DIE NEUE GESELLSCHAFT IST NOCH DIE ALTE
Eine Gesellschaft, die noch schwankt, wohin die Reise geht, findet im Bahnhof die gegebene gesellschaftliche Ebene -- besonders, wenn er, wie Bahnhof Rolandseck, schon Wilhelm II. und der Apo zur Geselligkeit diente. Ein Glas in der Hand, ein Gleis im Hintergrund, geraten die sperrigsten Elemente in Fahrt, und Bohemiens wie Staatsbeamte spüren einen sonst ungeahnten Konsensus.
Bahnhof Rolandseck, der wilhelminische, dem so viele feudale Feste mit SM, mit Königinnen, Großfürsten und Bismarck nachgerühmt werden, Konzerte mit Liszt und die trunkenen Aufenthalte von Nietzsche und Humboldt ("siebtschönster Blick der Welt") -dieser feinste, vergeblich stillgelegte, unendlich vergammelte Abfall der Bundesbahn erblüht so aufs neue zum gesellschaftlichen Hauptbahnhof: 4000 Personen machten eine Juni-Nacht dort Aufenthalt, seine wunderbare Errettung zu feiern, obwohl gerettet eigentlich noch werden muß.
Kunsthändler Johannes Wasmuth, 32, einer der beiden glücklichen Einwohner des Bahnhofs, ein runder saftiger Doppelzentner von Bonhomie, hat das schlampige, schwungvolle Fest der Rettung des Rettungsbedürftigen inszeniert, um für die Rettung Geld einzutreiben. Wiederbelebungsversuche dieser Art sind das eigentliche Lebenselement seines Bahnhofs: Happening für die Restauration.
Zur Frischzellentherapie für diese Pracht am Rhein braucht Wasmuth nach eigener Rechnung erst einmal 1,2 Millionen. Für weitere 1,1 Millionen muß die Bundesbahn mit einem hübschen Grundstück abgefunden werden, denn sie wollte das Kleinod lieber auf Abbruch einem Wohnungsbauunternehmer überlassen.
Das kleine Rheinland-Pfalz, dessen christdemokratischer Kultusminister Bernhard Vogel, 36, sich von Wasmuth für die Station von gestern gewinnen hat lassen, erkannte seine kulturelle Verpflichtung und offerierte der Bahn statt Geld, sie möge sich auf Landesgrund angemessen bedienen.
Noch ist der Handel nicht perfekt, doch Helmut Kohl, 39, des kleinen Landes hünenhafter neuer Regierungschef, übergab unter Trompetengeschmetter auf der Bahnhofstreppe jetzt schon eine Rettungsurkunde, an deren vorsichtigen Formulierungen noch bis zuletzt die Juristen seines Kultusministers geknetet hatten.
»Wir sind drauf und dran, ein Banausenstaat zu werden«, klagte mir der junge Regent. Da müsse man Gott danken für den Genius loci dieses Durchgangsbahnhofs nach Bonn.
Stephan Askenase, 72, Pianist und zweiter ständiger Bewohner des Bahnhofs, hatte sich seinen Konzertfrack übergezogen, um im Namen der durch ihn und Wasmuth verkörperten gemeinnützigen Bahnhofs-Rettungs-Gesellschaft »arts and music« nach der Urkunde zu greifen, Kohl Dank zubrüllend im Stimmengewirr einer unter Beat schon weitgehend ertaubten Festgemeinde: »Eine glückliche und glorreiche Zeil in der Ausübung Ihres Amtes!«
Die anachronistischen Schnörkel des Bahnhofs beeinflussen die Gemütsart der beiden Bahnhofsmieter ebenso wie das fahrplanmäßige Vorüberdonnern von täglich 300 Zügen.
Der Pianist im linken Bahnhofsturm sagt, er arbeite an einem Klavierkonzert mit D-Zug-Begleitung. Der Kunsthändler im rechten, dessen drei Afghanen aus einem Verschlag auf die beatende Soiree unhörbar herniederbellen, beginnt wie unter telepathischem Einfluß unruhig zu werden, wenn längere Stille auf den Gleisen seinem Unterbewußtsein eine Störung des Bahnverkehrs meldet.
Früher lebte der ehemalige Dekorateur mit jungen Uhus zusammen und finanzierte von den Versteigerungs-Erlösen geschnorrter Kunstwerke Kindertagesstätten und Kinderdörfer für die Elendsviertel im Revier -- aber seit er 1965 den aufgelassenen Prachtbahnhof für 1000 Mark im Monat bezog, lebt er vor allem für diesen und hat seine guten Werke von früher ganz aus den Augen verloren.
In seiner langsam und mächtig ausgreifenden Feinschmecker-Phantasie öffnen sich unter den Dächern der ehemaligen Feudalstation neben den bisher schon improvisierten Ausstellungsräumen zehn Gästezimmer für Künstler, die gern das Ohr an der Eisenbahn haben, ein Wiener Café, ein französisches Restaurant, ein englisches Pub (alles, wie er meint, in den erwähnten 1,2 Millionen schon inbegriffen).
Auf der anderen Seite der Gleise will er an den Waldabhang eine Kunsthalle stellen, deren Dach sich über die Bahnsteige hinweg als weite Terrasse mit dem Obergeschoß seines Bahnhofs verbindet (macht weitere vier Millionen, die er nicht hat).
Schon mit den 43 Zügen, die noch heute täglich in Rolandseck halten, könnte die in Bonn durchreisende Welt, so meint er, zu einem unvergleichlichen Kunst- und Galerie-Besuch vorbeischauen: Après Bonn und -- zum höheren Ruhme von Helmut Kohl -- just innerhalb der Grenzen von Kohlland.
Schon bisher hat Johannes, der Schlemmer und Philanthrop, in dem unbezahlbaren, unheizbaren Bauwerk bei Dichterlesungen, Links-Diskussionen, Happenings und mitunter sogar allerfeinster Kultur-Darbringung eine besser durchlüftete Gesellschaft zu versammeln vermocht, als das nahe Bonn sie kennt. (Diese Woche bittet »zum Ausklang der Legislaturperiode« MdB Otto Schmidt, Wuppertal, sogar zu »chinesischem Schattenspiel« auf dem Bahnhof.)
Wenn Wasmuth seine Bahnhofs-Gemeinde wie jetzt im Juni auf silbernen Einladungskarten zum Schwof ruft, stürmt sie ihm -- halsbrecherisch die Gleise überquerend -- fast die blumengeschmückte Station in »Galakleidung der letzten 113 Jahre feierlich schwarz-weiße Diplomaten und Staatsdiener Bonns -- so Schillers alexanderköpfiger SPD-Staatssekretär Klaus von Dohnanyi, der im Lande des Bahnhofs für den Bundestag kandidiert -- und die seidene bis halbseidene Schickeria vom deutschen Niederrhein, Hippie-Ringe an sämtlichen Fingern, und Underground-Mannequins und arrivierte Bohemiens. Dazu ein paar fast echte Gammler, die ihre eingestaubten Leiber auf der wilhelminischen Prachttoilette wuschen, nachdem sie den Hausherrn um die 35 Mark Entree geprellt hatten.
Und alle fassen Suppe an der Gulaschkanone, stippen ihre Zigaretten in die ausgedorrten Blumenkästen und stürzen sich begehrlich auf die schmuddelig grünen Polsterstühle von »arts and music«, als wären es Louis XV. Politische Diskrepanzen macht Wasmuth elektronisch unmöglich -- alle verstehen nur Bahnhof unter dem Donner der Soundmaschinen von sieben Kapellen, die noch drüben am nordrhein-westfälischen Rheinufer die Bewohner von Honnef zum Protest aus den Betten zwingen.
Bonns Wahrsagerin Margaretha Goussanthier, genannt Buchela, die neben geigenden Zigeunern im Weißseidenen majestätisches Zigeuner-Establishment repräsentiert, sagte mir sehr wahr, eines Tages werde selbst dieser Bahnhof verschwinden. Vorerst glaubt sie an seine blühende Zukunft und offerierte mit weißer Hand einen Tausender für Wasmuths Bahnhofs-Spendenkonto (Deutsche Bank, Bad Godesberg, Nr. 111/1111).
Regierungschef Kohl prophezeit, die Landesregierung werde zum eingetauschten Bahnhof nichts weiter geben. Vor allem keine politischen Empfehlungen -- hofft der linksoffene Wasmuth.
Den politischen Reiz eines eigenen Musenbahnbofs vor Bonn schmeckt der Regierungschef allerdings schon auf der Zunge: »Auf Schlösser, die wir in Rheinland-Pfalz ja auch haben, lassen sich manche nicht gerne einladen. In einen Bahnhof kann jeder kommen.«
Helmut Kohl, der samt Ehefrau vom interesselosen Wohlwollen der gemischten Gesellschaft fast umgestoßen worden wäre, prüfte von des Bahnhofs Zinnen sein Publikum wie ein Schauspieler: »Es ist eine enorme Umschichtung im Gange! Diese Leute hier, das ist eine ganz neue Generation.«
Am Mikrophon des Bahnhofs freilich gibt er sich eher majestätisch: Der Bahnhof bin ich. Statt eines galanten Parlando Worte, wie sie der Eröffnung eines Katholikentages wohl anstünden: daß, was wir heute beginnen, viel Frucht tragen wird für unser Land, für unsere Bürger, für eine friedliche Welt in einer friedlichen Zeit«. Hinter ihm kehrte der zwei Jahre ältere SPD-Dohnanyi seine Augen gen Himmel, und der Schweiger Wasmuth lobte später Gott für das Versagen des Mikrophons.
Gabriele Henkel wiederum, die Frau des großen Waschpulver-Kapitalisten. beanstandete bei Helmut Kohl, er habe vergessen, diesen Johannes zu rühmen.
Ihr, die der Verjüngung der Gesellschaft durch Modeschmuck und Minimini Rechnung getragen hatte, folgten mottengleich Beatniks wie Beamte, um an dem konzentrisch auf sie gerichteten Photolicht teilzuhaben, bewundernd zu erleben, wie sie unentwegt wichtige Leute zueinanderführte, die sich im Lärm nichts zu sagen vermochten. Denn die neue Gesellschaft ist noch die alte.