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»DIE POLIZEI VERSCHÄRFTE DEN KONFLIKT«

Schwere Vorwürfe gegen den baden-württembergischen Innenminister Walter Krause (SPD) und die Polizei erhob unlängst ein Ausschuß des SPD-Kreisverbands Heidelberg-Stadt. Die Parteikommission beanstandet in ihrem Bericht die Polizeiaktion zur Verhaftung von SDS-Mitgliedern im Januar dieses Jahres, die Minister Krause »voll und ganz« gedeckt hatte (SPIEGEL 4/1969). Sie wirft der Polizei vor, »mit einer ganz unverhältnismäßigen Härte« und einer »Methode« vorgegangen zu sein, »die allenfalls der Verfolgung flüchtiger Schwerverbrecher angemessen gewesen wäre«. SPD-Minister Krause wird von seinen Parteifreunden »eine falsche Auffassung von der Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems« bescheinigt, wenn er glaube, »jede Handlung der staatlichen Exekutivorgane ... vor der Öffentlichkeit vorbehaltlos billigen zu müssen«. Dem Bericht des Ausschusses, dem auch der renommierte Rechtskommentator Professor Konrad Duden angehörte, ist folgender Auszug entnommen:
aus DER SPIEGEL 18/1969

Allein die Tatsache der ungewöhnlich zahlreichen Beteiligung an der Demonstration zum Gebäude des Landgerichts am 8. 1. 1969 (ca. 1500 Studenten bei extrem ungünstigem Wetter; eine der größten Studentendemonstrationen in Heidelberg) spricht dafür, daß unter den Studenten das Bedürfnis groß war, sich öffentlich mit den ihrer Meinung nach willkürlich angeklagten Studenten zu solidarisieren.

Die Angeklagten sollten dadurch gegenüber der in der Öffentlichkeit verbreiteten Meinung in Schutz genommen werden, sie seien kriminelle Rädelsführer irgendwelcher subversiven Kampfkader, denen nun endlich der Prozeß gemacht wird. Schließlich hatte die Studentenschaft einen der Angeklagten zum Asta-Vorsitzenden gewählt. »Schutz« und Begleitung hatten den Sinn, der Öffentlichkeit zu sagen, daß die studentischen Interessen und politischen Forderungen, die von den Angeklagten vertreten wurden, mit zur Verhandlung standen.

Die Erwartung der für den Polizeieinsatz Verantwortlichen, eine Verhaftung um sechs Uhr morgens in den Räumen des Asta werde zu weniger gravierenden Auseinandersetzungen führen, war falsch. Dabei wurde nicht bedacht, daß eine nächtliche Polizeiaktion in den Amtsräumen des Asta eine sich über das ganze Bundesgebiet erstreckende Protestwelle zur Folge haben mußte. Denn der Eindruck, daß sich ein solcher handstreichartiger Polizeieinsatz zugleich gegen das Amt des Asta und gegen die Studentenbewegung insgesamt richtet, ist unvermeidlich.

Es ist schon zweifelhaft, ob die Polizeiaktion zur Verhaftung überhaupt notwendig war. Die Studenten hatten erklärt, daß sie sich widerstandslos festnehmen lassen würden. Nach einhelliger Meinung des Ausschusses Ist jedenfalls gewiß, daß die Art der Durchführung der Verhaftung, vom Standpunkt der konkreten Verhältnismäßigkeit geurteilt, nach Art und Umfang über das erforderliche Maß hinausging.

Durch die Art des Vorgehens und das Polizeiaufgebot selbst ist eine Methode gewählt worden, die allenfalls der Verfolgung flüchtiger Schwerverbrecher angemessen gewesen wäre

Der Fernsehfilm zeigt, daß die Polizeibeamten, indem sie einschlugen unverhältnismäßig eingriffen und dann mit unangemessener Härte auf die vor ihnen sitzenden und sich nicht wehrenden Studenten einschlugen; in einem besonders drastischen Fall auch dann noch, als der geschlagene Student vermutlich schon blutend auf dem Boden lag.

Die einzige im Film erkennbare »Widerstandshandlung« besteht darin, daß ein sitzender Student, auf den von oben eingeschlagen wird, offenbar zu seinem Schutz von seiner halb liegenden Position aus nach oben tritt. Jedem unvoreingenommenen Betrachter bestätigt der Film, was auch die Augenzeugen bekunden, daß die Polizei mit einer ganz unverhältnismäßigen Härte vorgegangen ist.

Der Ausschuß hat sich besonders mit der Frage beschäftigt, ob es als politisch opportun anzusehen ist, der Stadthallenaktion der Studenten mit dem juristischen Mittel der Strafanzeige, zumal wegen »Landfriedensbruchs, Hausfriedensbruchs, Sachbeschädigung und Nötigung« zu begegnen.

Gestützt auf eine bestimmte sozialwissenschaftliche Theorie und eigene Erfahrung, erheben die Studenten gegen die Gesellschaft in der Bundesrepublik und gegen die politische Organisationsform einer hochindustrialisierten Gesellschaft überhaupt seit langem den Vorwurf, deren Politiker würden die in traditionellen Demonstrationstechniken vorgebrachten Meinungen und Forderungen politi-

* Beim Aufprobieren eines neuen Polizeihelms.

scher Minderheiten nur als Vorwand benutzen, um nach außen den demokratischen Charakter dieser Gesellschaften nachzuweisen: was aber faktisch darauf hinauslaufe, diese Forderungen wirkungslos zu machen.

Deshalb verbinden diese Studenten ihre Forderungen mit einer bestimmten Praxis, die darin besteht, überkommene Ordnungsvorstellungen und Strafbestimmungen spektakulär zu ignorieren, um dann in der auf diese Weise geschaffenen Aufmerksamkeit ihre Argumente vortragen zu können.

So gesehen, handelt es sich bei den Mitgliedern der Studentenbewegung nicht um »Radaubrüder«, noch haben ihre Handlungen notorisch rechtsverletzenden Charakter; sondern es geht

jedenfalls hier in Heidelberg -- darum, daß die Studenten bei dem Ziel, eine politische Diskussion zu erreichen, das Risiko begrenzter Gesetzesverletzungen auf sich nehmen.

Dem wird unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip entgegengehalten, daß dabei begangene Handlungen, die Straftatbestände erfüllen, auch strafrechtlich verfolgt werden müssen. Wenn auch die Richtigkeit dieses Prinzips nicht bestritten wird, bleibt doch zu bedenken, daß dasselbe Prinzip der Rechtsstaatlichkeit auch einen angemessenen Schutz von Minderheiten verlangt. Dabei bedeutet »Schutz« von Minderheiten, wie er etwa auf parlamentarischer Ebene verwirklicht ist, daß die rechtsstaatlich geordnete Gesellschaft selbst dafür zu sorgen hat, daß die Minderheit eine ihr angemessene Wirkungsmöglichkeit erhält.

Daraus folgt, daß die Anwendung des Rechtsstaatsprinzips In konkreten Fällen gegenüber einer aus der Rolle fallenden politischen Minderheit nur dann im Sinne der Rechtsstaatlichkeit erfolgt, wenn zumindest gleichzeitig der Minderheit die Gelegenheit verschafft wird, ihre Forderungen so vorzutragen, daß sie die Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt.

Ohne diese Ergänzung wird die Anwendung des Rechtsstaatsprinzips zumindest bei der Minderheit die Auffassung hervorrufen oder bestätigen, daß dieses Prinzip, der Rechtsstaat selbst, nur als Kampf mittel der Mehrheit gebraucht wird. Die Minderheit wird dadurch erst gezwungen, zu neuen Formen, die nun ihrerseits Kampfcharakter annehmen können, überzugehen.

Im Ausschuß ist wiederholt und von verschiedenen Selten zum Ausdruck gebracht worden, daß die Protestbewegung der Studenten auf Problemen beruht, die durch juristische oder gar polizeiliche Auseinandersetzungen mit den Studenten oder gar mit einzelnen herausgegriffenen Studenten nicht gelöst werden können.

Die Protestbewegung entsteht gerade daraus, daß den Studenten die überalterte Universitätsstruktur, an der verbissen festgehalten wird, als Modell dient, um die autoritäre Struktur der Gesellschaft Insgesamt klarzumachen. Insofern ist der Protest der Studenten nicht die Ursache, sondern der Ausdruck einer Grundlagenkrise der Bundesrepublik: Im Laufe der letzten Jahre haben sich alle Parteien und schließlich zum Teil auch die SPD dabei beruhigt, daß mit der glücklich geleisteten Einführung des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik alle grundsätzlichen Probleme gelöst seien und das Weitere politisch-technischen Administratoren überlassen werden könne.

Es ist deshalb unerläßlich, daß die politischen Kräfte in der Bundesrepublik und zumal viele Mitglieder der SPD Ihren Willen zur durchgreifenden Reform wiederfinden und neu entwickeln.

Ist der Einsatz der Polizei unvermeidlich, gilt die grundsätzliche Bestimmung des Polizeirechts, daß die Verhältnismäßigkeit der Mittel auf Grund des konkreten Einzelverhaltens der polizeilich zu Verfolgenden bestimmt werden muß. Es ist rechtlich unzulässig, das Ziel des Polizeieinsatzes nach allgemeinen Vorstellungen über die Tätigkeit des SDS im Bundesgebiet zu bestimmen. Da sich die Polizei in Heidelberg bis zum 9. Januar 1969 an diese Rechtsvorschrift gehalten hat, ist um so mehr zu vermuten, daß dieser Grundsatz am 10. Januar 1969 durch das Eingreifen übergeordneter Instanzen und insbesondere des Innenministers Walter Krause außer Kraft gesetzt wurde.

Es ist nicht zulässig und muß in Zukunft verhindert werden, daß über die Tätigkeit des SDS besorgte oder verärgerte Politiker die Polizei dazu benutzen, den Studenten einen Denkzettel zu verpassen, der zur Besinnung führen soll. Der »Wendepunkt« ist allein durch politische Mittel und nicht durch Polizeieinsatz zu erreichen.

Im übrigen handeln die für einen Polizeieinsatz Verantwortlichen immer dann falsch, wenn das Auftreten der Polizei bei den Demonstranten den Eindruck erweckt, die Polizei würde quasi-militärische, bürgerkriegsähnliche Kämpfe bestehen. Diese Art des Einsatzes, zu der die martialischen Polizeihelme, das Massenaufgebot und der teilweise unsinnige Einsatz von Wasserwerfern gehören, sind unter diesen Umständen eher geeignet, den Konflikt zu verschärfen, statt ihn abzubauen.

Es liegt eine falsche Auffassung von der Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems zugrunde, wenn amtierende Minister meinen, jede Handlung der staatlichen Exekutivorgane in ihren Ressorts vor der Öffentlichkeit vorbehaltlos billigen zu müssen. Vielmehr gehört auch zu Amt und Aufgabe des Ministers, die staatliche Administration zu kontrollieren und deren Fehler aufzudecken. Würde dieser Teil der ministeriellen Tätigkeit besser -- oder für die Öffentlichkeit besser erkennbar -- ausgeübt, könnte eine Reihe von Kritikpunkten, die jetzt von der Außerparlamentarischen Opposition aufgerollt wird, längst erledigt sein.

In einem Rechtsstaat ist es die Pflicht und Aufgabe aller Institutionen, auch eine politische Minderheit vor kriminellen Verdächtigungen und vor hysterischen Verzerrungen ihrer Ziele zu schützen. Diese Pflicht hört selbstverständlich nicht vor dem Eingang zum Gerichtsgebäude auf. Sondern dieser Schutz gehört mit zu den Aufgaben der Justiz.

Zumal sozialdemokratische Politiker sind gehalten, die Tatsache zu berücksichtigen, daß bei Demonstrantenprozessen oft Strafbestimmungen zur Anwendung gelangen, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz fragwürdig ist. Wenn schon nicht grundgesetzwidrig, so entspricht es doch einer undemokratischen Rechts- und Staatsauffassung, daß die auf Demonstrationsfragen bezogenen Rechtsbestimmungen noch immer nicht aus dem Strafgesetzbuch entfernt und den Ordnungswidrigkeiten zugeordnet sind.

So gewiß die Gerichte bei ihrer Entscheidung an die gegebene Rechtslage gebunden sind, so sicher ist auch, daß sich demokratische Politiker nicht vorbehaltlos auf alle Gesetze stützen können, die in der Bundesrepublik gelten. So sicher ein Sozialdemokrat in einem Staatsamt an die geltenden Gesetze gebunden ist, so gewiß Ist auch, daß er sich als Sozialdemokrat jeden Tag an der zum großen Teil veralteten Rechtsordnung stoßen muß: Es ist seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Rechtsordnung im Sinne der Verfassung geändert und der jeweils vorhandene Ermessensspielraum ausgenutzt wird.

Alle Mitglieder der Partei müssen in einen neuen, dieser Aufgabe gewidmeten Lernprozeß eintreten. Wenn auch die spektakulären Aktionen, mit denen die Studenten auf eine Reihe von Problemen aufmerksam machen, keine Lösung der Probleme darstellen, so müssen um so mehr die Mitglieder der Partei ihre Aufgabe begreifen, nicht nur die Demokratie, sondern auch die Grundlage der Demokratie zu verbessern.

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