CHRUSCHTSCHEW Die Offenbarung des Nikita
Und ich sah, wie ein gläsernes Meer mit Feuer gemengt Die Offenbarung des Johannes, 15, 2.
An einem Nachmittag im Mai gab der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjet-Union, Nikita Chruschtschew, in seinem Moskauer Büro einen Presseempfang für eine größere Delegation polnischer Journalisten. Am Abend warteten in Warschau, Krakau und Lodz die Redakteure an den Telephonen auf den Bericht ihrer Reporter.
Die Reporter jedoch berichteten zwar alles mögliche über ihren Aufenthalt in der Hauptstadt der Sowjet-Union, nur über das Rendezvous mit dem Chef der sowjetischen Kommunisten verloren sie kein Wort. Die Rückfragen der Redakteure lösten am anderen Ende der Leitung nur verlegenes Stottern aus.
Als die polnischen Journalisten wenige Tage später zu ihren Heimatredaktionen zurückgekehrt waren, erklärten sie durchweg, von sowjetischer Seite sei ihnen peinliches Stillschweigen über die Unterhaltung mit Chruschtschew auferlegt worden. In der - polnischen Presse erschien also kein Sterbenswörtchen über die merkwürdige Pressekonferenz im Moskauer Parteisekretariat...
Im Warschauer Hotel »Bristol«, wo die meisten Korrespondenten westlicher Blätter ihr Domizil aufgeschlagen haben, rätselte man nun darüber, was Chruschtschew den Polen Geheimnisvolles mitgeteilt haben möge. Immer wieder versuchte man, die von Moskau zurückgekehrten polnischen Kollegen zu einem intimen Gespräch an die Bar zu ziehen.
Diesen Bemühungen blieb schließlich der Erfolg nicht versagt. Am 1. Juni veröffentlichte die Weltpresse die wichtigsten Passagen aus der Rede Chruschtschews vor den polnischen Journalisten. Die Worte Nikitas standen den apokalyptischen Visionen der neutestamentarischen Offenbarung des Johannes in nichts nach.
Chruschtschew hatte zu berichten gewußt, daß die Sowjets eine Super-Wasserstoffbombe besitzen: »Diese Bombe ist so groß, daß wir sie nicht innerhalb der Sowjet-Union ausprobieren können. Wir können sie auch nicht in der Arktis zur Explosion bringen, da die Eiskappe des Nordpols schmelzen würde. Die Ozeane würden dadurch über ihre Ufer treten. Eine einzige Bombe«, so schwadronierte der Parteisekretär, »würde genügen, um Frankreich oder Großbritannien zu erledigen. Wenn wir eine solche Bombe im hohen Norden der Sowjet-Union entzünden würden, müßten sich fürchterliche Auswirkungen für alle skandinavischen Staaten ergeben.«
In den Vereinigten Staaten wurde der Bericht über die Rede Chruschtschews sofort der Atom-Energie-Kommission vorgelegt, die aber jede Stellungnahme verweigerte. Amerikanische Atomphysiker erklärten, daß die Größe der Wasserstoffbomben »praktisch unbegrenzbar« sei. Es gebe jedoch eine »kritische Größe« für nukleare Bomben. Überschreite man bei dem Bau einer H-Bombe jenen kritischen Punkt, so stehe der militärische Nutzen in keinem rechten Verhältnis mehr zu der radioaktiven Verseuchung der Atmosphäre, die sich dann jeder Kontrolle entziehe, auch der Kontrolle desjenigen, der eine solche Bombe ausgelöst hätte. Daher, so meinten die amerikanischen Kernphysiker, sei der militärische Wert einer solchen Superbombe, deren Risiko nicht mehr zu kalkulieren ist, höchst fragwürdig.
Die Spekulationen mancher westlichen Zeitungen, daß Chruschtschew anscheinend bereit sei, den Kreml mitsamt unserem Planeten in die Luft zu sprengen, falls die Welt nicht sozialistisch werden wolle, entbehrten allerdings jeder Grundlage. Den polnischen Journalisten - und gerade das hatten sie ihren westlichen Kollegen beharrlich verschwiegen - war deshalb seinerzeit ein striktes Rede- und Schreibverbot über ihre Unterhaltung mit dem Parteichef auferlegt worden, weil Nikita Chruschtschew an jenem Nachmittag voller starker Wodkas und daher in übermütiger Laune war. Die Moskauer Parteileitung wollte vermeiden, daß Chruschtschews Schnaps-Offenbarungen an die Öffentlichkeit gelangten.
Daily Sketch, London
Der Geist aus der Flasche