Sades Bücher seien psychiatrisch interessant, literarisch jedoch eher kurios als meisterlich.
Nur die vier Lüstlinge und allenfalls die vier Kupplerinnen besitzen psychologische Realität, die anderen Mitglieder der geschlossenen Gesellschaft sind menschliche Gliederpuppen, denen der Herzog am Anfang einschärft: »Für die Welt schon gestorben, atmet ihr nur noch für unsere Lust... Denkt daran, daß wir euch keineswegs als menschliche Geschöpfe betrachten, sondern einzig als Tiere.«
Sades Hauptwerk ist von wahrhaft tierischem Ernst. Dem Zeitplan und dem kalkulierten Rhythmus der Erzählungen – »den Zustand des Verlangens bis zu einem gewissen geilen Grimm zu steigern« – entsprechen eine penible »Hausordnung« und ein orgiastisches Zeremoniell, dem sich die Schloßgesellschaft unterwirft. Während der Lasterverrichtung gilt »das geringste Lachen« als schwere Verfehlung, als eine »Profanierung«, die streng bestraft werden muß.
Sades pedantischer Laster-Katalog zeigt: Die Variationen sind bald erschöpft; um seine seelisch impotenten Libertins immer wieder zufriedenzustellen, muß der Autor immer kompliziertere und unwahrscheinlichere Formen von Lustfolter und Lustmord ersinnen.
Solchen »handfesten Übertreibungen« verdankt es Sade, daß ihn der französische Surrealisten-Papst André Breton in seine »Anthologie des Schwarzen Humors« aufnahm, doch es kann sich bei dieser Art von Blut-und-Hoden-Dichtung allenfalls um unfreiwilligen Humor gehandelt haben.
So ungenießbar sie als Werk der Belletristik ist (der Autor hat sie freilich auch weniger als Genußmittel denn als radikalste Herausforderung konzipiert), als Vor-Werk der Sexualwissenschaft ist Sades »Sodom«-Saga unerhört. Daß der Marquis aus Kenntnis und Phantasie bei den meisten Beschreibungen von Perversionen ins Schwarze traf, bestätigte die Universität Paris, als sie einer Dissertation des Pariser Arztes André Javelier das Imprimatur erteilte.
Dr. Javelier übersetzte in die moderne wissenschaftliche Terminologie, was der Autor der »120 Tage von Sodom« auf seine Weise vorformuliert hatte: In Sades kinderfreundlichen Mönchen etwa entdeckte er die »Pädophilen«, in einem Abartigen, der sich in Windeln wickeln läßt, einen Fall von »puerilem Metatropismus«. Er fand »Koprophile« (Exkremente-Liebhaber), »Koprophagen« (Exkremente-Esser) und »Autokoprophagen«.
Auch einige der Erkenntnisse Freuds über die Entwicklung der Libido und über die Ursprünge der Perversionen sind von Sade vorweggenommen worden. So notiert er beispielsweise in einem Entwurf zur Neufassung des »Justine«-Romans über die Inzest-Wünsche zweier Brüder: »Besonderheit der Familie: Ödipusfall«. Und Freuds These von der traumatischen Ursache der Neurosen findet sich schon bei Sade so: »Jeder kommt mit Anlagen zur Welt, die ihn für diese oder jene Anomalie empfänglich machen; die ersten wahrgenommenen Bilder und Worte bestimmen endgültig über die Richtung der Triebenergie.«
Sade hat viele seiner Beobachtungen zur Sexualität, die er schon in den »120 Tagen von Sodom« mitteilt, auch in seine späteren Werke eingefügt. Auf diese Weise wollte er die Entdeckungen seines verlorengeglaubten Hauptwerks retten. Vor allem nutzte er in diesem Sinne die beiden nach der Revolution geschriebenen erotischen Abenteuerromane »La Nouvelle Justine« und »Juliette«.
Der Doppelroman von den beiden ungleichen Schwestern ist Sades Entgegnung auf Rousseau und Voltaire: Dem zivilisierten Normalmenschen Voltaires und dem tugendsamen Naturmenschen Rousseaus stellt Sade den Instinktmenschen entgegen, der den Gesetzen der blind zerstörerischen Natur folgend, mit Genuß ohne Reue das Laster exerziert. Die unmoralische Juliette wird reich und glücklich, die moralfeste Jungfrau Justine wird vom Blitz erschlagen – denn sogar der Himmel, so will der Atheist Sade ironisch demonstrieren, ergreift die Partei des Lasters.
Die 1791 anonym erschienene Frühfassung »Justine oder das Unglück der Tugend« – schockierend in den beschriebenen Situationen, im Vokabular dagegen noch konventionell und vergleichsweise keusch – war ein Bestseller; sie durfte bis 1801 frei verkauft werden und erreichte sechs Auflagen. Sade indes leugnete hartnäckig, der Verfasser zu sein. Nach dem Verbot der »Justine« schrieb er scheinheilig in einem Brief: »Man klagt mich an, der Autor der infamen 'Justine' zu sein. Die Anklage ist falsch; ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist.«
Restif de la Brétonne veröffentlichte eine »Anti-Justine« und attackierte im Vorwort den »abscheulichen Sade«, für den die Liebe erst durch den Mord schön werde. »Mein Ziel dagegen«, schrieb Restif, »war ein Buch, in dem die Liebe nur in lachenden und wollüstigen Bildern erscheint.« (Das Liebespaar in Restifs »Anti-Justine« sind ein Vater und seine Tochter.)
Außer den »120 Tagen von Sodom« und der »Justine« hatte Sade im Gefängnis noch den »philosophischen« Reise-Roman »Aline und Valcour«, Novellen und Theaterstücke geschrieben. Veröffentlichen konnte der Marquis erst nach seiner Befreiung durch die Revolution.
Als Sade am Karfreitag des Jahres 1790 aufgrund einer Verfügung der Nationalversammlung, die alle »Lettres de cachet« aufhob, aus der Anstalt Charenton entlassen wurde, war er von insgesamt 13 Jahren Haft gesundheitlich zerrüttet und durch den Mangel an Bewegung »unmäßig dick« geworden. Die Freiheit erschreckte ihn, er fand sich nicht mehr zurecht. »Ich war den Menschen nie mehr abgeneigt, als gerade in jenem Augenblick, da ich zu ihnen zurückkehrte« – so beschrieb er seine misanthropischen Gefühle.
Der Ex-Häftling, der ohne Kommentar auf die Straße gesetzt worden war, begab sich zu seinem Pariser Advokaten, der ihm Essen, ein Bett und etwas Taschengeld anbot. Sades Frau, die sich in ein Kloster zurückgezogen hatte, weigerte sich, ihren Mann zu empfangen. Auf Drängen ihres Beichtvaters erwirkte sie nach wenigen Wochen die Scheidung. Sade wurde zur Zahlung jährlicher Unterhaltskosten verurteilt, die dem Zinsenertrag der Montreuil-Mitgift entsprachen. Die Marquise starb 1810.
Die Skandalchronik des Marquis endete mit einer kleinbürgerlichen Idylle. Ein halbes Jahr nach seiner Freilassung knüpfte der nun 50jährige eine Beziehung zu der mehr als 20 Jahre jüngeren verwitweten Schauspielerin Marie-Constance Quesnet an, die zusammen mit ihrem Sohn von einer kleinen Rente lebte. Sie sorgte aufopfernd für Sade und verhalf dem Dramenautor zu Theaterverbindungen. Sade nannte die empfindsame Seelenfreundin, mit der er in einer Pariser Mietwohnung lebte. »Sensible«; sie nannte ihn »Moses«.
Die Lage des verarmten Adligen war schwierig; die Situation des »cidevant Marquis«, des Ex-Barons, in der Republik war noch heikler. Sade mußte als guter Bürger und als Patriot erscheinen, er fühlte sich auch durchaus als Opfer des verhaßten ancien régime, doch die Exzesse der Revolution stießen ihn ab. Nach Ansicht des Sade-Deuters Klossowski sah der Individualsadist darin »ein abscheuliches Konkurrenz-Unternehmen«, das »seine Ideen ... deformierte«.
Zwar war er schon bald nach seiner Befreiung aktives Mitglied der »Section des Piques« geworden, einer revolutionären Ortsgruppe in Paris, und arbeitete an der Verbesserung der Zustände in den Pariser Krankenhäusern. Doch in Briefen nannte er die Jakobiner eine »Bande von Räubern«, die »abscheuliche Schreckenstaten« begangen hätten. Und seinem Vermögensverwalter Gaufridy, der ihn gebeten hatte, ihm seine wahre Gesinnung zu offenbaren, schrieb er:
»Ich bewundere den König; aber ich verabscheue die alten Mißbräuche. Manche Artikel der Verfassung finden meinen Beifall; andere empören mich ... Ich bin gegen eine Nationalversammlung, aber für ein Zweikammersystem wie in England, das dem König eine gemäßigte Autorität einräumt, die durch die Mitarbeit einer zweckmäßig in zwei Stände (Adel und Bürgertum) geteilten Nation ausgeglichen wird; der dritte Stand (der Klerus) ist überflüssig. Dies ist mein Glaubensbekenntnis. Was bin ich jetzt? Aristokrat oder Demokrat? ... ich selbst weiß es beim besten Willen nicht.«
Als Sade hörte, daß jakobinische Plünderer sein Schloß La Coste verwüstet hatten, tobte er: »Diese Lumpen ... werden ihr Regime bald hassenswert machen.« Aber zwei Wochen später schrieb er an Gaufridy, er habe keine »aristokratischen Prätentionen« mehr und sein auf zehn Jahre Bastille gegründeter republikanischer Patriotismus könne von niemandem in Frage gestellt werden.
Als Aktivist der »Section des Piques« verfaßte Sade revolutionäre Pamphlete. 1793 war er Präsident der Sektion und eine Art Volksrichter, der über die politische Zuverlässigkeit von Honoratioren des Alten Regimes zu entscheiden hatte. Das Schicksal seiner Erzfeindin, seiner Schwiegermutter Montreuil, und ihres Gatten lag jetzt in Sades Hand – er setzte sie auf die Liste der Unverdächtigen. »Hätte ich ein Wort gesagt«, schrieb er an Gaufridy, »wäre es ihnen übel ergangen. Ich habe geschwiegen. So räche ich mich.«
Auch anderen Verfolgten soll Sade geholfen haben; er weigerte sich mehrmals, »Menschenunwürdiges« zu tun. Seitdem galt er bei den Scharfmachern als »Gemäßigter«. Sein Prestige als Opfer des Alten Regimes konnte ihn nicht mehr lange schützen. Im Dezember 1793 wurde er als politisch Unzuverlässiger verhaftet und ins Gefängnis Madelonettes eingeliefert. Über zwei weitere Haft-Stationen kam er schließlich in die Anstalt Picpus, ein ehemaliges Kloster.
Im Garten der Anstalt wurde ein Massengrab für die Opfer der Guillotine ausgehoben. Es wurde, nach dem Zeugnis Sades, innerhalb eines Monats mit 1800 Leichen gefüllt. Sade, am 26. Juli 1794 vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt, entging der auf den nächsten Tag angesetzten Exekution nur dadurch, daß die Gerichtsdiener ihn in den zahlreichen Pariser Gefängnissen nicht rechtzeitig finden konnten. Einen Tag später wurden die Jakobiner Robespierre und Saint-Just gestürzt, wieder einen Tag später guillotiniert; die Schreckensherrschaft der »tugendhaften« Terroristen war zu Ende.
In seiner »Philosophie im Boudoir«, die der Marquis 1795, wenige Monate nach Entlassung aus der »nationalen Haft«, veröffentlichte, äußerte er seinen Abscheu gegen die Todesstrafe, den staatlichen, »gesetzlichen Mord«, während er zugleich den individuellen Mord aus Leidenschaft rechtfertigte.
Das in sieben Dialoge aufgeteilte Werk handelt von der libertinistischen Umerziehung einer sittsamen Jungfrau. Eingefügt ist ein gesellschaftsutopisches Pamphlet mit dem Titel: »Franzosen, eine weitere Anstrengung, wenn ihr Republikaner zu sein wünscht!« Sade wendet sich darin gegen die »falschen Götter« des Christentums und gegen die »geweihten Scharlatane« der Kirche, lehnt aber auch die republikanische Tugend-Vergottung, das »être suprême« (höchstes Wesen) des »berüchtigten Robespierre« als unnütz ab. Nur der Atheismus sei dem neuen republikanischen Menschen gemäß; und nur die moralische Verderbnis ihrer Bürger sei der Republik wahrhaft förderlich – als Humus für den »Geist der Auflehnung«.
Nach solchen Prämissen empfiehlt Sade einige neue »vortreffliche soziale Gebote": Die Prostitution solle propagiert, legalisiert und verstaatlicht werden; im Zuge der Gleichberechtigung sollten auch »ehrbare« Frauen an besonderen Orten »die Bedürfnisse ihres Temperaments« befriedigen können; die Familie sei zu zerstören, da ihre Interessen denen des Staates zuwiderliefen; der Inzest müsse in einem Staate, dessen Basis die »fraternité«, die Brüderlichkeit, sei, erlaubt sein; ebenso die Knabenliebe als ein durchaus patriotisch nützliches Laster – kriegerische Völker hätten sie stets geschätzt.
Der sophistisch-satirische Text hat die Sade-Interpreten immer wieder gereizt. Für Pierre Klossowski ist er eine »Utopie des Bösen«, die den tatsächlichen Entwicklungsmöglichkeiten der modernen Gesellschaft entspricht. Simone de Beauvoir urteilte, Sade träume von einer Idealgesellschaft, aus der ihn seine individuelle Eigen- und Abart nicht ausschließen würde.
Tatsächlich steht im Zentrum auch aller Sozial-Utopien Sades die Forderung nach sexueller Freiheit. In seinem Reiseroman »Aline und Valcour« entwirft er die Idylle des von einem weisen König gelenkten kommunistischen Südsee-Staates »Tamoé«, in dem die allgemeine Lasterhaftigkeit nicht durch Richter und Henker, sondern weitaus besser durch Erleichterung der Scheidung eingeschränkt werden konnte.
Im Gegensatz zum Roman »Aline und Valcour«, den er unter dem Autoren-Initial »S***« erscheinen ließ, verleugnete Sade die »Philosophie im Boudoir«, wie er »Justine« verleugnet hatte. Den Experten gab er sich dennoch durch eine makabre Mystifikation zu erkennen: Die »Philosophie« wurde als »posthumes Werk des Autors der 'Justine'« offeriert.
Die Lebensumstände des »Justine«-Autors hatten sich nach seiner Rettung vor der Guillotine nicht verbessert. 1799 war er an einem Tiefpunkt angelangt: Er hauste mit dem Sohn seiner Gefährtin Quesnet in einer Mansarde in Versailles und leistete für Hungerlöhne Hilfsdienste am Theater. Die »Sensible«, die bei Bekannten Obdach gefunden hatte, brachte den beiden das Essen. Im Januar des Jahres 1800 lag Sade im Versailler Krankenhaus, »vor Hunger und Kälte sterbend«.
Offenbar war es überwiegend Geldnot, was den Marquis drei Jahre zuvor veranlaßt hatte, seinen alten Bestseller »Justine« noch attraktiver neuzufassen und ihm eine ausschweifende Fortsetzung, »Juliette«, anzuhängen. Die »Neue Justine« und »Juliette«, so urteilte Gilbert Lely, seien Produkte einer »Spekulation des Buchhandels, die mit der allgemeinen Sittenverwilderung in der Epoche des Direktoriums rechnete«. Tatsächlich war diese Periode (1795 bis 1799) die einzige, in der die Werke Sades in Frankreich öffentlich verkauft werden konnten; unter Napoleon wurden sie wieder unterdrückt.
Maurice Heine analysierte die Unterschiede zwischen der »Justine« von 1791 und der mit über 100 obszönen Stichen illustrierten Version von 1797: »In der ersten Fassung ist es die Heldin selbst, die uns die Geschichte ihres Unglücks anvertraut . . . In der Fassung von 1797 wird die Erzählung sachlich: Justine ist das Wort entzogen worden. An die Stelle sanfter Klagen treten kraß obszöne Worte.« In der Fortsetzungs-Geschichte von Juliette, schrieb Heine, würden die Romanfiguren zu »entfesselten Geschlechtswesen ... die sich auf die Menge der Opfer stürzen«. Es war dieser Doppelroman von der bestraften Tugend und vom belohnten Laster, mit dem der Marquis die Literatur des 19. Jahrhunderts (das die »120 Tage von Sodom« noch nicht kannte) vor allem beeinflußte. Und es war vor allem seine gewissenlos-grausam genießende Heldin Juliette, die sich als vorbildlich erwies.
Sades Juliette verfügt über philosophische Bildung und wirtschaftlich planende Energie. Ihr geistreicher Zynismus erhitzt die belesenen Lüstlinge, mit denen sie Umgang hat, mindestens ebensosehr wie ihre Schönheit. »Oh, Juliette«, seufzt in Sades Roman der Papst Pius VI. wie eine sich ergebende Frau, »dein Geist besiegt meinen Willen, ich bin dein Sklave.«
Der englische Romantiker Charles Algernon Swinburne (1837 bis 1909), der als erster Dichter des 19. Jahrhunderts seine Beeinflussung durch Sade offen zugab, formulierte: »Einer der größten Reize des Durchpeitschens besteht in dem Gefühl des Gepeitschten, das machtlose Opfer der wütenden Raserei einer schönen Frau zu sein.«
Das Beispiel Juliettes stimulierte den schwarzromantisch-masochistischen Kult der dämonischen Frau bis hin zur »femme fatale«, die den Männern »am Kleinhirn knabbert« (Rémy de Gourmont), bis hin zum männermordenden »Vamp«, bis hinab zu der erotisierten Bolschewistin, die in einem Roman des französischen Schriftstellers Maurice Dekobra als »Marquise de Sade des roten Rußland« figuriert.
Eine positive Deutung erfuhr Sades Weibsteufel zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Guillaume Apollinaire sah in der tugendhaft-glücklosen Justine ein Beispiel für die »versklavte, miserable Frau von ehedem«, in der amoralisch erfolgreichen Juliette dagegen einen »Entwurf der ,femme nouvelle'«, der modernen emanzipierten Frau.
Sades Zeitgenossen bemerkten in der Schwestern-Saga nur den »Abscheu erregenden Buchstaben« (Apollinaire), die obszöne Provokation. Als Verfasser der »Justine« und der »Juliette« wurde der Marquis am 6. März 1801 (an der Macht war nun Napoleon) im Haus seines Verlegers Nicolas Massé verhaftet. Möglicherweise hat der Verleger selbst seinen Autor der Polizei ausgeliefert, um sich dadurch Straffreiheit zu erkaufen. Er führte die Polizisten zu einem Versteck, wo tausend »Juliette«-Exemplare lagerten. Sie wurden verbrannt, Massé blieb unbehelligt.
Für den Marquis war es die endgültig letzte Verhaftung seines Lebens. Ohne Gerichtsurteil wurde – er ins Staatsgefängnis Sainte-Pélagie gebracht, einige Wochen mußte er sogar in dem berüchtigten Kerker von Bicêtre, der »Bastille de la canaille«, sitzen. 1803 kam Sade, dem der Pariser Polizeipräfekt »libertinistische Demenz« bescheinigte, auf Betreiben seiner Familie in die Nervenheilanstalt Charenton.
Der humane Anstaltsdirektor Coulmier war nach Meinung Gilbert Lelys nahezu der einzige Zeitgenosse Sades, der »gewisse Aspekte seines Genies verstand«. Er erlaubte, daß Sades »Sensible« bei ihrem »Moses« in der Anstalt wohnte. Daß Coulmier – durchaus in Erkenntnis der therapeutischen Möglichkeiten – dem Marquis gestattete, mit den nerven- und geisteskranken Insassen des Hospizes zu Charenton Theaterstücke aufzuführen (wenn auch wohl kaum ein Stück über die Ermordung Marats), ist dank Peter Weiss weithin bekanntgeworden.
Der Arzt Dr. Ramon, der kurz vor Sades Tod nach Charenton kam, beschrieb später das musische Milieu der Anstalt: »Die Sitten waren dort etwas gelockert, um nicht zu sagen lasziv. Feste, Bälle, Konzerte und Theatervorstellungen lösten einander ab. Zahlreiche Freunde, einige Literaten und viele Theaterberühmtheiten ... waren hierzu eingeladen.«
Das absurde Theater im Irrenhaus wurde zu einer Pariser Gesellschaftsattraktion. Eine von Sade aufgestellte Einladungsliste verzeichnet 90 Gäste; eine Ehrendame der Beauharnais ließ acht Karten »für den holländischen Hof« reservieren.
Erst die Restauration setzte diesem Treiben ein Ende. Wenige Wochen nach dem Einzug Ludwigs XVIII. in Paris (1814) wurde Coulmier abgelöst. Sein Nachfolger verlangte die baldige Entfernung Sades aus Charenton, da der 74jährige trotz seiner Gebrechlichkeit die Sicherheit des Hauses gefährde.
Trotz Alter und Krankheit und obwohl er schließlich halb blind war, hat Sade bis zuletzt geschrieben. Er verfaßte in Charenton noch vier Romane, von denen einer zu Lebzeiten und zwei posthum veröffentlicht wurden.
Das Manuskript des vierten Werkes, »Die denkwürdigen Tage von Florbelle oder Die entschleierte Natur«, wurde von der Polizei in Sades Anstaltszimmer beschlagnahmt und auf Verlangen von Sades Sohn Donatien-Claude-Armand verbrannt****. Der Roman, laut Lely eine »Summe« des sadesken Denkens, enthielt laut Polizeibericht eine »Anhäufung von Obszönitäten, Blasphemien und Greueltaten«.
Der Marquis de Sade starb am 2. Dezember 1814 in Charenton – an einer »Lungenverstopfung«, wie sein Arzt Dr. Ramon schrieb. Im Testament hatte er gewünscht, in einem ihm gehörenden Wald bei Paris ohne jedes religiöse Zeremoniell beigesetzt zu werden. Und er hatte die Hoffnung geäußert, die Spuren seines Grabes möchten »vom Erdboden ebenso verschwinden... wie die Erinnerung an mich aus den Seelen der Menschen verschwinden wird«.
Der Wunsch wurde nicht erfüllt: Man begrub den toten Tunichtgut nach katholischem Ritus auf dem Anstaltsfriedhof.
Und die Hoffnung trog, obwohl Sades Sohn sich um ihre Erfüllung bemühte: Als Donatien-Claude-Armand zwanzig Jahre später erfuhr, daß die Edition eines Lexikons sich dem Buchstaben S näherte, bat er den Herausgeber seinen Vater zu übergehen.
Einige Jahre nach Sades Tod, als unter der Decke offizieller Verdammung schon die geheime Sade-Vergötterung zu keimen begann, nutzte der Arzt Dr. Ramon die Gelegenheit, einer Grabumbettung, um Sades Schädel nach den Methoden der Phrenologie zu untersuchen, einer von dem Pariser Anatom Franz Joseph Gall (1758 bis 1828) begründeten Lehre, nach der aus der Schädelform auf geistige und charakterliche Eigenschaften eines Menschen geschlossen werden kann.
Dr. Ramons Untersuchungsergebnis:
»Sades Schädel glich in jeder Hinsicht dem eines Kirchenvaters.«
*Auch die Umkehr des Begriffs Sadismus, die Bezeichnung »Masochismus« für den sexuell bestimmten Wunsch, grausam behandelt zu werden, wurde von Krafft-Ebing geprägt: nach dem Namen des österreichischen Schriftstellers Leopold Ritter von Sacher -Masoch (1836 bis 1895), der in seinem Roman »Venus im Pelz« die Schmerzlust gepriesen hatte. Sadismus und Masochismus können sich in einer Person ergänzen. **"Göttlich« wurde der Marquis de Sade von zeitgenössischen Bewunderern nach dem Beispiel des erotischen Satirikers Aretino (1492 bis 1556) genannt, der seinerseits von einem Zeitgenossen, dem Renaissance-Schriftsteller Ariosto, so benannt worden war. *** »Sodomie«, nach deutschem Sprachgebrauch eine Bezeichnung für sexuelle Handlungen zwischen Mensch und Tier, bezeichnet im Französischen eine vorwiegend, aber nicht nur homosexuelle Spielart: Sade bevorzugte den Analverkehr. ****Der ältere Sade-Sohn Louis-Marie fiel 1809 als Offizier in Napoleons Italien-Feldzug. Sades Tochter Madeleine-Laure (Sade: »Sie hat den Geist und das Gesicht einer guten fetten Bäuerin) starb, unverheiratet, 1843. – Ein lebender Sade-Nachkomme, Graf Xavier de Sade, hat kurzlich in Paris gegen den »beleidigenden« Filmtitel »Die schrecklichen Verbrechen des Marquis de Sade« prozessiert – mit Erfolg der Film heißt jetzt »Der Schädel«.