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Titel Die neue Haupt-Schule

Zwischen den Anhängern des traditionellen Gymnasiums und den Befürwortern einer Einheitsschule tobt ein Kulturkampf. Dabei ist das deutsche Nationalheiligtum längst eine Massenveranstaltung und muss sich wandeln - kluge Modelle für die Zukunft werden bereits erprobt.
aus DER SPIEGEL 46/2009

Der Hamburger Stadtteil Blankenese gilt gemeinhin nicht als Brutstätte des Aufruhrs. Überliefert ist ein Zwischenfall aus dem Jahr 1070, als die frisch erbaute Burg des Erzbischofs von Bremen auf dem Süllberg zerstört wurde. 935 Jahre später dann gab es vereinzelte Proteste, als Teile des Hesseparks zur Hundewiese deklariert wurden. Doch sonst ist es meistens ruhig, hier im Westen der Hansestadt.

Auch Eva Terhalle-Aries erweckt nicht den Eindruck, als seien Demonstrationen und Widerstand bislang Teil ihrer Lebenswirklichkeit. Die 39-Jährige arbeitet als Ärztin, hat drei Kinder und fährt einen VW-Kleinbus.

Doch neuerdings gärt es hinter den gepflegten Fassaden des Elbvororts. Eva Terhalle-Aries ist nicht die Einzige, die sich entschlossen hat, Widerstand zu leisten. An den Kühlschrank in ihrer Küche hat sie ein Flugblatt gehängt, darauf ist ein Schulranzen mit einem traurigen Gesicht abgebildet. »Schulreformchaos? NEIN DANKE« steht auf dem Logo, das an die Anti-Atomkraft-Aufkleber der achtziger Jahre erinnern soll.

Vor einigen Wochen ist sie mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Eltern vor das Hamburger Rathaus gezogen, zur großen Demonstration. Dem Bürgeraufstand mangelte es nicht an Entschlossenheit, allenfalls an Erfahrung. Im Internet stand deshalb eine achtseitige Bastelanleitung für Transparente ("Doppelt getackert hält besser") zum Herunterladen bereit. »Kanzlerin, rette unsere Kinder« hatte Terhalle-Aries in großen Buchstaben auf ein Plakat gemalt, und auf ein anderes »Bildungsdemokratie statt Schuldiktatur«. Fleißig skandierte sie mit Tausenden anderen Demonstranten aus vielen Stadtteilen: »Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut.«

Wie häufig, wenn heutzutage protestiert wird, geht es auch in Hamburg um die Zukunft des Gymnasiums. Es ist ein Thema, das die Beteiligten so stark polarisiert wie in den achtziger Jahren die Debatte um die Atomenergie. Kernkraftwerke und Gymnasien haben das Zeug, erbitterte Glaubensschlachten auszulösen.

In Hamburg ist es die grüne Schulsenatorin Christa Goetsch, die mit ihren Vorschlägen einen politischen Aufruhr verursacht hat. Unterstützt vom Ersten Bürgermeister Ole von Beust (CDU), beschneidet Goetsch die Gymnasien um zwei Jahre. Die Klassen fünf und sechs werden einer verlängerten Grundschule zugeschlagen - eine Reform, die Beust sogar schon als »Modell oder Vorbild für Deutschland« pries.

Der schwarz-grünen Koalition geht es um ein Kernprojekt linker Bildungspolitik. Sie verkürzt das ungeliebte Gymnasium. Man dürfe, erklärt Ex-Lehrerin Goetsch ihr Projekt, doch »nicht im ständischen System des vorletzten Jahrhunderts bleiben«. Ihre Gegner sind entsetzt. Sie haben ein Volksbegehren unter anderem für den Erhalt des Gymnasiums in seiner bisherigen Form gestartet. Bis Mitte November haben sie Zeit, um die nötigen rund 62 000 Unterschriften zu sammeln (siehe Kasten Seite 148). Damit könnte es zu einem Volksentscheid über die Schulreform kommen.

Hamburg ist nur ein Schauplatz der Auseinandersetzung um das Gymnasium, die auch in anderen Teilen der Republik längst Züge eines Kulturkampfs trägt. Vielerorts entwerfen die Bildungsreformer neue Programme und wollen die alten Strukturen verändern.

In Thüringen will die schwarz-rote Koalition Gemeinschaftsschulen als Ergänzung zu den bestehenden Lehranstalten ermöglichen. Bis zur achten Klasse können die Kinder dort gemeinsam lernen, erst dann sollen sie getrennt werden. Im Saarland wollen CDU, Grüne und FDP das System vollständig ändern. Das Gymnasium soll ein Jahr später beginnen, die Grundschule länger dauern.

In Berlin hat der sozialdemokratische Bildungssenator Jürgen Zöllner in diesem Jahr viele Eltern durch einen Beschluss gegen sich aufgebracht, einen Teil der Plätze an begehrten Gymnasien zu verlosen. So solle dafür gesorgt werden, »dass die Gymnasien weniger exklusiv sein werden und eine soziale Mischung möglich wird«, verteidigt Steffen Zillich vom Koalitionspartner Die Linke das Vorhaben.

Und auch in Nordrhein-Westfalen, im bevölkerungsreichsten Bundesland, rückt das Thema vor der Landtagswahl im Mai 2010 auf die politische Agenda. Die Sozialdemokraten haben auf einem Sonderparteitag vor gut zwei Jahren den Weg zur Einheitsschule geebnet. Mit einer Mehrheit von 99,1 Prozent forderten sie das Gymnasium erst ab der elften Klasse. Mindestens in Klasse fünf und sechs sollen die Kinder gemeinsam unterrichtet werden, danach kann es auch Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialklassen geben - aber nur unter einem Dach und mit einer einheitlichen Schulleitung.

Die Pläne der Bildungsreformer alarmieren die Anhänger des klassischen Gymnasiums. Rainer Stein-Bastuck, Vorsitzender der Bundes-Direktoren-Konferenz, der die Leiter von 2200 Gymnasien angehören, warnt: »Das Gymnasium ist in Gefahr, gleich in mehreren Bundesländern wird es angegriffen.« Und der Deutsche Philologenverband kritisiert die »Zerschlagung« der »erfolgreichsten Schulart Deutschlands«. 20 Jahre nach dem Scheitern der deutschen Gesamtschule mache die Politik »Kinder und Jugendliche zu Versuchskaninchen«.

Da sind sie wieder, die Schlagworte aus den Bildungsdebatten vergangener Jahrzehnte, die Schlachtrufe aus den Glaubenskriegen. Der Ton ist schrill, denn der Gegenstand des Kulturkampfs ist nichts weniger als ein nationaler Mythos. Die Briten haben Oxford und Cambridge, die Franzosen ihre Grandes Ecoles und die Deutschen ihr Gymnasium. Es ist die Leitinstitution des hiesigen Bildungswesens.

Vor genau 200 Jahren hat es der preußische Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt konzipiert, in seinem Schulplan vom September 1809. Das Gymnasium gehört seitdem zum nationalen Inventar. Wie der Dackel, die Wurst und das Reinheitsgebot.

Für die Beteiligten hängt viel am Gymnasium. Für Bildungsbürger ist es eine Sache der Ehre, fast der Existenz, dass ihre Kinder dort bestehen, wo die Weichen für fast alles Erstrebenswerte im Leben gestellt werden, für Geld, Titel und gesellschaftliche Anerkennung. Der Erfolg oder Misserfolg der Kinder in den 3078 deutschen Gymnasien entscheidet manchmal über Glück oder Unglück ganzer Familien. Schließlich ist es das Gymnasium, das nach der Vorstellung vieler Eltern den Kindern ein Gütesiegel fürs Leben verleiht. Oder eben auch nicht.

Die Anhänger dieser Schulform verteidigen das Gymnasium als letzten Hort von Ordnung und Leistung, als verlässlichen Pol, an dem der Nachwuchs seinen moralischen Kompass ausrichten soll. Und bei manchen Befürwortern schwingt in der Begeisterung wohl auch ein Hauch von Heinz Rühmanns »Feuerzangenbowle« mit. Das Gymnasium als heile Welt mit gestrengen, aber gerechten Lehrern, klecksenden Füllern und kratzender Kreide.

Für seine Gegner dagegen ist das Gymnasium ein Vehikel sozialer Ungleichheit, das es lieber heute als morgen abzuschaffen gilt. Sie träumen davon, dass Bildung so umverteilt werden kann wie Geld in der klassischen Sozialpolitik. Auch die sozial Schwachen sollen davon etwas abbekommen, eine Art Humboldt IV für Hartz-IV-Empfänger.

Die am deutschen Schulsystem Beteiligten muss angesichts dieser Debatte ein leichter Schwindel erfassen, denn es ist ja alles schon einmal da gewesen. Ihren großen Auftritt hatten die Bildungsreformer in den siebziger Jahren, als sie die Gymnasien durch ein flächendeckendes System von Gesamtschulen ablösen wollten.

Viele Jahre haben die Beteiligten über die Vor- und Nachteile des gemeinsamen Lernens debattiert und dabei wertvolle Zeit vergeudet. Keine Schule wird allein dadurch besser, dass man die Klassen mischt und am Eingang ein neues Schild aufhängt.

Dass es auf den Unterricht ankommt und die Qualität der Lehrer, haben die Deutschen schwarz auf weiß, seit Bildungsstatistiker testen, was deutsche Schüler eigentlich gelernt haben. Vom Pisa-Schock spricht man, seit die Ergebnisse erstmals veröffentlicht wurden. Nun sieht es so aus, als ob die deutschen Bildungspolitiker den gleichen Fehler ein zweites Mal machen wollten. Wieder wird hingebungsvoll über die Schulform debattiert, nicht aber darüber, wie und was die Schule vermitteln soll.

Die Liebe der Bürger zum Gymnasium kann ja nicht verdecken, dass dieses Kronjuwel des deutschen Bildungssystems in der Krise ist. Kein Schultyp ist angesehener, keiner so beliebt. Der Aufstieg der einstigen Elite-Institution zur Massenorganisation ist auch ein Beispiel für den Erfolg der Demokratie. Doch genau darin liegt das Problem. Nur von außen betrachtet ist das Gymnasium des Jahres 2009 eine Riesenerfolgsgeschichte.

Denn es wächst und wächst, und niemand kann es aufhalten. Und der Massenansturm rührt an die Grundprinzipien des Schultyps, das spüren die Väter, Mütter und Lehrer, und das würden ja auch die Politiker aussprechen, wenn sie denn ehrlich zu den Eltern wären.

Die Zahlen sind beeindruckend. Vor hundert Jahren absolvierte nur ein Prozent eines Jahrgangs das Gymnasium, vor 50 Jahren waren es gerade einmal sechs Prozent.

Und heute? Heute gehen in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Bayern mindestens 31 Prozent der Achtklässler aufs Gymnasium, in Hamburg sogar 42 Prozent. Bundesweit sind es 35 Prozent, mit steigender Tendenz. In Großstädten wie Frankfurt am Main liegt die Quote schon jetzt bei 46 Prozent. Zwischen 2003 und 2006 ist der Anteil der Gymnasiasten in 15 von 16 Ländern noch einmal gestiegen, nur im Pisa-Spitzenland Sachsen blieb die Quote auf dem gleichen Niveau.

Das Gymnasium ist die neue Haupt-Schule der Republik. Wie lange aber darf man noch von Auslese oder Auswahl sprechen, wenn die Auserwählten die größte Gruppe stellen? Und was ist der Preis für diesen Erfolg? Sind die Deutschen tatsächlich klüger geworden, oder sinkt das Niveau?

Ein Mann wie Hans Simons glaubt eine Antwort zu wissen. Der pensionierte Lehrer des Görres-Gymnasiums in Düsseldorf ist 85 und hat fast sein ganzes Leben am Gymnasium verbracht. »Bildung wird zunehmend als Sozialpolitik verstanden, und das hat Auswirkungen auf die Leistungsanforderungen: Sie sinken«, sagt er. Das aber macht das Gymnasium kaputt: »Ich kann diesen Ruf ,mehr Abiturienten, mehr Abiturienten' nicht mehr hören.«

Und was sagt Hans M. Dietz? Der als Mathematikprofessor an der Universität Paderborn angehenden Wirtschaftswissenschaftlern seit mehr als einem Jahrzehnt die Mathematik näherbringt? Im Oktober hat er wieder seine Vorlesungen begonnen.

Die jungen Leute seien »insgesamt großartig und wirklich motiviert«. Aber leider mangele es ihnen dann doch an so manchem. »Vor zehn Jahren fehlte es noch eher an höherer Mathematik, jetzt haben viele schon Probleme mit quadratischen Gleichungen oder dem Bruchrechnen«, sagt der Professor. Selbst grundlegende Kenntnisse fehlten, »schon die Rolle der Klammern ist nicht allen klar, obwohl das eigentlich in der vierten oder fünften Klasse gelernt worden sein sollte«. Darum bietet sein Fachbereich den Studenten vor Beginn der Vorlesungszeit einen »Auffrischungskurs« an.

Es ist ein Armutszeugnis, das Dietz dem deutschen Gymnasium ausstellt. Die Standards gehen verloren, das Niveau sinkt. Doch lässt sich dieser Befund aus Paderborn objektivieren? Die Bildungsforschung versagt in diesem Punkt. Es gibt nur eine einzige größere Erhebung zu diesem Thema. Zwischen den sechziger und den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben demnach die »kognitiven Grundfähigkeiten« der Gymnasiasten im Durchschnitt zugenommen, die Kinder haben also eigentlich eine schnellere Auffassung als früher, nicht umgekehrt. Das ist die gute Nachricht.

Doch gleichzeitig haben die Schulleistungen zwischen 1969 und 1997 nachgelassen. Ende der sechziger Jahre waren Gymnasiasten der siebten Klasse im Fach Mathematik noch ein Jahr weiter. Auch im letzten Bundesländervergleich der Pisa-Studie aus dem vergangenen Jahr heißt es, es gebe die »Tendenz: je höher die Bildungsbeteiligung, desto geringer die Leistung«. Das ist die schlechte Nachricht.

Elite kommt vom lateinischen eligere, also auswählen oder auslesen. Doch wie streng soll diese Auswahl sein, und wer soll sie treffen? In dieser Frage geht ein Riss durch die Republik. Es sind zwei Prinzipien, die gegeneinanderstehen. Bundesländer wie Berlin, Hessen oder Hamburg versuchen, vielen Schülern die Gymnasialausbildung zu ermöglichen, indem sie die Eintrittsschwelle niedrig ansetzen. Die Eltern dürfen mit Abschluss der Grundschule bestimmen, ob ihr Kind fürs Gymnasium geeignet ist. In Baden-Württemberg und Bayern dagegen liegt die Hürde vergleichsweise hoch, die Leistung entscheidet.

Das Niveau ist dann im Süden der Republik oft höher, besonders an altsprachlichen Gymnasien. Latein und Griechisch erleben derzeit eine Renaissance, bildungsorientierte Eltern benutzen die alten Sprachen als Erkennungszeichen, um ihresgleichen zu finden. Humanistische Gymnasien, so heißt es im Bayerischen Kultusministerium, erzielen im Schnitt mit die besten Abi-Ergebnisse.

Das Maximiliansgymnasium im Münchner Stadtteil Schwabing ist dafür ein Beispiel. 650 Schüler, ein Abi-Durchschnitt von 1,9. Steinerne Löwen bewachen den Aufgang zu dem prächtigen Jugendstilgebäude. Glasfenster in der Eingangshalle zeigen berühmte Denker des Abendlandes, Sophokles, Walther von der Vogelweide. Zwei Geistesgrößen der jüngeren Vergangenheit hat das »Max« selbst hervorgebracht, die Reliefs der Physik-Nobelpreisträger Max Planck und Werner Heisenberg hängen im Treppenhaus. Auch Franz Josef Strauß ging hier zur Schule, der junge FJS machte 1935 das beste Abitur Bayerns, Durchschnittsnote 1,0.

»Wir fühlen uns verpflichtet, ein Erbe weiterzutragen«, sagt Schulleiter Hans Orgeldinger. »Wir sind dafür verantwortlich, dass der Strom der Geschichte nicht abreißt.« Orgeldinger ist Altphilologe, wie fast alle seine Vorgänger, seine Schüler lernen alle Latein ab Klasse fünf und Griechisch ab Klasse acht. In seinem Büro hängen Bilder von Goethe und Sokrates und das Kruzifix. Seit dem Pisa-Schock hätten sich die Anmeldungen verdoppelt, und das, sagt der Pädagoge, obwohl die Sprachenfolge ein »gewisses Korrektiv« sei.

»Wer seine Kinder hierherschickt, weiß in der Regel, warum«, sagt Orgeldinger. Es sind viele Bildungsbürger darunter, Professoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Angestellte bei großen Firmen. Einige waren selbst Schüler hier und frischen nun ihr Latein und Griechisch in den Abendkursen für Eltern wieder auf. Ist das Maximiliansgymnasium ein Exklusiv-Etablissement nur für Reiche? Nein, sagt der Schulleiter. »Wir machen ein anspruchsvolles Angebot, das allen offensteht. Unsere Schüler laufen ja nicht im Matrosenanzug herum.«

Es sind Schüler wie Florian Kamhuber und Ioannis Kiossis. Der Chefredakteur der Schülerzeitung - sie heißt nach dem Versammlungsplatz der antiken Polis »Agora« - und der Schülersprecher tragen schwarze Hornbrille zu ihrem kurzen Haar, dazu T-Shirt und Shorts. Sie sprechen in wohlformulierten, unprätentiösen Sätzen. Ioannis hat einen griechischen Vater, der als Techniker bei den Stadtwerken München arbeitet, seine Mutter ist Kauffrau. Migrationshintergrund, Eltern, die selbst nicht auf dem Gymnasium waren, das sei schon die Ausnahme hier, sagt er. »Das Image der Elite-Schule enthält natürlich ein Körnchen Wahrheit.« Florian pendelt jeden Tag aus Ismaning, wo seine Eltern ein Reisebüro haben, nach Schwabing, eine Dreiviertelstunde Schulweg. An seinem ersten Gymnasium in Garching fühlte er sich unterbeschäftigt, hier bekomme er viel mehr mit, eine breite Allgemeinbildung, aber auch Abseitiges und Altmodisches. »Die Latein- und Griechischlehrer sind schon echte Typen, vor allem die älteren.« Einer wollte wissen, was Schlüsselträger auf Latein heißt, bevor er Florian einen Raum aufschloss. Claviger, das hat er sich gemerkt.

Es sind Schulen wie das »Max«, die das Idealbild des Gymnasiums prägen. Hierher kommen Fernsehteams, wenn sie Gymnasium-Flair ins Bild setzen wollen, an einer solchen leistungsorientierten Schule wollen viele Eltern ihre Sprösslinge am liebsten sehen. »Unter den Gymnasien verzeichnen diejenigen Schulen die größte Nachfrage, denen diese Merkmale - oftmals in Verbindung mit strengen Leistungsmaßstäben - in besonderer Weise zugeschrieben werden, und nicht diejenigen, die im Ruf stehen, das Abitur eher freizügig zu vergeben«, analysieren die Bildungsforscher Ulrich Trautwein und Marko Neumann.

Doch dieser Anspruch, der bayerische, hat einen Preis, und den müssen oft die Eltern zahlen. Manchmal lässt sich die Lücke zwischen dem, was Kinder können und was sie können sollen, genau bemessen. Der Brief, den die Lateinlehrerin eines Landsberger Gymnasiums Mitte Juli den Eltern der 6 b schickte, war exakt 18 Zeilen lang. Die Klasse hatte eine Arbeit zurückbekommen, es gab eine Eins, keine Zwei, fünf Dreier, fünf Vierer, eine Fünf und 16 Sechser. Macht einen Schnitt von 4,89.

Was also schreibt die Lehrerin den Eltern? Dass die Arbeit zu schwer war? Dass sie den Stoff noch mal aufarbeiten werde? Nichts dergleichen. »Offensichtlich hat der Arbeitswille und die Aufmerksamkeit vieler Schüler gegen Ende des Schuljahres nachgelassen«, heißt es lapidar. Ein kollektiver Anfall von Faulheit also.

Den Eltern legt die gestrenge Pädagogin nahe: »Unterstützen Sie Ihre Kinder bei der systematischen Wiederholung des Wortschatzes mit dem eingeführten Karteikartensystem während der Sommerferien.« Das sei »unerlässlich für Erfolgserlebnisse im kommenden Schuljahr«. In einem weiteren Schreiben folgte ein detaillierter Arbeitsplan für die unterrichtsfreien Wochen: Texte übersetzen, Wortarten bestimmen, konjugieren, deklinieren. Der Satz, sie wünsche »schöne und erholsame Ferien«, musste für die Schüler wie Hohn klingen.

Bevor Alexandra Cavelius, Mutter von zwei Kindern in Kaufering, ihren Sohn David aufs Gymnasium schickte, damals noch auf ein anderes in Landsberg, besuchte sie an der künftigen Schule eine Beratungsstunde. Dort hieß es unverblümt: »Ohne Hilfe der Eltern schaffen die Kinder die Unterstufe nicht.« Der Beratungslehrer fragte, ob sie denn Zeit habe, sich kümmern könne, oder ob sie selber arbeiten gehe. Cavelius arbeitete tatsächlich, sie schrieb Sachbücher wie den Bestseller »Die Himmelsstürmerin«. Aber sie arbeitete zu Hause, also traute sie sich.

Kurz nach dem Start auf dem Gymnasium gab es einen Einführungskurs »Das Lernen lernen« - für Kinder und Eltern. Also lernte Cavelius noch einmal, in Biologie, was ein Korbblütler ist, in Latein die Grammatik. Sie brauchte ein paar Wochen, um wieder in den Stoff hineinzukommen, aber immerhin hatte sie selbst Abitur gemacht. David ist jetzt in der siebten Klasse, in jener Lateinklasse; Anna, ihre Tochter, in der sechsten. Im Moment kann Cavelius noch mithalten.

Andere Eltern in Bayern belegen Kurse an der Volkshochschule, um ihre Kinder abfragen zu können. »Es gibt inzwischen ein Heer von bestens ausgebildeten Müttern, die hervorragend Unterricht geben könnten, falls Lehrer fehlen«, sagt Cavelius. »Viele versuchen, ihr Kind durchzuboxen.« Das Abitur ist heilig, das Wochenende und der Feierabend sind es nicht. Da wird bis abends um sieben gesessen und gepaukt, und wenigstens an einem Wochenendtag noch weitergelernt, »so sieht der Alltag in den meisten Familien aus«.

Das »Max« in München, das Landsberger Gymnasium - sie stehen für das bayerische Modell. Hohe Eingangshürden und noch höhere Leistungsanforderungen. Das »Max« funktioniert in einem Umfeld wie München-Schwabing, wohlhabend, akademisch, zwei Elite-Universitäten in Laufweite. Doch kann dieses Modell auch funktionieren in Stadtteilen und Regionen, die ganz anders aussehen? In denen es keine Unis gibt, keine Eliten, noch nicht einmal ein Bürgertum? In Bezirken wie Berlin-Neukölln, mit einem Migrantenanteil von 39 Prozent? Oder ist dort ein anderes Modell gefragt, das mit niedrigen Zugangsvoraussetzungen möglichst viele Schüler aufnimmt?

Zur Neuköllner Albert-Schweitzer-Schule, einem Gymnasium mit 54 Lehrern und 650 Schülern, führt der Weg von der U-Bahn-Station Hermannplatz die Karl-Marx-Straße hinunter, vorbei an verschleierten Frauen und tätowierten Männern, die ihren Kampfhund ausführen oder auch nur eine Dose Bier. Am Eingangstor kontrollieren zwei Wachmänner, Angestellte eines privaten Dienstes. Sie wurden engagiert, weil Obdachlose ins Treppenhaus pinkelten oder fremde Jugendliche in die Schule stürmten, wenn sie mit einem Schüler noch etwas zu regeln hatten. Es ist eine ungewöhnlich raue Umgebung für ein Gymnasium.

Die Schüler sind, wie sollte es anders sein, Kinder ihres Kiezes: Mehr als die Hälfte kommt aus Familien, die nichts für die Schulbücher bezahlen müssen, sie leben von staatlicher Unterstützung, zumeist Hartz IV. Wenige Schüler haben deutsche Eltern, 80 Prozent stammen aus Migrantenfamilien. »Es gibt ja kaum noch deutsche Familien in Neukölln«, sagt Axel Zibell, Lehrer für Erdkunde und Französisch, seit 30 Jahren an der Schule. Das sei früher anders gewesen.

Zu den Eltern finden er und seine Kollegen nur schwer Zugang, manche Väter und Mütter bekommt er nie zu Gesicht. »Ich weiß kaum Privates von meinen Schülern«, sagt Zibell. Er stellt sich auf sie ein, so gut es geht. Im Erdkundeunterricht verwendet er Verweise auf die Türkei, bei Wandertagen bleiben er und seine Kollegen meist im Bezirk - größere Ausflüge würden viele Schüler und Eltern finanziell überfordern.

Schulleiter Georg Krapp ist klassisch gekleidet, schwarzes Jackett, Krawatte, gerade so, als müsste er dem Verfall seiner Umgebung trotzen. In seinem Büro hängen seine Bilder. Krapp malt bunt und abstrakt, mit großem Strich. Bevor er nach Berlin kam, leitete er im Auslandsschuldienst den bilingualen deutsch-tschechischen Zweig einer Schule in Prag. Da ging es um Sprachvermittlung, wie auch hier. »Der Wunsch der Eltern ist da, dass es den Kindern einmal besser geht als ihnen selbst, aber sie sind ratlos, was sie dafür tun können«, sagt der Schulleiter in seinem fränkischen Singsang. »Das ist Bildungsferne.«

Seine ehemalige Kunstlehrerin Ursula Rogg hat ein Buch darüber geschrieben, was Gymnasium unter diesen Bedingungen bedeutet. Schulleiter Krapp will darüber nicht reden, er hält das Buch für einen indiskutablen Angriff auf Schüler und Lehrer. Er spricht lieber über Erfolge, über steigende Anmeldezahlen, mehr Schüler, die das Abitur schaffen, über die Zukunft als Ganztagsgymnasium.

»Nord Neukölln, Frontbericht aus dem Klassenzimmer« heißt Roggs Buch, die Autorin erzählt von ihrem Arbeitsalltag, der nichts mehr mit einem »nach bundesrepublikanischen Vorstellungen geprägten Gymnasium« zu tun habe. Die Pädagogin hat als Fotografin international ausgestellt, seit 2007 arbeitet sie an einem Gymnasium im Berliner Problemstadtteil Wedding.

Rogg ist keine Jammerlehrerin, sie möchte die Kinder nicht diffamieren. Sie wolle aber die Probleme benennen, sagt sie und schreibt etwa von Jugendlichen, für die das Wort »bildungsfern« noch ein Euphemismus sei. Die Lehrerin spricht lieber von der »Verrohung ganzer Horden von 12- und 13-Jährigen in den deutschen Großstädten«.

Schüler, die keine Form und keine Aufmerksamkeit gelernt hätten, Teenager, die ihren Lehrern schon den Weg zum Unterricht zum Leidensgang machten, als lümmelnde Phalanx im Treppenhaus. »Niemand hat ihnen beigebracht, einem anderen Platz zu machen, schon gar nicht einer Frau«, sagt Rogg. Kulturtechniken und grundlegende Höflichkeitsformen seien vielen fremd, »Grammatik sowie Satzbau« würden durch »Floskeln und Laute ersetzt«. Die Schüler seien eben »Produkte ihrer Umwelt«, sagt Rogg. »Eine bürgerliche Schülerschaft kann es ohne bürgerliche Elternhäuser nicht geben.« Die Lehrerin fordert Sprachunterricht für Eltern, Lehrer mit Migrationshintergrund, mehr Sozialarbeiter an Schulen. Sonst würden alle Beteiligten an solchen Problemschulen »aufgerieben von einer nicht zu bewältigenden Aufgabe«.

Schwabing und Neukölln, zwei Gymnasien, zwei Wirklichkeiten. Kann man überhaupt noch von einer Schulform sprechen? Und muss nicht das Gymnasium einheitliche, hohe Standards einfordern, als Leitinstitution des deutschen Bildungswesens?

Bei seinem Vordenker Wilhelm von Humboldt war die Idee des Gymnasiums noch klar und rein, es bildete die Spitze eines leistungsorientierten Schulsystems. In seinen Königsberger und litauischen Schulplan, verfasst am 27. September 1809, schrieb er Sätze von großem Idealismus.

Der Schulplan, führte Humboldt aus, richte sich »auf die ganze Masse der Nation und sucht diejenige Entwicklung der menschlichen Kräfte zu befördern, welche allen Ständen gleich nothwendig ist und an welche die zu jedem einzelnen Beruf nöthigen Fertigkeiten und Kenntnisse leichter angeknüpft werden können«.

Sein Ziel war nichts weniger als die »allgemeine Menschenbildung«. Das Gymnasium war die Institution, zu der sich im Wettstreit die besten Köpfe aus dem Bürgertum emporarbeiten sollten - elitär, aber auch egalitär, jedenfalls im Grundsatz. Die »gelehrte Schule« nannte Humboldt sein Gymnasium. Sie sollte jungen Menschen eine »Erwerbung der Kenntnisse« ermöglichen, »ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist«.

Für die breite Masse sahen die preußischen Schulplaner die Volksschule, die spätere Hauptschule, vor. Als mittlere Schulform kam die Realschule hinzu, die vor allem die Kinder von Gewerbetreibenden besuchten. Fertig war das dreigliedrige Schulsystem, wie es die Bundesrepublik so lange geprägt hat.

Die Dreigliedrigkeit aufzusprengen gelang nicht einmal den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs. Für Briten und Amerikaner war das Gymnasium Brutstätte deutschen Obrigkeitsdenkens und Überlegenheitsgefühls. Sie wollten eine auf sechs Jahre verlängerte Grundschule durchsetzen und auch danach alle Schüler gemeinsam lernen lassen, in einer einheitlichen Oberschule. So sollten die Deutschen mündige Demokraten werden.

Die aber erwiesen sich erst einmal als fähige Saboteure, jedenfalls in den westlichen Besatzungszonen. In Hessen etwa verfügte im August 1948 der Militärgouverneur, dass die Grundschule künftig sechs statt vier Jahre dauern sollte. Weil der Befehl gleich mit Beginn des neuen Schuljahrs gültig werden sollte, verlängerte das Kultusministerium kurzerhand das alte. Es endete erst im folgenden Frühjahr, im April 1949, da war die Direktive schon fast vergessen.

Auch in anderen Bundesländern wollte man von den Plänen nichts wissen. Allenfalls wurde die Grundschulzeit verlängert, aber bis auf Berlin kehrten die Länder spätestens in den fünfziger Jahren zu vier Schuljahren zurück.

Dass sich selbst die Alliierten am Gymnasium die Zähne ausbissen, hätte die SPD misstrauisch stimmen können. Doch die Sozialdemokraten schlugen große Schlachten um die Gesamtschule, es war zwischenzeitlich ihr Lieblingskind, sie hatten freilich nicht mehr Erfolg als die Siegermächte. Die Gesamtschule hat das Gymnasium allenfalls ergänzen und nirgendwo ersetzen können.

Trotz großen Zuspruchs geriet das Gymnasium in Verruf bei den Sozialpolitikern. Es wurde zum Symbol für das frühe Sortieren der Schüler auf die einzelnen Schulformen, für soziale Selektion. Die Entscheidung über die Bildungskarriere fällt in Deutschland mit dem Übergang aus der Grundschule, meist im Alter von zehn Jahren, so früh wie in kaum einem anderen Land.

Und an dieser Schwelle haben Kinder aus bürgerlichen Elternhäusern bei gleicher Leistung deutlich höhere Chancen, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen; mehrere Studien haben Belege dafür geliefert. Daran hat sich nichts geändert, nur weil es mehr Gymnasiasten gibt. Noch immer gilt: Als Gymnasiast wird man geboren oder eben nicht.

Dabei hat das Gymnasium zwei Aufträge zu erfüllen. Es soll möglichst viele Schüler zum Abitur führen, und es soll den Kindern etwas beibringen. Das sind zwei Aufträge, die sich nicht ohne weiteres in Einklang bringen lassen.

Was also ist richtig? Die Massenschule oder der umgekehrte Weg? Zurück zur Elite-Anstalt für einen kleinen Kreis? Dann könnte die deutsche Hightech-Exportwirtschaft ihren Laden schließen, müsste nicht nur Fertigung, sondern auch Forschung und Entwicklung ins Ausland verlagern. Sie braucht Akademiker, viele Akademiker, sonst schmilzt der Vorsprung durch Technik dahin.

Wer die Zahl der Abiturienten begrenzen wolle, erweise »der Gesellschaft einen Bärendienst«, sagt Walter Gremm, Leiter der Gymnasialabteilung im Bayerischen Kultusministerium. Um »im Kerngeschäft, dem Unterricht, gute Arbeit leisten zu können«, müssten die Schulen entsprechend ausgestattet werden. »Wir müssen nur den Werkzeugkasten anpassen«, sagt Gremm. »Dann spricht auch niemand mehr vom Untergang des Abendlandes.«

Doch genau ein solches Instrumentarium für den Massenbetrieb zu entwickeln, haben Politik und Schulen bisher vernachlässigt. »Die Gymnasien mussten bislang zu wenig Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen, ihre Stellung war ja immer unangefochten«, kritisiert der Erziehungswissenschaftler Peter Fauser von der Universität Jena. Die Nachfrage stieg ja ständig, die Kundschaft kam in Massen, also konnte das Angebot so schlecht nicht sein, lautete die Schlussfolgerung.

Auch der deutsche Pisa-Chef, der Frankfurter Bildungsforscher Eckhard Klieme, klingt verhalten, wenn er dem Gymnasium ein Zeugnis ausstellen soll. »Das Gymnasium hält nicht unbedingt, was es verspricht«, sagt Klieme. Es habe etliche Schwächen. »In diversen Untersuchungen haben wir gezeigt, dass Lern- und Schulstruktur an vielen Gymnasien nicht optimal sind: Die Lehrer kooperieren weniger, der Unterricht ist in seiner didaktischen Vielfalt nicht so breit.«

Während in Grund- und Gesamtschulen neue pädagogische Konzepte ausprobiert wurden, herrscht in vielen Gymnasien ein Gefühl der Stagnation. Milliarden fließen in den Ausbau der Kinderkrippen oder in Fortbildungskurse für Berufstätige, fürs Gymnasium fiel wenig ab. Die größte Renovierung des Monuments Gymnasium hat nicht unbedingt zur Verbesserung der Substanz beigetragen: G8, die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre, ist eine Zusatzbelastung für Schüler, Eltern und Lehrer.

Die Ministerialen peitschten die Pläne durch, ohne bei Stoff und Stundenzahl entsprechend abzuspecken. Kamen bayerische Schüler in neun Schuljahren auf 280 Wochenstunden, blieben es nach der Verkürzung noch 265 Stunden. Nach einem Gutachten, das die Bayerische Landesregierung bei der Berliner Humboldt-Universität in Auftrag gab, sind die Stunden mit Stoff überfrachtet.

Zu einem ähnlichen Befund kommen die Forscher für das Saarland. Die »Inhaltsfülle« im Fach Mathematik etwa erschwere das angestrebte Ziel, »mehr Zeit für das Wesentliche zu gewinnen«. Auch in Deutsch seien die obligatorischen Lerninhalte »so umfänglich angelegt«, dass »kaum Raum für Wiederholungen« oder Vertiefungen des Lernstoffs vorhanden sei. »Infolge des vorzulegenden Lerntempos«, so die Gutachter, könne es zu Überforderungen bei Schülern wie Lehrern kommen.

Das Gymnasium war lange Zeit Anlass für Selbstbewusstsein, für diejenigen, die es besuchten, und für diejenigen, die es verwalteten. Jetzt verunsichert es. Davon profitieren die Privatschulen, denen die Kundschaft zugetrieben wird. »Jede Verunsicherung in der Bevölkerung führt dazu, dass sich die Leute über Schulen privater Träger Gedanken machen«, frohlockt Andreas Wegener, der Landesvorsitzende des Privatschulverbands Berlin-Brandenburg.

Von der Verunsicherung profitiert auch eine boomende Nachhilfeindustrie. Eine anonyme Umfrage unter etwa 55 000 Gymnasialeltern in Bayern ergab, dass schon bei Sechstklässlern fast jeder fünfte, bei Siebt- bis Neuntklässlern fast jeder vierte Schüler Nachhilfe bekommt. Und auch anderswo brummen die Reparaturbetriebe für das Gymnasium.

Heute prallen Anspruch und Wirklichkeit des Gymnasiums ungebremst aufeinander. Manche Eltern und Lehrer machen sich wegen dieser Diskrepanz schier verrückt, manche Politiker verbeißen sich darob in Stellungskriegen. Dabei sind Rezepte zu einer Entlastung der Gymnasien längst vorhanden:

* Der Druck auf das Gymnasium lässt sich mindern, indem die Bundesländer andere Wege zum Abitur ausbauen, zum Beispiel über berufliche Gymnasien wie in Baden-Württemberg, wo begabte Haupt- und Realschüler ihr Abitur nachholen können.

* Mit Geldern der Bundesregierung wurden viele Gymnasien zu Ganztagsschulen ausgebaut, doch es fehlt an überzeugenden Konzepten, um die zusätzliche Zeit zu füllen. »Die Ganztagsschulen werden in ihrer schlechtesten Form ausgeführt«, kritisiert Bernhard Bueb, langjähriger Leiter des Internats Schloss Salem, »den ganzen Tag Schule - statt Sport, Musik oder naturwissenschaftliche Experimente zu fördern.«

* Migrantenkinder brauchen spezielle Sprachkurse, damit sie eine echte Chance auf eine erfolgreiche Laufbahn am Gymnasium haben.

* Eine besondere Förderung brauchen auch die schlechten Schüler, mit denen es sich die Gymnasien bislang zu einfach machten. Sie konnten sie loswerden, durch »Abschulen«, wie Experten den Wechsel zu einer niedrigeren Schulform nennen. Das Abschulen darf nur das letzte Mittel sein, nicht mehr.

* Auch die Leistungsstarken verdienen eine besondere Förderung. Baden-Württemberg etwa bietet an 16 Gymnasien einen Hochbegabtenzug mit einem besonders anspruchsvollen Angebot.

* »Flächendeckend« ist ein Begriff, der vor allem in der Bildungspolitik und der Artillerie vorkommt. In der Schuldebatte gehört er abgeschafft. Nicht Einheitlichkeit ist die Antwort auf die Krise des Gymnasiums, sondern eine möglichst große Vielfalt an musischen, naturwissenschaftlichen, neusprachlichen oder humanistischen Gymnasien.

Wie ein modernes, selbstbewusstes Gymnasium aussehen könnte, das den alten Anspruch mit der neuen Wirklichkeit verbindet, lässt sich heute bereits besichtigen, in Marbach am Neckar bei Stuttgart. 2200 Schüler lernen dort am Friedrich-Schiller-Gymnasium, in bis zu zehn Parallelklassen, in einem unscheinbaren Flachbau aus Beton und Glas. Das Gymnasium ist das größte allgemeinbildende in Baden-Württemberg, es hat 2007 den renommierten Deutschen Schulpreis gewonnen.

»Alle kommen ans Ziel«, sagt Schulleiter Günter Offermann. Im Büro des Rektors hängt das Pappmodell eines Schiffs, das unter einer Flagge mit dieser Maxime segelt, Schüler haben es ihm gebastelt. Die Qualität einer Schule bemisst sich danach, dass viele es schaffen, nicht dass viele scheitern, das ist das Credo. Nur eine Handvoll Schüler blieb in den vergangenen Schuljahren sitzen, kaum mehr mussten an die Realschule wechseln.

Doch geschenkt bekommt hier niemand etwas, das wird schnell deutlich, wenn Offermann und sein Stellvertreter Klaus Rüdenauer, beide in Jeans, ihre Leitungsprinzipien erläutern. Der eine ist groß und Mathe- und Physiklehrer, der andere klein und Chemie- und Biologielehrer, die Schule leiten sie nun seit fast 20 Jahren gemeinsam. Ihre Interpretation von Chancengerechtigkeit ist schwäbisch handfest und zupackend.

Die Routiniers reden über Leistung und Qualitätskontrolle, über Ansprüche, die man an sich selbst und andere stellen muss, über saubere Organisation und Arbeitsethos. »Das ist wie in einem soliden mittelständischen Unternehmen«, sagt Offermann, der als Kind im elterlichen Obstladen aushalf. »Jeder muss wissen, wo sein Platz ist, und jeder muss sich bemühen, gute Arbeit abzuliefern.« Wenn Offermann durch seine Schule läuft, um mit fliegenden Armen die neuesten Projekte zu erklären, klaubt er unterwegs Papierfetzen vom Boden auf, der Firmenchef gibt den Takt vor.

Arabisch, Russisch, Rudern, Big Band, verschiedene Chöre, ein Zirkusprojekt - die Zahl der Angebote am Friedrich-Schiller-Gymnasium kann fast mit einer kleinen Hochschule mithalten. Im Keller steht ein neues Techniklabor mit diversen Bohr-, Schleif- und Schneidemaschinen. 200 000 Euro an Sponsorengeldern warb die Schule dafür bei Firmen der Region ein. Viele Schüler seien eher ein Vorteil, meint der Schulleiter, denn die Menge mache durch ihre Nachfrage ein vielfältiges Angebot erst möglich.

Seinen Lehrern stattet er regelmäßig unangekündigt Besuch im Unterricht ab, »nicht, um zu überwachen, sondern um zu helfen«, sagt Offermann. »Ich will ja keine Helden oder Einzelkämpfer, sondern Mitarbeiter, die ihre Aufgabe gut erfüllen.« Gute Leistung könne man ohnehin nicht befehlen, das gehe nur mit gemeinsamer Leidenschaft. Und die Eltern? »Die kommen nur ins Spiel, wenn der Schulbetrieb nicht reibungslos läuft«, sagt Elternsprecher Wolfgang Schoch, ein Unternehmensberater. Der Wunsch der Schulleitung sei, die Sphären klar abzugrenzen, und das unterstütze er. Es sei für die Eltern Aufgabe genug, glückliche Kinder großzuziehen, der Unterricht sei Sache der Pädagogen.

Das Förderkonzept erklärt Schulleiter Offermann in einem weiteren Sprachbild, er benutzt häufig Metaphern, das sei eingängiger. Das Gymnasium sei wie eine Bergtour, bei der es verschiedene Wege zum Gipfel gebe. »Die einen sind schnell und wagemutig, sie brauchen alle paar Meter einen Felsüberhang, damit sie sich nicht langweilen. Die anderen kommen etwas langsamer vorwärts, sie brauchen ein Geländer am Weg und Sanitäter in Reichweite, falls sie stürzen.«

Für die Schnellen gibt es einen Hochbegabtenzug: 25 Schüler dürfen nach Bestehen eines standardisierten Tests in einer Turboklasse mehr lernen, das Curriculum ist vertieft, zusätzliche Angebote kommen hinzu, so dass ausreichend viele Felsüberhänge zu bewältigen sind. Für die Langsamen gibt es Sigrid Eberspächer, die Sanitäterin, um in Offermanns Bild zu bleiben.

Eberspächer, Lehrerin für Deutsch und Erdkunde, kümmert sich als »Lernbegleiterin« um Schüler, »bei denen es nicht so rund läuft«. Sie spricht mit Kollegen und Eltern, vermittelt Nachhilfe und Hausaufgabenbetreuung, bei härteren Fällen auch eine Therapie. »Manchmal sage ich den Eltern auch nur, dass zu Hause der Fernseher aus muss.« Ihr Kollege Alexander Frohberg, Mathe und Gemeinschaftskunde, betreut Oberstufenschüler, die es mit der Schulpflicht nicht so genau nehmen.

Das Friedrich-Schiller-Gymnasium lässt sich natürlich nicht 3078-mal kopieren in Deutschland. Aber die Schule liefert doch viele Ideen, wie sich der große Widerspruch auflösen ließe, in dem das Gymnasium steckt, der Widerspruch zwischen Masse und Klasse. Gymnasien wie Marbach könnten als Modell für die Zukunft dienen, weil sie beides schaffen: mehr Kinder, aber nicht weniger Leistung.

»Eigentlich ist Schule simpel«, doziert Schulleiter Offermann. »Alles, was man braucht, sind pädagogische Ideen, gutes Personal und Geld.« JÜRGEN DAHLKAMP,

JAN FRIEDMANN, MARKUS VERBEET

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