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BULGANIN-BRIEF Die neuen Töne

aus DER SPIEGEL 8/1957

Der Botschäfter der Sowjet-Union in der Bundesrepublik, Andrej A. Smirnow, war nach 48tägigem Moskau-Aufenthalt knapp 18 Stunden in Bonn zurück, als er bei Konrad Adenauer vorsprach, um den Brief des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin »Seiner Exzellenz dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland« zu überreichen.

Unmittelbar vor seiner Moskaureise, am 22. Dezember, hatte der Botschafter den Bundeskanzler das letzte Mal besucht und mit ihm ein Gespräch geführt, das vierzig Minuten dauerte. Damals - zwei Tage vor Weihnachten - hatte Smirnow auch seinen Vertreter, den Gesandten Kudriawzew, mitgebracht, und Konrad Adenauer hatte den Leiter der Länderabteilung im Auswärtigen Amt hinzugezogen, den Freiherrn von Welck. Irgendwelche neuen Gesichtspunkte zur Lösung der deutschen Frage erbrachte jenes vorweihnachtliche Gespräch freilich nicht. Immerhin, die beiden Hauptgesprächspartner hatten bei dieser Gelegenheit doch einen günstigen Eindruck voneinander gewonnen.

Konrad Adenauer meinte damals: »Der Smirnow ist ein sympathischer Mann mit einer liebenswürdigen Art, ganz anders als der verbissene Sorin.« Smirnow hatte nach jenem Gespräch die Auffassungsgabe des Bundeskanzlers gerühmt und anerkennend gesagt: »Mit seinen 80 Jahren wirkt der Kanzler wie ein Fünfzigjähriger.«

Gleich darauf war Smirnow in seine kalte Heimat abgereist, und als der Bundespräsident am 29. Januar einen Empfang für die ausländischen Diplomaten gab - in der Redoute zu Bad Godesberg -, mußte sich der sowjetische Botschafter von seinem Stellvertreter, dem Gesandten Kudriawzew, vertreten lassen. Bei diesem Empfang in der Redoute nahm Konrad Adenauer den Gesandten Kudriawzew beiseite und beklagte sich bei dem Sowjetmenschen, daß die Moskauer Regierung so viele Schwierigkeiten mache. Diese Haltung der Sowjetführung sei an dem beklagenswerten Stand der deutsch-sowjetischen Beziehungen schuld, erläuterte der Kanzler.

Kudriawzew replizierte unter anderem mit einem Hinweis auf die Brandreden des Bundesverteidigungsministers Franz-Josef Strauß, der die Sowjet-Union von der Landkarte hatte streichen wollen, und zitierte auch das Adenauer-Wort vom russischen »Todfeind«. Der Bundeskanzler beeilte sich, seinem Gesprächspartner zu versichern, das habe er seinerzeit ganz anders gemeint. Er, Adenauer, habe nur sagen wollen, die sowjetische Politik lasse keinen anderen Schluß zu als den, daß Rußland in Deutschland seinen Todfeind sehe. Auf jeden Fall sei er, der Kanzler, an guten Beziehungen zur Sowjet-Union sehr interessiert.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Sowjetmensch einen- Bericht über dieses Gespräch nach Moskau geschickt hat. Dieser Bericht, so wird nun im Auswärtigen Amt angenommen, habe den sowjetischen Ministerpräsidenten bewogen, jenen Brief an Konrad Adenauer zu schreiben, den Botschafter Smirnow am Freitag vorletzter Woche im Bundeskanzleramt überreichte.

Eine deutsche Übersetzung des Bulganin-Briefes hatte Smirnow allerdings nicht mit ins Bundeskanzleramt gebracht. Die sowjetische Botschaft in Bonn hatte zwar einen deutschen Text hergestellt, aber wegen der Eile war er so ausgefallen, daß die Sowjets selbst ihn nicht für korrekt genug hielten. So mußte Smirnow das Dokument mündlich erläutern, wobei er sich eines mitgebrachten Landsmanns als Dolmetscher bediente, obgleich er selbst Deutsch spricht.

Das Gespräch, das sich an die Übergabe des Briefes anschloß, dauerte 52 Minuten und fand nur unter sechs Augen statt. Konrad Adenauer hatte nicht einen einzigen Mitarbeiter dazu gebeten. Dieser Umstand erschwert außerordentlich die Klärung einer Frage, die in der letzten Woche unversehens größere Bedeutung bekam: Hatten sich Konrad Adenauer und Andrej A. Smirnow bei ihrem Gespräch darüber geeinigt, wann und unter welchen Umständen der Bulganin-Text veröffentlicht werden sollte?

Der Kanzler hatte - das ist unstreitig - gefragt, was man nun der Presse sagen solle. Konrad Adenauer erinnert sich, er habe sich mit Smirnow geeinigt, der Termin einer Veröffentlichung solle gemeinsam abgestimmt werden. Smirnow und sein Dolmetscher dagegen haben das Gespräch anders in Erinnerung und behaupten, der Sowjet-Botschafter habe keine derartige Abmachung getroffen, sondern sich dafür eingesetzt, den Wortlaut des Briefes bald bekanntzugeben, und dem habe der Bundeskanzler auch zugestimmt.

Der Gang der Ereignisse legt freilich den Schluß nahe, daß die Erinnerung Konrad Adenauers an dieses Gespräch präziser ist. Denn kaum hatten die beiden Sowjetmenschen sein Dienstgebäude verlassen, da gab er den Bulganin-Brief zur Übersetzung an das Auswärtige Amt und betonte, daß ihm an absoluter Geheimhaltung des Textes gelegen sei. So wurden im Auswärtigen Amt von der Übersetzung nur zehn Kopien angefertigt, die man so sorgfältig hütete, daß selbst die zuständigen Referenten der Ostabteilung des Amtes erst am nächsten Tage, dem Sonnabend, sehen durften, was Bulganin dem Kanzler geschrieben hatte.

Natürlich weigerte sich auch der Kanzler selbst, ein Sterbenswörtchen über den Brief zu verlieren, als er wenige Stunden nach seinem Treffen mit Smirnow zu einer jener Pressekonferenzen antrat, die ihm Felix von Eckardt angesichts des Bundestagswahlkampfes alle vierzehn Tage verordnet, damit die dicken Sonnabendausgaben der deutschen Zeitungen Stoff für kanzlerfreundliche Schlagzeilen haben.

Statt über den Brief von Bulganin zu sprechen, benutzte Konrad Adenauer die Gelegenheit, noch einmal seine neuartige Theorie von einer »Wende in der äußeren Politik in der nächsten Zukunft« zu verkünden, die er eine Woche zuvor schon in Berlin seinen erstaunten Zuhörern vorgetragen hatte.

»Meine Annahmen«, so sagte Konrad Adenauer, »gründen sich auf folgende Entwicklungen: Zunächst auf die Entwicklung der atomaren Waffen. Die modernen Waffen, die atomaren Waffen, sind, wie Sie wissen, mehr als verheerend. Ein Überraschungsangriff einer Atom-Macht auf die andere scheint ausgeschlossen. Keinesfalls würde ein Überraschungsangriff die angegriffene Macht an einem Rückschlag hindern.

»Daraus ergibt sich, meine Damen und Herren, daß, wenn die atomare Rüstung auf gleicher Höhe steht oder bleibt, eine Verwendung dieser atomaren Waffen doch sehr unwahrscheinlich ist und daß daher im Gegensatz zu den vergangenen Jahren, in denen die Entwicklung dieser atomaren Waffen erst im großen und ganzen begann, eine Besserung der Situation, das heißt ein Zwang zu einer gewissen Verständigung, eintreten wird.«

Nach diesem überraschenden Bekenntnis zur Atom-Koexistenz zählte der Bundeskanzler drei weitere Gründe auf, die nach seiner Ansicht die Regierung Sowjet-Rußlands »zum Nachdenken« bringen werden: Die Entwicklung in Ungarn und Polen, die nun erwiesene Tatsache, daß ein kommunistisches System keinen wirtschaftlichen Erfolg haben könne, und schließlich der unaufhaltsame Zusammenschluß der freien Völker des Westens.

Für diese verheißungsvolle Prophetie Konrad Adenauers, die in absolutem Gegensatz zu dem sonst von ihm Gewohnten steht, will freilich niemand in Bonn die Verantwortung übernehmen. Sowohl das Auswärtige Amt als auch das Bundespresseamt lehnen die Urheberschaft für diese Theorie ab. Meint Felix von Eckardt: »Das hat der Kanzler sich ganz allein ausgedacht.« Das Bundespresseamt beeilte sich wenig später zu betonen, diese Kanzlerdoktrin habe keinerlei Zusammenhang mit dem Inhalt des Bulganin-Briefes.

Der Kanzler in der Sonne

Dieses Schriftstück wurde weiterhin geheimgehalten. Man wollte Zeit für eine massive Gegenerklärung gewinnen, weil die CDU-Wahlstrategen sofort geargwöhnt hatten, Bulganin wolle der SPD Schützenhilfe für den Bundestagswahlkampf leisten. Wie weit hergeholt eine derartige Erklärung ist, geht schon daraus hervor, daß man ebenso umgekehrt argumentieren kann: Der freundliche Onkel-Ton Bulganins stärkt die Stellung Adenauers.

Drei Tage nachdem die Note überreicht worden war, gab die Bundesregierung immer noch nichts bekannt. Der stellvertretende Bundespressechef Werner Krueger - Felix von Eckardt war in Amerika - wurde gefragt »Wird die Botschaft Bulganins noch in dieser Woche, in diesem Monat veröffentlicht werden?«

Kruegers Antwort war dunkel: »Ich kann im Augenblick folgendes dazu sagen, daß die Prüfung der verschiedenen Gesichtspunkte dieser Botschaft des Ministerpräsidenten Bulganin an den Herrn Bundeskanzler noch nicht abgeschlossen ist, fortgesetzt wird und je nachdem, wozu man sich entschließt, wird es davon abhängen, wann und ob veröffentlicht wird.«

Frage: »Ist zu erwarten, daß der Absender die Note von sich aus veröffentlicht?«

Antwort: »Ich bin kein Prophet und nicht in der Lage, mich in die Mentalität des Absenders zu versetzen, um zu wissen, welche Schritte er tun wird.«

Der stellvertretende Bundespressechef Krueger brauchte nach diesem Gespräch keine sechzig Minuten zu warten, bis er über die Mentalität des Absenders aufgeklärt war. Der Rundfunkabhördienst seines Amtes teilte ihm nämlich mit, Radio Moskau habe gerade mit der Veröffentlichung des Bulganin-Textes begonnen.

Nun war mit einem Schlag alle Bonner Geheimnistuerei unsinnig geworden. Das Bundespresseamt rief den Pressereferenten des Bundeskanzleramtes, Karl Wand, an. Aber es dauerte eine Weile, bis Karl Wand den Herrn Bundeskanzler ausfindig gemacht hatte. Die Vorfrühlingssonne hatte Konrad Adenauer zu einem kleinen Spaziergang in den Garten des Palais Schaumburg gelockt. Dort nahm er mit jener Gelassenheit, die schon viele seiner Verehrer an ihm in unangenehmen Situationen bewundert haben, die Mitteilung entgegen. Er sagte mit unbewegter Miene: »Na ja, dann müssen wir den Text auch rausgeben.«

So erfuhr alle Welt aus Moskau und aus Bonn von dem väterlich freundlichen Ton, den Nikolai Bulganin diesmal angeschlagen hatte. Die Ostexperten des Bonner Außenamtes hatten aus dem Text rasch den Bulganinschen Hinweis herausgezogen, »daß alle interessierten Staaten hierzu (zur Lösung der deutschen Frage) ihre Bemühungen vereinen müssen«, was die beamteten Text-Interpreten als Rückkehr zur Viermächte-Verantwortlichkeit deuteten, von der sich Moskau im vergangenen Oktober in seiner Note an Bonn ausdrücklich losgesagt hatte. Bessere Beziehungen zwischen der Sowjet-Union und der Bundesrepublik sind nach Ansicht Bulganins »sehr nutzbringend« für die Lösung der deutschen Frage, und daß der Brief mit seinen vielen unverbindlichen Gemeinplätzen eine solche Verbesserung wirklich will, darüber sind sich alle Sachverständigen des Außenamtes einig. Nur die Motive der Sowjets sind umstritten.

Die zuständigen Beamten dieser Behörde und der Bonner Botschafter in Moskau, Wilhelm Haas, der in Bonn weilt, sind nun dabei, im Licht dieses Schreibens den zukünftigen Kurs der deutschen Ostpolitik neu abzustecken. Schon heute steht fest, daß Bundeskanzler Adenauer den Brief ebenso höflich wie bestimmt beantworten wird. Einzelne konkrete Fragen - wie etwa die Frage des Handelsvertrags, auf den die Russen außerordentlichen Wert legen - sollen auf diplomatischem Wege erörtert werden.

Brief-Träger Botschafter Smirnow, Ehefrau: Die Übersetzung war zu schlecht

Stellvertretender Bundespressechef Krueger

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