JAPAN »Die Neunte«
Alle Jahre wieder wird Japan von einem seltsamen Fieber geschüttelt. »Daikubyo« nennen es die Japaner, die »Neunerkrankheit«. Und sie fühlen sich wohl dabei.
Dem Dirigenten Takashi Asahina aus Tokio ist die regelmäßig auftretende
Krankheit gar Kalenderersatz: Für ihn geht das Jahr erst dann »mit Sicherheit zu Ende, wenn die Neunte erklingt«.
Japan im Beethoven-Rausch; denn die Neunte Symphonie des Meisters ist der Krankheitserreger. Japans Begeisterung für das Musikwerk, besonders aber für den Schlußchor, aus Schillers Ode »An die Freude«, ist »größer selbst als in Deutschland«, befand die halbstaatliche Fernsehanstalt NHK, strenger Hüter und Sender heimischer Kultur.
Das Massenblatt »Mainichi Shimbun« bejubelte die Symphonie gar als »nationales Ereignis«.
Das ist es dann wohl auch. Allein professionelle Orchester hielten die ostasiatischen Insel-Millionen übers Jahresende 117mal mit der Neunten umschlungen.
Japans Presse meldete die Aufführungen wie Sportstatistiken: Bei Jahresende lag das Philharmonische Orchester Osaka mit 19 Neunte-Konzerten landesweit vorn, dicht darauf folgten die aufstrebenden Kioto-Symphoniker.
19 Neunte-Auftritte auch hatte der Bariton Futoshi Katsube in nur knapp zwei Wochen. Damit stellte er den Rekord seines Kollegen Ikuo Oshima vom Vorjahr ein. Oshima hatte es in gleicher Zeitspanne auf 14 Freude-Oden gebracht.
Aber der westjapanischen Handelsmetropole Osaka, finanziell unterstützt vom Whisky-Destillateur »Suntory«, blieb es vorbehalten, die Neunte Symphonie ins Buch der Rekorde zu pushen:
In einer Sporthalle in Osaka verbrüderten sich 13 300 Sängerprofis und -amateure zur Super-Neunten, brachte »der größte Chor der Menschheitsgeschichte« - so »Suntory«-Chef Keizo Saji freudetrunken - Beethovens hochfahrenden Jubelchor zu Gehör.
Da inspirierte der musikalische Götterfunke auch noch eine 80jährige Dame, Seite an Seite mit den Tingel-Girls der weltberühmten »Takarazuka-Revue« aus Tokio Beethoven zu trällern.
Gleichwohl setzte Japans Kulturwächter NHK-TV noch einen drauf: An einem Samstag, zur besten Sendezeit auf die Sekunde genau um 19 Uhr 50, vereinte ein regelrechter Countdown Chöre im nordjapanischen Obihiro, in Tokio und in Kagoshima, tief im Süden des Landes vor 13 Millionen Zuschauern simultan zur Bildschirm-Neunten.
Die bei klirrender Kälte auf einem Bauernhof angetretenen Nordjapaner zeigten - Lokalkolorit - beim Freude-Chor ihren Meister Beethoven als Eisskulptur vor. Die Südlichter in Kagoshima hielten sich an ihr Landesprodukt: Beethoven, im Kimono, war aus Rettichen geformt.
Japan wie es singt und musiziert, doch keiner weiß, warum es zum Jahreswechsel ausgerechnet immer wieder Beethovens Neunte sein muß. Vielleicht spielt die rührend kitschige Geschichte ihrer Erstaufführung in Nippon eine Rolle:
Deutsche Soldaten aus der früheren Kaiser-Kolonie Tsingtau saßen Ende 1918 als Kriegsgefangene in einem Lager in Mitteljapan. Der Krieg in Europa war vorüber, sie aber waren noch eingesperrt. Und Weihnachten nahte. Da beschlossen die Gefangenen, unter ihnen ein ehemaliger Musiklehrer, sich ihre deutsche Weihnacht zu ersingen, mit Beethovens Freude-Chor.
Die Darbietung vor Lagerkommandant und dem Wachpersonal wurde ein gefeierter Erfolg; die Kriegsgefangenen sollen gar wegen ihrer Sangeskunst vorzeitig in die Heimat entlassen worden sein. Das allerdings ist nicht belegt. Die Geschichte wurde so, historisch nicht ganz korrekt, verfilmt und im japanischen Fernsehen gezeigt. Sentimentalität rührt Japaner.
Dirigent Asahina, mit über 200 Aufführungen der d-Moll-Symphonie nach eigenem Bekunden »möglicherweise Weltrekordler«, hält die ungebrochene Popularität des Beethoven-Werks schlicht der »Grandeur und Kraft der Neunten« zugute.
Und an der Beliebtheit des, so Asahina, »größten musikalischen Meisterwerks der Welt« ist in der Tat nicht zu rütteln: Als die Amateure des »Städtischen Volkschor Tokio« noch einige zusätzliche Stimmen suchten, meldeten sich auf Anhieb gleich 400. Und um wenige Freikarten für zwei Neunte-Konzerte kamen rund 30 000 Japaner schriftlich ein.
Zwar hat sich die Musikbegeisterung der Japaner, besonders für Europäisch-Klassisches, weltweit herumgesprochen. Ob in Brüssel, Berlin oder Boston: Bei Musikwettbewerben kassieren Pianisten, Violinisten und Flötisten aus dem fernöstlichen Reich die Top-Preise ab.
Und im japanischen Fernsehen bescheinigte Altmeister Rostropowitsch den Japanern überschwenglich »ausgeprägtes Feingefühl für die Finessen selbst schwierigster Interpretationen«.
Aber mit Beethovens Neunter geht den Japanern, scheint's, vor allem auch ihre Vorliebe fürs Pathetisch-Hehre durch. So hat das Werk für den Begründer des japanischen philharmonischen Symphonieorchesters, Akeo Watanabe, einen »seelenreinigenden Effekt«.
Und für Dirigent Asahina findet das Jahr mit der Neunten zu einem »dramatischen Ende, voller Energie und Hoffnung für das neue Jahr«.