NS-WIEDERGUTMACHUNG »Die offene Wunde«
Artur Tüberger war 17 Jahre alt, als ihn die Gestapo abholte. Bei einer Razzia wurden der Junge und sein Vater Markus in Mährisch Ostrau, am Rande des Sudetenlandes, am 27. August 1939 verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.
Der dann folgende Leidensweg des jungen Juden und das Schicksal seiner Familie lesen sich wie eine Kartographie des Holocaust: Am 15. Oktober 1939 kam Tüberger ins Konzentrationslager Buchenwald, im März 1942 ins KZ Ravensbrück. Noch im gleichen Jahr schickten ihn die Nazis erst nach Sachsenhausen und dann, im November, nach Auschwitz. Es folgten Mauthausen und zuletzt das KZ-Außenkommando Ebensee in Oberösterreich.
Seinen Vater ließen SS-Schergen in Buchenwald verhungern. Tübergers Mutter und eine Tante wurden im KZ Maly Trostinec bei Minsk, die Großeltern, ein Onkel und dessen zwei Söhne in Treblinka vergast. Tübergers Brüder wurden in Kromeríz bei Brünn umgebracht, ein Onkel in Dachau getötet.
Daneben nimmt sich sein persönliches Schicksal fast noch wie ein Glücksfall aus. In den Konzentrationslagern Buchenwald und Auschwitz überstand er vier Selektionen, die er heute in böser Zynik »Todeslotterie« nennt. Der kräftige junge Mann überlebte den Zwangsarbeitseinsatz im Steinbruch, beim Bombenräumen oder im SS-Lazarett. Er überlebte die Bergbauarbeiten für unterirdische Rüstungsfabriken in Ebensee und auch den »Todesmarsch« aus Auschwitz.
Heute lebt er unter seinem neuen Namen Radvanský in Prag und beteuert, daß er nicht einmal Haß empfinde: »Ich bin kein Deutschenfresser.« Nur Gerechtigkeit möchte er noch erleben. Denn eine finanzielle Entschädigung hat es für Artur Radvanský bis heute nicht gegeben. Und das soll, geht es nach den deutschen Behörden, auch in den letzten Lebensjahren des inzwischen 75jährigen so bleiben.
Deshalb hat Radvanský einen Münchner Rechtsanwalt eingeschaltet. »Von der SS haben wir nichts anderes erwartet«, sagt der tschechische Staatsbürger zutiefst verbittert, »aber von einem demokratischen Staat Deutschland erwarten wir, nicht weiter mißachtet zu werden.«
Das verlangt auch Nina Lych. Als sie nach Auschwitz kam, war sie zwei Jahre alt oder vielleicht auch drei. So genau weiß sie das nicht. Geburtsurkunden oder sonstige Papiere sind ihr im Krieg abhanden gekommen. Akribisch belegt im Lebenslauf der Jüdin aus Weißrußland ist nur, daß sie 1943 ins KZ kam und damals, laut Nazi-Akten, »weniger als drei Jahre« alt gewesen sein soll. Vor ihrem Abtransport vegetierte sie zusammen mit Hunderten anderen, sogenannten Banditenkindern (SS-Jargon) in einem weißrussischen Lager. An Einzelheiten aus der Schreckenszeit kann oder will sich die Jüdin nicht mehr erinnern. Nur die KZ-Nummer aus Kleinstkindtagen prangt noch wie ein natürliches Mahnmal zentimetergroß auf ihrem Arm.
Lych gehört zu den letzten etwa 300 Holocaust-Überlebenden in Weißrußland. Daß es sie noch gibt, davon wollte all die Jahre erst in der Sowjetunion und nun am liebsten auch in Deutschland »niemand etwas wissen«, wie sie meint. Als Vorsitzende der Organisation der ehemaligen minderjährigen Häftlinge des Faschismus reist sie nun in Deutschland umher und wirbt für Wiedergutmachung.
Bis heute hat sie keinen Pfennig erhalten und will auch jetzt kein Geld für sich. »Das Leid der Menschen kann man nicht mit Geld entschädigen«, sagt Lych. Was sie will, ist ein bißchen Hilfe für ihre gebrechlichen, kranken und vielfach notleidenden Schicksalsgefährten in Minsk und anderswo in der neuen Republik Belorußland. Und daß ihre Leidensgenossen jetzt endlich gleichgestellt werden mit den anderen Nazi-Opfern, denen im Westen nämlich, und entsprechend entschädigt werden: »Wir verlangen Gerechtigkeit.«
Das wollen nicht nur Artur Radvanský und Nina Lych. Zehntausende noch lebende NS-Opfer, ehemalige Konzentrationslagerinsassen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Ghettobewohner und Widerstandskämpfer, verlangen von der deutschen Regierung, was ihnen seit Jahrzehnten und zum Teil mit abstrusen Begründungen vorenthalten wurde: eine bescheidene Wiedergutmachung.
52 Jahre nach Kriegsende kommt aus dem Osten Europas eine neue Welle von Entschädigungsansprüchen auf die Bundesrepublik zu. Ehemalige jüdische KZ-Insassen klagen in Musterprozessen vor deutschen Landgerichten gegen die Bundesregierung als Rechtsnachfolgerin der NS-Machthaber, um endlich für die Sklavenarbeit in Diensten der SS entlohnt zu werden. Die Chancen stehen gut. Das erste Urteil, das in den kommenden Wochen zu erwarten ist, könnte den KZ-Zwangsarbeitern erstmals in der Geschichte der Wiedergutmachung einen Rechtsanspruch auf Schadenersatz bescheren.
Eine polnische Jüdin aus dem ehemaligen Ghetto Litzmannstadt (Lodz) erwirkte vor dem Sozialgericht in Hamburg bereits ein Grundsatzurteil, daß Ghettoarbeit »ein dem Grunde nach sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis« darstellte und heute Rentenansprüche für die Klägerin begründet.
Das Bundessozialgericht (BSG) bestätigte das Urteil Ende Juni und machte den Weg für Forderungen von Ghetto-Überlebenden aus Lodz frei. Für ehemalige Ostarbeiter aus der Ukraine, denen die Hamburger Sozialrichter einen Rentenanspruch zuerkannten, könnte das BSG schon bald zum gleichen Ergebnis kommen.
Zahlreiche Verbände von Nazi-Opfern vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern sowie deren Regierungen verlangen darüber hinaus pauschal finanziellen Ausgleich. Jüdische Gemeinden und Organisationen vor allem aus Osteuropa mobilisieren ihre Glaubensbrüder in der ganzen Welt, um Forderungen an Deutschland durchzusetzen.
Selbst politische Verbündete wie die EU- und Nato-Partner Griechenland oder Spanien legen ihre Zurückhaltung ab. Die Regierung in Athen zum Beispiel verlangt eine Kompensation für jene Zwangsanleihe über zig Milliarden Drachmen, die der griechischen Zentralbank 1942 von den deutschen Besatzern abgepreßt wurde.
Was die Entschädigungsbegehren eint, die auf einmal so massenhaft über die Bundesrepublik hereinbrechen, ist nicht eine gemeinsame Strategie oder Absprache. Es ist das die NS-Verfolgten verbindende Gefühl: Wir haben lang genug gewartet.
Die Vielzahl von Ansprüchen offenbart zugleich, wie mangelhaft aufgearbeitet dieser Teil der unheilvollen deutschen Geschichte noch immer ist. Und wie die Abwehrstrategie aller Bonner Regierungen gegenüber einer Welt, die hinter dem Eisernen Vorhang auf ewig abgeschottet schien, das deutsche Ansehen in der Welt beschädigt hat.
Das mächtige American Jewish Committee (AJC) beispielsweise schaltete kürzlich in der NEW YORK TIMES eine zweispaltige Anzeige, die ein Nazi-Opfer und einen SS-Mann zeigt. Darunter wird provozierend gefragt: »Raten Sie einmal, wer von beiden eine Kriegsopferrente von der deutschen Regierung bezieht?«
Die einflußreiche Organisation verteidigt ihre Aktion: »Wir waren Freunde der Deutschen und hätten nie gedacht, daß wir so mit ihnen umgehen müssen«, sagt der AJC-Europa-Direktor Andrew Baker: »Aber wenn die Deutschen das Geld haben, den Leuten der Waffen-SS Rente zu zahlen, dann sollten sie auch die Mittel für die Opfer aufbringen können.« Baker droht: »Wir werden uns nächste Schritte ausdenken, bis es eine Lösung gibt.«
Die Forderungen der Überlebenden und Vergessenen treffen die Bundesregierung nicht unerwartet, nur unvorbereitet. Daß Hunderttausende Nazi-Opfer, die all die Jahre leer ausgegangen sind, noch leben, kann den Behörden nicht unbekannt sein. Zu oft haben Juristen der Regierung oder Sachbearbeiter der Versorgungsämter Kläger und Antragsteller hingehalten, vertröstet und am Ende abgewimmelt.
Nach Schätzungen von Historikern und der Jewish Claims Conference gibt es in Osteuropa noch 13 000 jüdische Holocaust-Überlebende und an die 7000 andere Schwerverfolgte oder ehemalige KZ-Insassen. Sie alle haben bis heute nichts oder so gut wie keine Entschädigung erhalten. Hinzu kommen die Ansprüche der ehemaligen Zwangsarbeiter, von denen heute nach Schätzungen von Historikern noch bis zu drei Millionen leben.
Zwar hat die Bundesrepublik rund 100 Milliarden Mark zur Entschädigung und Wiedergutmachung für NS-Opfer gezahlt. Doch die »historisch einzigartige Leistung«, der sich die Bundesregierung so gern rühmt, grenzte von Beginn an Millionen von Opfern aus - vor allem aus den vom Nazi-Terror besonders betroffenen osteuropäischen Ländern wie Polen, Rußland, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien oder Ungarn.
»Mehr als 90 Prozent der Wiedergutmachung«, so errechnete der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, wurden an im weitesten Sinne deutsche NS-Opfer gezahlt. Das war offenbar auch so gewollt.
Die deutschen Wiedergutmachungsbemühungen beschränkten sich zunächst auf ein Abkommen der Bundesregierung mit Israel und der Jewish Claims Conference sowie auf die Leistungen aus dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG). In der Regierungsvereinbarung mit Israel von 1952 verpflichtete sich Bonn zur Zahlung von rund 3,5 Milliarden Mark an jüdische Verfolgte.
Mit dem BEG wollte die Bundesrepublik jene Opfer entschädigen, die aus rassischen, politischen, weltanschaulichen oder religiösen Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren. Mit dieser Definition wurden aber bestimmte Opfergruppen wie Homosexuelle, Sinti und Roma oder Zwangssterilisierte von vornherein ausgeschlossen.
Die wichtigste Einschränkung des BEG für wahrscheinlich Millionen von Antragstellern aber stellte das Wohnortprinzip dar. Als antragsberechtigt galt nämlich nur, wer Deutscher war oder eine »räumliche Beziehung« zur Bundesrepublik oder zum Deutschen Reich nachweisen konnte.
Ausnahmen machte die Bundesregierung nur, wenn es gegenüber den neuen westlichen Verbündeten notwendig oder zur Pflege politischer Beziehungen unerläßlich schien. So verpflichtete sich die Bundesrepublik zusätzlich, für »Personenschäden durch NS-Verfolgung« an zwölf Länder zu zahlen - ausnahmslos im Westen. 400 Millionen Mark gingen beispielsweise an Frankreich, 125 an die Niederlande, 80 an Belgien, 16 an Dänemark und eine Million Mark an Schweden.
Das BEG lief 1969 aus. Ein neuer, 1980 gegründeter Härtefonds über maximal 400 Millionen Mark blieb jüdischen Opfern vorbehalten, soweit sie nicht im Ostblock leben. Und auch ein zweiter, nach der Wiedervereinigung aufgelegter Fonds, zielt ausschließlich auf »schwergeschädigte jüdische« Opfer im Westen, die bislang nicht ausreichend entschädigt wurden. Dieser sogenannte Artikel-2-Fonds soll die Versäumnisse der DDR-Zeit ausgleichen.
Für die Opfer im Ostblock, die von Holocaust, NS-Verfolgung und Zwangsarbeit besonders heimgesucht worden waren, gab es nur zwei größere Entschädigungsfonds. 500 Millionen Mark wurden 1991 für die Stiftung zur deutsch-polnischen Aussöhnung bereitgestellt - ein namhafter Beitrag, so schien es damals. Was davon für den einzelnen bleibt, bei bis jetzt schon über 700 000 Anträgen, könne allerdings »kaum noch symbolisch genannt werden«, urteilt der Leiter der Stiftung, Andrzej Budzynski. Das Geld sei längst ausgegeben, »es bleibt die offene Wunde, die weiter schwärt«.
Durchschnittlich 950 Zloty (gut 500 Mark) gab es für die am schlimmsten Geschädigten, viele bekamen deutlich weniger. »Armselige Almosen«, nennt Karol Gawlowski die Zahlungen, »das ist oft weniger, als ein Arbeitsloser in einem Monat bekommt.«
Der heute 75jährige Rentner war gerade 18, als er von den Deutschen erst ins Ghetto Litzmannstadt und dann zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt wurde. Zunächst mußte er für die Reichsbahn Schienen legen, Fahrtrichtung Front. Später dann, nach mehreren Gefängnisaufenthalten, als Dreher für die Heinkel-Motorenwerke in Stuttgart schuften.
Die meisten seiner ehemaligen Kollegen sind heute über 70 Jahre alt. 10 bis 15 Prozent von ihnen sterben jährlich. »Wenn politisch nicht bald etwas passiert«, sagt Gawlowski, »machen wir Krawall in der ganzen Welt.«
Auch die mit rund 900 Millionen Mark dotierte Stiftung »Verständigung und Aussöhnung« mit Rußland, Belorußland und der Ukraine hat den politischen Druck nur vorübergehend mindern können. Zu viele Opfer müssen entschädigt werden, zu gering fallen die bewilligten Überweisungen aus (Einmalzahlungen bis zu 1000 Mark, meist deutlich weniger), zu oft versickern Tausende Mark in dubiosen Kanälen.
Vor allem aber: Zu groß scheint den Osteuropäern die Ungerechtigkeit im Vergleich mit ihren Schicksalsgefährten im Westen. Oft war es ja nur ein Zufall, der sie nach Kriegsende auf diese oder jene Seite des Eisernen Vorhangs verschlug. Auf der richtigen, im Westen, hätten sie als Flüchtlinge aus deutschen Kassen längst Einmalzahlungen von mindestens 5000 Mark oder eine monatliche Rente von 500 Mark erhalten. Und manchmal auch beides.
Die Teilung der NS-Verfolgten und -Zwangsarbeiter nach Ost und West im deutschen Entschädigungsrecht führte zu einer absurden und offenkundig ungerechten Wiedergutmachungspraxis. Lisa Stein wurde 1934 als Deutsche im hessischen Geiß-Nidda geboren und am 1. November 1941 aus Frankfurt, wo das Mädchen inzwischen mit seinen Eltern wohnte, ins Ghetto im weißrussischen Minsk deportiert.
Nach dem Krieg verschlug es sie nach Astrachan in der Nähe des Kaspischen Meeres. Lisa Stein ist zwar Deutsche - mit amtlich beglaubigter Abstammungsurkunde. Aber eine Entschädigung bekommt sie von deutschen Ämtern deshalb noch lange nicht. Sie lebt im falschen Land.
Alexander Bergmann, 72, ist Rechtsanwalt in Riga und Vorsitzender der Lettischen Gesellschaft ehemaliger Gefangener in Ghettos und Konzentrationslagern. Er überlebte gemeinsam mit seinem Bruder Michael erst das Arbeitsghetto in Riga und dann die Konzentrationslager Kaiserwald, Stutthof und Buchenwald.
Der Vater kam im KZ Kaiserwald um. Die Mutter, der jüngere Bruder, die Oma und »unzählige Verwandte« wurden Anfang Dezember 1941 gemeinsam mit 38 000 anderen Juden im Wald von Rumbula bei Riga von der SS erschossen.
Michael Bergmann lebt seit etwa vier Jahren in Münster. Seitdem bezieht er, immerhin, eine monatliche Opferrente von 500 Mark. Alexander blieb in Riga und hat bis heute nicht einen Pfennig Entschädigung erhalten. »Welche Gesetze können eine solche Absurdität erklären«, fragt der Rechtsanwalt und fordert: »Ändert die Gesetze. Tilgt die Formel, daß nur der eine Entschädigung bekommt, der im Westen lebt.«
84 von ihnen gibt es noch in Lettland, die den Holocaust überlebt haben. Und beinahe monatlich werden sie weniger. Ihr Durchschnittsalter liegt bei 73 Jahren, eine von ihnen ist bereits 94 Jahre alt. »Das sind fast alles Leute«, sagt Alexander Bergmann, »die rund um die Uhr Pflege brauchen.« In Estland sind es nur noch 8, in Litauen 200.
Ihr Schicksal bewegte den Bundestag vor zwei Jahren schließlich doch noch. Koalition und Opposition beschlossen eine »humanitäre Geste« über jeweils zwei Millionen Mark, die »den individuellen Bedürfnissen« der Nazi-Opfer in den drei baltischen Staaten »nahekommen« sollte.
Doch daraus wird nichts. Die Bundesregierung verzichtete auf individuelle Zahlungen, überwies das Geld lieber zur Finanzierung allgemeiner sozialer Einrichtungen, für Krankenhäuser und Altenheime - und zog sich neue Wut und Enttäuschung der Betroffenen zu. Lettland lehnte das Angebot sogar ab.
»Wir wollen in unseren eigenen Wänden sterben«, begründet Alexander Bergmann den Widerstand der Alten. »Laßt uns doch das bißchen Leben in Würde verbringen«, fordert er.
Wenn dann doch mal guter Wille erkennbar wird, spät, aber nicht zu spät, doch noch etwas Geld für die Opfer lockerzumachen, erstickt der schnell unter der Last von Konzeptionslosigkeit und Angst vor präjudizierenden Zahlungen.
140 Millionen Mark will die Bundesrepublik - auch zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts - nach Tschechien in einen Zukunftsfonds überweisen. Dazu verpflichtete sich Bundeskanzler Helmut Kohl durch Unterzeichnung der deutsch-tschechischen Aussöhnungserklärung.
Rund 9000 ehemalige KZ-Häftlinge warten in Tschechien auf Wiedergutmachung, 2000 davon sind jüdische Holocaust-Überlebende. Dazu kommen noch etliche tausend frühere Zwangsarbeiter. Die Schätzungen schwanken zwischen 20 000 und 80 000.
Wann das Geld endlich gezahlt wird und vor allem wofür, ist noch völlig offen. Fest steht bislang nur, daß aus dem Fonds »auf keinen Fall individuelle Entschädigungen geleistet werden« sollen, empört sich der Direktor der Jüdischen Gemeinden in der Republik Tschechien, Tomas Kraus, 43.
Jahrelang seien sie von deutschen Offiziellen wie lästige Bittsteller abgewimmelt worden, klagt er. Ein Brief an den Bundeskanzler ging 1994 auf mysteriöse Weise verloren - auf dem Dienstweg vom Kanzleramt ins Außenministerium, wie es offiziell hieß. Auf eine Antwort des Kanzlers wartet Kraus bis heute.
Außerdem finde sich in der Aussöhnungserklärung »kein Wort über den Holocaust«, klagt Kraus: »Wir sind ein weiteres Mal beiseite geschoben worden.«
Stanislav Steindler ist 86 und lebt in Prag. »Erst nach der Nazi-Okkupation«, erzählt der Rentner, »mußte ich feststellen, daß ich ein Jude bin.« Mitte September 1942 wurde er mit Hunderten Juden zu einer zentralen Sammelstelle in Prag getrieben.
Auf einem ehemaligen, zwangsenteigneten Gut einer jüdischen Familie mußte Steindler unter SS-Kommando für die Witwe des bei einem Attentat getöteten Obergruppenführers der SS und stellvertretenden Reichsprotektors von Böhmen und Mähren Reinhard Heydrich arbeiten - ohne Lohn, versteht sich.
Seine rechte Hand wurde von einem SS-Wächter durch Fußtritte so schwer mißhandelt, daß sie bis heute verstümmelt ist. Im November 1942 kam Steindler als angeblicher »Saboteur« nach Theresienstadt, 14 Monate später nach Auschwitz. Im Juni 1944 wurde er erneut zur Zwangsarbeit abkommandiert, diesmal für die Braunkohle und Benzin AG nach Schwarzheide bei Dresden. Im Frühjahr 1945 kam er schließlich ins KZ Sachsenhausen.
Auch Steindler hat von Rentenzahlungen an ehemalige SS-Offiziere und Kriegsverbrecher erfahren, die denen sogar ins Ausland nachgeschickt werden. »Uns hat man einfach vergessen«, klagt er.
Krankenhäuser und Altersheime für alle sollen von den 140 Millionen Mark finanziert werden, die in der deutsch-tschechischen Erklärung versprochen wurden. Doch bis dafür Baugenehmigungen vorliegen und die Häuser dann auch endlich fertig sind, können bis zu fünf Jahre vergehen.
»Wer lebt dann noch von uns?« fragt Oldrich Stránsky , 76, Vorsitzender des Verbandes ehemaliger politischer Häftlinge. Und außerdem: Wer von ihnen will überhaupt ins Altenheim? »Wir wurden im KZ in Massen gehalten, jetzt sollen wir wieder in eine kollektive Gemeinschaft, in ein Ghetto, abgeschoben werden. Das ist das Schlimmste.«
Die Entschädigungspolitik der Bundesregierung scheint von der Maxime beherrscht: Nur nicht bewegen. In den letzten Jahren demonstrierte Bonn einen beinahe sportlichen Ehrgeiz, möglichst gar nichts zu zahlen. Und wenn doch, dann nur, um öffentlichem Druck die Spitze zu nehmen.
Als die griechische Regierung im November 1995 in einer offiziellen Verbalnote die Aufnahme von Gesprächen über eine Rückerstattung der von den deutschen Besatzern erhobenen Zwangsanleihe forderte, ging die Bundesregierung auf Distanz. Die Reparationsfrage habe 50 Jahre nach Kriegsende »ihre Berechtigung verloren«, ließ Außenminister Klaus Kinkel verlautbaren. Die Zusammenarbeit mit dem EU- und Nato-Partner müsse jetzt »zukunftsorientiert sein«.
Damit ist Bonn das lästige Thema keineswegs los. Die Regierung in Athen will das Problem »nun auf allerhöchster politischer Ebene klären«.
Konkret geht es um Forderungen in Milliardenhöhe. Damals mußten dreistellige Milliardenbeträge an Drachmen an das Reich abgeführt werden. Griechenland hat seinen Anspruch auf Rückzahlung nie aufgegeben. Zudem sind noch 50 000 Klagen von Nazi-Opfern vor griechischen Gerichten anhängig.
Ähnlich verfahren ist die Auseinandersetzung mit der Slowakei. Als Außenminister Kinkel Anfang Mai zu Konsultationen nach Bratislava reiste, lehnte er offizielle Gespräche über Entschädigungsansprüche rundweg ab. Für den Fall von Ermahnungen am Rande war er von seinen Beamten mit einem Sprechzettel präpariert worden.
Die »Gräben der Vergangenheit« sollten nicht wieder aufgerissen werden, heißt es in dem internen Papier. Deshalb habe das Land seit Aufnahme diplomatischer Beziehungen »Hilfen in erheblicher Höhe« von Deutschland erhalten. Dann folgt der Hinweis, der Kinkels politische Gesprächspartner wie auch die Opfer gleichermaßen empört: Die Slowakei sei schließlich von 1939 bis 1944 »formell ein selbständiger Staat« und mit dem Deutschen Reich verbündet gewesen und habe sich »an der Judenverfolgung mit eigener antijüdischer Gesetzgebung beteiligt«.
»Völlig unakzeptabel« findet Ex-Außenminister Pavol Hamzík Kinkels Einlassung. »Die Erfindung der Konzentrationslager«, argumentiert der Diplomat, »stammt schließlich nicht von uns, wir hatten auch keine.«
Über 70 000 Slowaken, zum großen Teil Juden, wurden zwischen 1942 und 1944 in Konzentrationslager deportiert. Nur wenige hundert kamen zurück. »Als Hitler die Juden deportieren ließ, war es egal, wo sie gelebt haben«, sagt Eva Salnerová, 51. »Jetzt wird bei den Opfern auf einmal nach Herkunft und Wohnorten getrennt, das ist wie eine neue Selektion.«
Ihre Eltern Klára und Ignaz Moskovic sind inzwischen 73 und 83 Jahre alt. KZ und Arbeitslager überstanden sie nur dank glücklicher Zufälle, viele nahe Verwandte wurden ermordet. Doch die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Entschädigung haben sie nicht aufgegeben, sagt Tochter Salnerová: »Das besetzt all ihre Gedanken.«
Die Bonner Regierung wartet, bis immer mehr Nazi-Opfer sterben, fürchtet dagegen der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden in der Slowakei, Fero Alexander, 49: »Das ist dann die biologische Lösung des Problems.«
Nur zu gut wissen die slowakischen NS-Opfer, daß es auch anders gehen kann, wenn der Druck auf die Deutschen groß genug ist. Das beweist ihnen der Fall des in der Slowakei geborenen Juden Hugo Princz, der von den Nazis zur Zwangsarbeit genötigt worden war.
Princz'' Glück war, daß er einen amerikanischen Vater hatte, damit auch dessen Staatsbürgerschaft erhielt und in die USA übersiedelte. Damit geriet der Streit zum Politikum. Als sich auch US-Präsident Bill Clinton und sein Vize Al Gore für Princz stark machten, folgte alsbald die Überweisung aus Deutschland: Princz und zehn Leidensgefährten erhielten unlängst insgesamt 3,1 Millionen Mark.
Die Bundesregierung möchte den Druck aus dem Osten lieber nach bewährtem Muster kanalisieren: mit dem bürokratischen Ungetüm einer »Verpflichtungsermächtigung«. Die sieht »bis zu 80 Millionen Mark« in den Haushaltsplanungen für die Jahre 1998 bis 2000 vor, für »humanitäre Hilfen in Härtefällen« in Mittel- und Osteuropa. Damit würden dann endgültig »die sogenannten weißen Flecken der Entschädigung« auf der Karte des Holocaust getilgt, verspricht die Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium, Irmgard Karwatzki (CDU).
Solange noch keine Mark gezahlt worden ist, sind diese Haushaltspläne äußerst vage. Unbeantwortet ist auch noch die Frage, wie diese Summen für die Abfindung der Ansprüche in allen mittel- und osteuropäischen Ländern - von der Slowakei, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und Albanien bis hin zu den Staaten des ehemaligen Jugoslawien - reichen sollen. Allein Albanien hat seine Ansprüche bereits vor Jahren auf zwei Milliarden Mark beziffert.
Im Bundestag treten inzwischen etliche Abgeordnete für Wiedergutmachung ein. Gemeinsam setzen sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen für eine Ausweitung des Artikel-2-Fonds auf Osteuropa ein. Ihr Antrag liegt zur Beratung in den Bundestagsausschüssen. Die Kosten werden vorerst auf rund 40 Millionen Mark im Jahr geschätzt - eine optimistische Kalkulation.
Bei der ersten Bundestagsdebatte zu diesem Thema Ende Januar verloren sich 12 Abgeordnete im weiten Rund des Plenums. »Ich kenne Debatten, in denen es um irgendwelche Kasernennamen ging, da waren wir immerhin 50, 60 Leute«, meint der grüne Abgeordnete Winfried Nachtwei, der auf eigene Faust Geld für die Opfer in den baltischen Ländern sammelt.
Außerdem werben die Grünen für die Schaffung einer Bundesstiftung Zwangsarbeit, die endlich eine Entschädigung für die Sklavenarbeit finanzieren könnte. Bis zu 5000 Mark, in besonderen Härtefällen auch 10 000, sieht ein Entwurf als Ausgleichszahlungen vor. »Jetzt kommt die Nagelprobe«, sagt der Abgeordnete Volker Beck, einer der Initiatoren, »die Glaubwürdigkeit unseres Gedenkens aller Opfer des Nationalsozialismus entscheidet sich am Umgang mit den Überlebenden.«
Von denen wären viele, wenn nicht die meisten, inzwischen mit bescheidenen Gesten zufrieden. »Ich bin 86 Jahre alt, was kann ich schon noch vom Leben erwarten«, sagt der Prager Stanislav Steindler. Er hat eigentlich nur einen großen Wunsch: eine Kur in Bad Kissingen.
Einmal war er schon dort, damals auf Kosten der jüdischen Gemeinde: »So was möchte ich noch einmal erleben.«
* In der Pinkas-Synagoge in Prag vor einer Mahntafel.