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OPER / CALLAS Die Primadonna

aus DER SPIEGEL 7/1957

Acht Tage vor Weihnachten wurde dem 29jährigen Bariton der Mailänder Scala, Enzo Sordello, in sein New Yorker Hotel ein Einschreibebrief zugestellt. Der Inhalt war dazu angetan, auch einem immer nur lächelnden italienischen Schönsänger die Weihnachtsfeiertage gründlich zu verderben. Der Generaldirektor der New Yorker Metropolitan Oper, Rudolf Bing, teilte mit, daß Sordello seinen Gastspielvertrag mit der Met als gelöst betrachten dürfe.

Als Kündigungsgrund nannte Generalmanager Bing »bedauerliche Differenzen« Sordellos mit dem Met-Dirigenten Fausto Cleva. Offiziell erklärte Bing: »Sordello ist einer der undiszipliniertesten Sänger, die mir je begegnet sind.«

Nun ist der 55jährige Met-Direktor Bing, der aus Wien stammt und sich früher im Rahmen des Opernfestivals von Glyndebourne und als Organisator der Edinburgher Festspiele betätigte, im Ausbalancieren von Sänger-Allüren kein Anfänger mehr. Der Fall Sordello war aber offenbar besonders schwierig: Bing teilte mit, »Sordello wollte an exponierten Stellen immer höher singen, als seine Partie vorsah«.

Der beschuldigte Bariton mit dem Hochton-Komplex, ein Scala-Star, der sich als Spezialist für Bösewichter der Musikbühne die Gunst der musikalisch höchst anspruchsvollen Mailänder ersungen hatte, stellte die Affäre wesentlich anders dar. Er häufte alle Verwünschungen, deren ein beruflich im Fluchen geübter, noch dazu italienischer Sänger nur immer fähig ist, auf das kapriziöse Haupt seiner Kollegin Maria Meneghini-Callas, die als der größte Gesangsstar der Gegenwart gilt.

Nach Sordellos Darstellung hatte sich hinter den Kulissen der Met eines jener von Explosions-Schall und -Rauch begleiteten Melodramen abgespielt, in denen die Primadonnen der Oper zumeist als Heroinen agieren.

Zwei Tage vor seinem Hinauswurf waren Sordello und die Star-Sopranistin Maria Meneghini-Callas in Donizettis Glanzstimmen-Drama »Lucia di Lammermoor« an der Met aufgetreten. In einem berühmt schwierigen Duett, das über das strahlende Fernziel des singenden Durchschnitts, das ominöse »hohe C«, beträchtlich hinausgeht, will Sordello bemerkt haben, daß seine Partnerin einen grausam langen, buchstäblich atemraubenden Höchstton nicht mehr halten konnte.

Die resolute und nie verlegene Callas tat deshalb das, was nur in Augenblicken höchster Not bei Damen nicht als anstößig gilt: Sie zupfte ihren Partner am Ärmel. Aber Sordello war an diesem Abend glänzend disponiert, er spielte »toter Mann« und hielt seinen mörderisch hohen Ton so lange er konnte. Die Callas empfand diese Bravourleistung als persönliche Niederlage und fauchte ihren Kollegen knapp hinter dem niedergehenden Vorhang an: »Dies war das letzte Mal, daß Sie mit mir singen durften.«

Am nächsten Morgen stellte sich die Callas krank und sagte für die Abendvorstellung sowie vorerst auch für die folgenden Aufführungen ab. Sie wurde erst wieder gesund, als auf den Plakaten der Met die kurze Mitteilung erschien, daß an Stelle von Enzo Sordello der Sänger Frank Valentino in »Lucia di Lammermoor« auftreten werde.

Dies ist nur eins von zahllosen verbürgten und unverbürgten Skandälchen um die Callas, die nicht nur als das erstaunlichste Stimmphänomen der Gegenwart gilt, sondern auch als das bei weitem launischste und herrischste weibliche Wesen, das seit Kriegsende den Opernintendanten zu schaffen macht. Dem Met-Manager Rudolf Bing, der ständig von Defizit zu Defizit hangelt, blieb bei dem Verhalten der Callas nach jenem Auftritt mit Sordello keine Alternative: Die Sopranistin hatte bei ihrem ersten Erscheinen an der Met die Kassenrekordmarke des Hauses weit nach oben verschoben.

Das war am 29. Oktober vorigen Jahres geschehen, an dem die 72. Met-Saison mit einer traditionsgemäß äußerst glanzvollen Eröffnungsvorstellung begann. Rudolf Bing bot dem von New Yorker Film-, Waldorf- und Wallstreet-Snobs geenterten Hause den langersehnten Ohrenkitzel: die Callas in ihrer Glanzpartie als Norma in der gleichnamigen Oper des - neben Donizetti und Rossini - dritten musikalischen Maßschneiders für Kehlkopfakrobaten, Vincenzo Bellini.

Die 3896 Sitze des Hauses waren ausverkauft; die Verwaltung zählte beim Kassensturz 75 510 Dollar, die höchste Einnahme in der Geschichte dieses New Yorker Opernhauses, das seit Jahrzehnten nur mühsam mit milden Gaben durchgepäppelt wird.

Dem stand auf der Ausgabenseite allerdings eine der höchsten Gagen gegenüber, die je von der Met gezahlt wurden. Maria Meneghini-Callas, die auf schriftliche oder telefonische Vertragsangebote grundsätzlich nicht reagiert und mit ihrem Manager-Gatten Giovanni Battista Meneghini, 61, genannt »Titta«, den Intendanten oder Dirigenten ihre Bedingungen ausschließlich in ihren eigenen Räumen zu diktieren pflegt - die Callas hatte mit dem als hart und versiert bekannten Bing zwei Jahre lang ein grausames Katz-und-Maus-Spiel getrieben.

Bing hatte ihr schon beim ersten Engagements-Versuch die Höchstgage der Met von tausend Dollar pro Abend offeriert. Mehr durfte er offiziell nicht bieten, weil der Aufsichtsrat des chronisch finanzkranken Opernhauses diese Grenze festgesetzt hatte.

Als Bing der Callas kleinlaut diese Zwangslage plausibel machen wollte, schnitt ihm die Sängerin alle Erklärungsversuche kalt-schnippisch ab: »Warum eigentlich erwarten Sie von mir, daß ich der Met etwas schenke? Wer ist denn die Met eigentlich? Wenn sie sich den Luxus nicht leisten kann, mich zu engagieren - va bene!«

Nun ist die Met nicht nur das bei weitem konservativste, sondern neben der Mailänder Scala auch das prominenteste Opernhaus der Welt. Diese Perle fehlte der Callas noch in ihrer Krone; Bing wußte das wohl. Aber er zog am Ende den kürzeren gegenüber der in Amerika geborenen Italienerin griechischer Abstammung, deren Blutmischung zu einem dicken Knoten geschäftstüchtiger Zähigkeit geronnen zu sein scheint. Die Callas trat, während Bing auf seinen Vertrag mit ihr wartete, im New Lyric Theatre von Chicago auf - die Geldmänner der Fleischhallen-Stadt waren weniger kleinlich als die New Yorker - und setzte damit den Met-Direktor unter Abonnenten-Druck. Diese Foltermethode hatte Erfolg. Der gepeinigte Bing fuhr ein ums andere Mal nach Chicago und gab schließlich, der vergeblichen Bittgänge müde, den Forderungen der Sängerin nach.

Er bewilligte der Callas ihre dreitausend Dollar pro Abend (12 600 Mark), von denen er, der Sperrgrenze halber, zwei Drittel als Spesen auszahlte. Vielleicht hätte sich die unberechenbare Sängerin trotz dieses Zugeständnisses noch weiter geziert, wenn ihr nicht recht unsanft demonstriert worden wäre, wie rauh in Chicago die Sitten sind. Unmittelbar nach einer Vorstellung im Lyrischen Theater wurde die Sängerin in ihrer Garderobe von acht breitschultrigen Beamten des Untersuchungsrichters besucht, die handgreiflich Anstalten machten, sie vom Theater weg abzuführen. Es handelte sich um eine alte Forderung des ersten Callas-Agenten Edy Bagarozy.

Bühnenarbeiter und Statisten klärten die Situation zugunsten der tobenden Sängerin, die Chicago sofort verließ und Bing endlich den Zuschlag gab. Allerdings war die Callas für die Zeit, in der normalerweise die Met-Saison beginnt, schon von der Mailänder Scala engagiert. So mußte Bing der Callas wegen die Saison 1956/57 einige Wochen früher als üblich eröffnen.

Eine weitere Konzession fiel ihm leichter. Entgegen den zopfig puritanischen Vorschriften der Met durfte die Sängerin ihren verhätschelten Zwergpudel Toy ("Spielzeug") mit auf die Proben bringen.

Das ist für die Callas eine conditio sinequa non. Die Londoner Covent Garden Oper mußte Anfang dieses Jahres ihr seit langem festgelegtes Callas-Gastspiel immer wieder verschieben, weil die englischen Quarantäne-Vorschriften der Callas nicht erlaubten, ihren Hund mitzubringen. Der Intendant reiste eigens nach New York, um das durch einen Zwergpudel blockierte Gastspiel flott zu bekommen und das Erscheinen der Callas - ohne Toy - in London Anfang Februar endlich sicherzustellen.

Mit Toy hatte zuvor schon der römische Korrespondent des amerikanischen Nachrichtenmagazins »Time«, George de Carvalho, seine Erfahrungen gemacht. Als das Met-Engagement der Callas endlich perfekt war, schickte »Time« den Maler Henry Koerner nach Mailand; er sollte die größte Sängerin der Welt anläßlich ihres ersten Auftretens an der Metropolitan Oper für die Titelseite der »Time« porträtieren. Von Rom aus wurde ein Heer von Rechercheuren unter dem Oberbefehl de Carvalhos auf die Spuren der Callas-Karriere gesetzt.

Um sich Fakten über die Jugendzeit der Sängerin zu besorgen, reiste der Rom-Korrespondent bis in die Türkei, wo er die Gesangslehrerin Elvira de Hidalgo über ihre frühere Schülerin ausfragte. Anschließend machte er in Athen Station und besuchte dort die Mutter der Sängerin. In Mailand war er dann genötigt, wie »Time« gestand, sich wie ein Galan zu benehmen und der Diva Blumen und andere Präsente ins Hans zu schicken, damit er zu einem Dinner- und zu einem Lunch-Gespräch kam.

Zum Frühstück ein halbes Pfund Käse Aber auch an ihm (Callas: »Er ist ein echter Kavalier!") ließ die exzentrische Sängerin am Ende eine ihrer Launen aus. Als Preis für sein abschließendes Interview, um das de Carvalhos gebeten hatte, verlangte die Callas, der Journalist möge eigenhändig einen für sie bestimmten Zwergpudel aus Rom nach Mailand heranschaffen. In Sorge um sein Interview leistete der »Time«-Vertreter - Pulitzer-Preisträger von 1952 - diesen durchaus berufsunüblichen Kurierdienst ab, wobei das noch nicht stubenreine Hundeküken, wie die italienische Illustrierte »Oggi« schadenfroh ausplauderte, seinen Anzug reinigungsreif machte. Erst dann durfte er sich noch einmal mit Signora Meneghini-Callas in ihrem luxuriösen Mailänder Palazetto, Via Buonarroti, unterhalten.

Der »Time«-Titel brachte der Callas den bisher größten publizistischen Erfolg ein, denn das kostspielige Interview wurde auch von der Millionen-Illustrierten »Life« ausgeschlachtet, die im selben Verlag erscheint. Das wiederum veranlaßte die Illustrierte »Oggi«, die erste sogenannte Autobiographie der Callas in Fortsetzungen zu veröffentlichen.

Soviel Scheinwerferlicht irritierte auch die als nervenstark bekannte Callas. Vor ihrem ersten Auftreten an der Met bekam sie in ihrer Garderobe einen Weinkrampf, dem angeblich Star-Großmutter Marlene Dietrich mit einer eigenhändig zubereiteten Hühnerbrühe entgegenzuwirken versuchte. Außerdem schleppte Ehemann »Titta« eilends eine Kassette mit Schmuck herbei, damit seine Gattin in Gold und Brillanten wühlen konnte, um sich zu beruhigen.

Meneghinis Hausmittel hatte offenbar durchschlagenden Erfolg. Das verwöhnte Met-Publikum raste vor Begeisterung und erzwang 28 Vorhänge. »Das ganze Haus befand sich in einem Zustand ähnlich dem Delirium«, meldeten italienische Kritiker stolz nach Hause.

Die Callas ist allerdings keine gebürtige Italienerin. Sie wurde Ende 1923 in New York als Tochter eines griechischen Apothekers namens Calogeropoulos geboren, der kurz zuvor aus Athen eingewandert war. Als Geburtstag gibt ihr Paß den 2., ihre Mutter den 4. Dezember an. »Ich ziehe den 4. Dezember vor«, sagt die Sängerin, »weil auf diesen Tag das Fest der Heiligen Barbara fällt, der Schutzpatronin der Artillerie, einer starken und kämpferischen Heiligen, die mir besonders gefällt.«

Der unaussprechliche Name Calogeropoulos wurde in Amerika bald vereinfacht, aus der Anfangs- und der Endsilbe des Wortes wurde Cal-los und schließlich Cal-las. In Griechenland, wohin die Mutter mit ihren beiden Töchtern - Marias Schwester Giacinta, genannt »Jackie«, ist sechs Jahre älter - im Jahre 1937 zurückkehrte, wurde aus Mary Callas allerdings wieder Maria Calogeropoulos, ein offenbar sehr ehrgeiziges Mädchen, das schon mit vierzehn Jahren am Athener Konservatorium unter Elvira de Hidalgo, einer Spanierin, Gesang studierte und mit fünfzehn in einer Hauptpartie, als Santuzza in Mascagnis Reißer »Cavalleria rusticana«, auf der Opernbühne stand.

Ihr frühentwickelter Appetit auf die applauszündenden Leckerbissen des Sopran-Repertoires wurde zunächst nur durch ihren unnatürlichen Heißhunger übertroffen. »Sie verschlang jeden Morgen schon ein halbes Pfund Käse«, erinnert sich ihre Mutter, und die Sängerin räumt ein, daß sie damals als dick gelten durfte. (Außerdem ist sie sehr kurzsichtig; heute behilft sich die Primadonna mit sogenannten Haftschalen, unsichtbaren Augengläsern, die unter die Augenlider geschoben werden.) Allerdings sei es die Mutter gewesen, die in der Absicht, aus ihr ein Wunderkind und möglichst rasch einen Gesangs-Star zu machen, sie nicht nur zu härtester Arbeit angehalten, sondern auch mit fetten Bissen regelrecht gefüttert habe, damit sie als Backfisch die anstrengenden Opernpartien durchstehen könne.

Während der Hungerperiode im zweiten Weltkrieg und danach im griechischen Bürgerkrieg gegen die kommunistischen Banden mußte diese Mastkur allerdings eingestellt werden. Das Königliche Opernhaus war zeitweilig geschlossen, und Maria sortierte schließlich die Geheimpost der alliierten Behörden.

Als der Opernbetrieb in Athen wiederaufgenommen werden sollte, lehnte das Ensemble die offenbar schon im jugendlichen Alter recht unverträgliche Sopranistin ab. Maria Calogeropoulos reiste daraufhin zu ihrem Apotheker-Vater nach Amerika und verwandelte sich wieder in Mary Callas.

Ihre künstlerischen Anfänge in der Neuen Welt waren bescheiden. Auch das verklärende Rampenlicht täuschte nicht darüber hinweg, daß ihre voluminöse Figur etwa zur Verkörperung der »kleinen Frau Schmetterling« in Puccinis Oper »Madame Butterfly« nicht recht geeignet war. Aus jener Zeit stammen ihre geschäftlichen Beziehungen zu dem Agenten Bagarozy, der ihr im Vorjahr die unsanfte Gerichtsvorladung in Chicago bescherte. Bagarozy behauptet, er habe die griechische Anfängerin damals auf seine Kosten ausbilden lassen und einen langfristigen Vertrag mit ihr abgeschlossen. Er fordert jetzt für aufgelaufene Tantiemen 300 000 Dollar. Die Callas hat für den Prozeß, der demnächst beginnen soll, ihre Interessenvertretung einem Gespann von sechs der gewiegtesten New Yorker Anwälte anvertraut.

Tatsache ist, daß Bagarozy sie für seine »United States Opera Company« verpflichtet hatte, die aber schon vor der ersten Veranstaltung pleite ging. Kurz darauf erhielt die unbekannte Griechin 1947 ausgerechnet in New York ein Engagement für die Opernaufführungen im Amphitheater von Verona. Sie borgte sich das Geld für die Überfahrt, landete in Italien und drückte - wie sie zu schildern versteht - »24 Stunden, nachdem ich italienischen Boden betreten hatte, meinem zukünftigen Manne die Hand«.

Der Veroneser Ziegeleibesitzer Giovanni Battista Meneghini war ein alter Opernroué, schon ehe er die Callas kannte. Er galt als Hagestolz und hatte die Fünfzig bereits überschritten, als ihn die damals noch immer recht vollschlanke Sopranistin des Freiluft-Opernfestivals offenbar schon bei der ersten Begegnung entflammte.

Lire-Millionär Meneghini finanzierte die Karriere der Callas, die er 1949 heiratete. Er betätigte sich mehr und mehr als ihr Impresario (Callas: »Warum soll ich diesen verdammten Agenten für meine Arbeit Prozente zahlen?") und verkaufte schließlich seine Fabriken, um sich nur noch den Interessen seiner singenden Frau ("Alle sagen, sie ist die größte Sängerin der Welt") widmen zu können. Meneghini, der allgemein als Pfennigfuchser und den Kellnern als Trinkgeld-Knauser bekannt ist - bei Atlantikflügen sitzt er in der Touristenklasse, während seine Frau die erste Klasse desselben Flugzeugs benützt -, behängt seine Frau nach jeder Premiere mit einem neuen Schmuckstück. Er hat ihr einen Alfa Romeo gekauft ("Wenn jeder kleine Künstler einen Cadillac fährt, kann sie nicht gut auch einen haben") und ein vierstöckiges Stadthaus in Mailand.

Außer ihrem Ehemann verdankt die Callas das meiste dem Dirigenten Tullio Serafin, der sie schon für jene Freiluft-Aufführung in der »Arena« von Verona verpflichtet hatte und danach die größten Sopran-Partien mit ihr erarbeitete. Er brachte sie erstmals als Richard Wagners Isolde in Venedig heraus, als Norma, in der »Walküre« und in den »Hugenotten« von Meyerbeer. Damals fiel neben ihrem steilen Ehrgeiz und ihrer Durchhaltekraft das phänomenale Gedächtnis auf. Die Callas brauchte nur wenige Tage für das Studium ihrer »Hugenotten«-Partie oder anderer solistischer Riesenaufgaben.

Der entscheidende Durchbruch an die Spitze des italienischen Opernbetriebs, das Engagement an die Mailänder Scala, gelang der Callas jedoch erst nach Jahren des Wartens und des Trotzens. Sie hatte bei einem zu frühen Vorsingen die Scala-Gewaltigen enttäuscht; später stellte sie unerfüllbare Bedingungen. Erst 1951 wurde sie von der Scala fest engagiert - für das Zehnfache ihrer Gage von Verona, nämlich für 350 000 Lire pro Abend (2345 Mark). Sie eröffnete in einer Gala-Aufführung von Verdis Oper »Die Sizilianische Vesper« unter Victor de Sabata die Saison, was nach italienischem Opernritus das alleinige Vorrecht der absolut ersten Solisten-Garnitur ist.

Die vulkanische Sängerin, die jahrelang von der Scala ausgeschlossen war, wirkte wie von der Sehne geschnellt. Auch älteste Mailänder Operngänger, von denen manche ihre Premierenkarten von 1910 an lückenlos aufbewahrt haben, wußten sich nicht an Ähnliches zu erinnern, als die Callas in einer ihrer glänzendsten Partien auftrat, als Medea in Cherubinis gleichnamiger Oper. Auf der Bühne sang eine entfesselte Furie, die »mit Stimme und Gestik die schmerzvolle Geschichte einer verzweifelten Frau schrieb«.

Die Mailänder Kritik überschlug sich. »Die Callas hat uns an jene Wilhelmine Schröder-Devrient denken lassen, die den alten Goethe und den jungen Wagner bezauberte: sublim als Leonore in 'Fidelio' und von furchteinflößender Leidenschaftlichkeit als Medea«, schrieb der italienische Musikexperte Eugenio Gara.

Nach den Scala-Debüts der Callas in »Norma« und »Die Nachtwandlerin«, beides Opern von Bellini, wagte Gara den entscheidenden Vergleich: »Die Callas singt wie einst Maria Malibran und Giuditta Pasta ... leicht und ätherisch die Nachtwandlerin, dagegen dramatisch, auch in den tieferen Lagen kraftvoll, die Norma.«

Mit diesem Hinweis auf zwei Stimmphänomene des 19. Jahrhunderts bestätigte auch die Fachkritik, was entzückte Opernliebhaber längst wahrhaben wollten: daß Maria Meneghini-Callas einen Typ verkörpert, der seit nahezu einem halben Jahrhundert ausgestorben schien, den klassischen Typ der italienischen Primadonna.

Die Primadonna hat die Musikbühne jahrhundertelang beherrscht und sich Komponisten wie Publikum gefügig gemacht. Die Skurrilität des Typs erklärt sich, ähnlich wie die sprichwörtliche »Dummheit« der Tenöre, aus der abnorm einseitigen Beanspruchung. Den Hochton-Sängern, Primadonnen wie Tenören, wird notwendig die Stimme zum einzigen Problem, und zwar vor allem die niemals gänzlich kontrollierbare, allzeit gefährdete Höhe, der sie ständig - wenn auch unbewußt - »entgegenstreben«, was sich in ihrer Lebensweise zwangsläufig widerspiegelt.

Die Primadonna ist schließlich zu einer legendären Gestalt und außerdem zu einem Begriff geworden, dessen Bedeutung über den Bereich der Musikbühne und sogar des weiblichen Geschlechts hinausgewuchert ist. Das Wort Primadonna bezeichnet heute ein extravagantes Wesen voll unberechenbarer Laune und selbstherrlicher Arroganz.

Für Frauen verboten

Als Künstlerinnen-Typ dagegen wurde die Primadonna zu einer anachronistischen Erscheinung. Die degenerierten Reste des Typs werden nur noch in den Filmstudios konserviert. Die als »divina«, als »Göttliche«, verehrte Primadonna der Kino-Kultur, die Film-Diva, wirkt so lächerlich, weil ihr Gehabe und der ihr in Ateliers und Redaktionsstuben zubereitete Kult in Wahrheit Parodien eines Phänomens sind, das in einer viel älteren Kulturschicht wurzelt.

Die »prima donna«, die »erste Frau« in der Ensemble-Hierarchie der italienischen Oper, ist ein Produkt der Renaissance. Ebenso wie die Oper ist sie nicht zu denken ohne die musikhistorische Sensation der »nuove musiche«, einer grundsätzlich neuen Musik an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert.

Damals wurde die Kunst des begleiteten Einzelgesangs, die »Monodie«, wieder entdeckt. Das war nach Jahrhunderten der Vielstimmigkeit, der »Polyphonie«, ein ganz natürlicher Pendelumschwung. Es bedurfte dazu lediglich eines Anstoßes, der von den Griechenschwärmern eines Florentiner schöngeistigen Salons ausging. Mit ihren später »Oper« genannten, auf den Einzelgesang gestützten Rekonstruktionsversuchen der antiken Tragödie wurden diese Humanisten unfreiwillig zu den Großvätern der Primadonna, die als Typ bald die Musikbühne beherrschte.

Die »Monodie«, der instrumental gestützte Einzelgesang, der fortan für die Oper kennzeichnend wurde, ist nicht nur durch die Handhabung der Chromatik, des Halbtons, zum Ausgangspunkt der gesamten neuzeitlichen Musikentwicklung bis in die Moderne hinein geworden. Die Renaissance hat auch den »singenden Menschen« entdeckt und seine Stimme gelöst.

Im Einzelgesang triumphiert die Melodie. Ihr Träger in der bis dahin vielstimmigen, also chorischen Gesangsmusik war die »Tenor« (von lateinisch tenere = halten) genannte Mittelstimme, über der höhere, »diskantierende« Gegenstimmen lagen.

Der Renaissancemensch entdeckte den Reiz der melodisch führenden Oberstimme. Diesen Diskant-Effekt übertrug er auf den Einzelgesang. Fortan wurde die höchste ("supremus« oder »soprano") Diskantlage favorisiert, die »Sopran« genannte Frauenstimme. Der am höchsten und hellsten singenden Frau, der »prima donna« des Ensembles, gebührte künftig die Krone.

Das alles war eine kopernikanische Wendung in der Musiktheorie und -praxis, die bis dahin im Kunstgesang fast nur die männliche Stimme gekannt hatte. Während in Venedig und Neapel schon die ersten Primadonnen die Ohren becircten, war am dritten Hauptort der frühitalienischen Oper, in Rom, das öffentliche Auftreten von singenden Frauen noch verboten.

Aber auch in Rom war mit der melodieführenden Oberstimme die Sensation des hohen, schlanken Soprantons entdeckt worden. In der päpstlichen Kapelle unterstützten oder ersetzten kunstvoll falsettierende, das heißt mit Kopfstimme singende spanische Tenöre, sogenannte »Fistulanten«, die immer wieder mutierenden Knabenstimmen. Auf der römischen Musikbühne erschienen als Männer verkleidete Sängerinnen - die nur Auge und Ohr eines Casanova nicht täuschen konnten, wie aus seinen »Erinnerungen« hervorgeht -, und mit Frauenstimme singende Männer feierten Triumphe.

So entstand der Primadonna frühzeitig die erste Konkurrenz: im »primo uomo«, im Kastraten, der in Rom lange die Primadonna ersetzte, bald auch im übrigen Italien und schließlich in ganz Europa umjubelt wurde. Glucks »Orpheus«-Titelpartie ("Ach, ich habe sie verloren") ist für den Alt-Kastraten Guadagni komponiert, der 16jährige Mozart ("Ich liebe es, daß die Aria einem Sänger so akkurat angemessen sei wie ein gut gemachtes Kleid") hat eine Hauptpartie seiner für Mailand bestimmten Oper »Lucio Silla« dem damals hochberühmten Prim'uomo Venanzio Rauzzini zu Dank geschrieben.

Der Präsident soll singen

Als das Ohr der Eunuchentöne überdrüssig wurde, hatte der halbmännliche Sopranist oder Altist, der - wie man in Deutschland sagte - »Kapaun«, seine widernatürliche Primadonnenrolle ("il babbo degli impertinenti« - »der Überarrogante« hieß der Kastrat Caffarelli bei seinen Zeitgenossen) ausgespielt und die Konkurrenz gegen den echten Frauensopran verloren.

Die Kastraten mochten zwar den Primadonnen an Kehlfertigkeit, nämlich - dank ihrer männlichen Konstitution - an Kraft der Tonbildung, an Länge des Atems und damit an Fähigkeit zum vokalen Ornament, zur sogenannten Koloratur, überlegen sein. Den natürlichen Schmelz der Frauenstimme, auch im ornamentreichen Ziergesang, und ihr Vermögen zu dramatischer Akzentuierung oder lyrisch beseeltem Ausspinnen der Melodie erreichte ihr mechanistisches Singen nicht. Die Primadonna siegte über das Retortenprodukt des Kastratensoprans als »singender Mensch«, auch wo sie in Kantilene und Koloratur mit den Instrumenten in Wettbewerb trat.

Das Ende der Gattung Kastrat war so unrühmlich wie vor Weihnachten letzten Jahres der Abgang des Baritons Sordello von der New Yorker Musikbühne. 1827 wurde der letzte Kastrat, Velluti, im Londoner Kings-Theatre von der neunzehnjährigen Maria Garcia, der späteren Malibran ("die Unvergleichliche« konnte eine ungeteilte Orange in ihrem Mund unterbringen), bei einer ausgedehnt improvisierten Verzierung an Kunstfertigkeit übertroffen. Damals spielte Velluti die spätere Callas-Rolle: Er kniff die Konkurrentin auf offener Bühne in den Arm und zischte ihr ein »briccona« ("Schurkin") zu.

An der italienischen Primadonna hat sich mehr als 200 Jahre lang das Ideal des Belcanto orientiert, des auf Ebenmäßigkeit der Tonbildung bedachten, von der »Riesengitarre« des Orchesters begleiteten »Schöngesangs«. Erst das mit Richard Wagners Namen verbundene Musikdrama des 19. Jahrhunderts stellte dem ornamental-kantablen Stil der Gesangsoper das mehr ausdruckshaft-deklamatorische Prinzip diametral entgegen und gab damit dem stimmlich anders begabten Sängertyp nördlich der Alpen seine Chancen.

Dennoch hat die beleantische Gesangskunst bis zur Gegenwart ihre Anziehungskraft auch auf stilistisch ganz anders eingestellte Ohren nicht verloren, wie der Erfolg der »Primadonna des Jahrhunderts« Maria Meneghini-Callas beweist. Sie steht so völlig in der alten Tradition ihres Typs mit all dem Schematismus seiner Manieren und dem jahrhundertelang eingeschliffenen Ritus der Primadonnen-Verehrung, daß sich zu so gut wie allem an ihr, von den Extravaganzen bis zum Stimmphänomen, historische Parallelen finden lassen.

Ein Indiz ist die Austauschbarkeit der Anekdote. Ihrer berühmten Vorgängerin Adelina ("Goldvogel") Patti (1843-1919), die in einem eigenen Salonwagen durch die Lande reiste, wird jene schnippische Antwort zugeschrieben, die in Kürze mit Sicherheit der Callas in den Mund gelegt werden dürfte. Auf den Hinweis, so heißt es, ihre Gagenforderung übertreffe das Gehalt des Präsidenten der Vereinigten Staaten, habe die Patti erwidert: »Dann soll er doch singen.«

In Wahrheit stammt diese typische Primadonnen-Weisheit von einer italienischen Ziersängerin aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Cattarina Gabrielli, der Tochter eines Kochs. Diese Abstammung hinderte sie nicht daran, von Katharina der Großen die für damalige Zeiten sagenhafte Summe von 5000 Dukaten plus Kost und Logis für ein Gastspiel in Petersburg zu fordern. Die Kaiserin fand, diese Gage liege über den Einkünften ihres Feldmarschalls. »Dann laßt Euren Feldmarschall für Euch singen«, gab Cattarina »la cuochetta«, die Tochter des Kochs, darauf zur Antwort und erhielt prompt, was sie verlangte.

Ähnlich diktiert heute die Callas ihre Höchstpreise ("Sie können für 50 000 Dollar keinen Diamanten kaufen, der 100 000 Dollar wert ist"), und sie bediente sich auch in ihrem Hochton-Streit mit dem Bariton Sordello eines alten Primadonnen-Tricks aus den Zeiten der Kastraten-Konkurrenz. Zwar ist der Bariton Sordello kein Kastrat, aber er avancierte in jener »Lucia«-Aufführung an der Metropolitan Oper zum »primo uomo« des Abends, als er den höchsten Ton länger hielt als die Primadonna. (Die Goldhaltigkeit einer Kastraten-Kehle wurde früher danach bewertet, ob der Sänger einen hohen gehaltenen Trompetenton an Länge und Stärke übertreffen konnte.)

Gekränkte Primadonnen haben zu allen Zeiten ihren Giftzahn gebraucht. Sordello erhielt seinen blauen Brief von der Met und kam dabei noch glimpflich davon im Vergleich zu Senesino, einem berühmten Kastraten zur Händel-Zeit, der von einem Lord Peterborough, dem Galan der Primadonna Anastasia Robinson, mit Stockschlägen traktiert wurde, weil er die singende Dame angeblich beleidigt hatte.

Jene Callas, die sich krank stellte und dadurch die Met-Abonnenten alarmierte, bis Met-Direktor Bing den Übeltäter Sordello ersetzte, hat ein Vorbild in der störrischen Primadonna Elisabeth Mara -Schmeling, der ersten deutschen Sängerin von europäischer Bedeutung, die an der Berliner italienischen Oper zur Zeit Friedrichs des Großen mehrmals nur mit preußischer Gewalt dazu bewegt werden konnte, die Bühne zu betreten. »Leichter wird es mir«, klagte der königliche Flötenspieler und alte Operngenießer, »die 200 000 Köpfe meines Heeres zu leiten als dieses Weiberköpfchen hier.«

Die Schmeling war - wie später etwa auch Henriette Sontag, der einige vom damals sprichwörtlichen »Sontag-Fieber« befallene Hannoveraner ihre Postkutsche ins Wasser rollten, damit die Chaise nicht von anderen entweiht werde - als Deutsche eine Ausnahme von der Regel, daß die besten Singvögel der Opernbühne nur unter südlicher Sonne gezüchtet werden* Die Stimme der Schmeling reichte über 19 Tonstufen, von der Altlage bis in die höchste Sopranregion.

Die Griechin Callas hat allerdings noch ein paar Töne mehr in der Kehle Gleich den berühmtesten Vertreterinnen ihres Typs besitzt sie einen der sagenhaften »Drei-Oktaven-Soprane«, die über volle 24 Töne gebieten. Davon trifft die Callas 22 absolut sicher: die beiden höchsten Töne, das e und f der dreigestrichenen Oktave*, liegen außerhalb dieser Sicherheitsgrenze, die nur bei bester Disposition zu überschreiten ist. Sordellos Version, seine Partnerin habe in jener »Lucia«-Aufführung ihren Hochton nicht halten können, klingt also nicht gänzlich unglaubwürdig, was den Ruf der Callas als eines Stimmphänomens jedoch kaum einschränkt: Sogar die von den Stimmen der klassischen Primadonnen verwöhnten Meister der italienischen Oper komponierten ihre schwierigen Sopranpartien gewöhnlich innerhalb einer Sicherheitsgrenze von 20 Tönen.

Der ungewöhnliche Umfang ist jedoch nicht das einzig Auffallende an dieser Stimme, die Alt, mittelhoher und höchster Sopran in einem ist. Als ebenso erstaunlich gilt die Tatsache, daß die Callas als »prima donna assoluta« neben den Grenzen der Stimmlagen auch die »Fächer« des Opernrepertoires ignoriert, weil ihre universale Stimme allen drei Sopran-Kategorien gerecht wird: dem lyrischen (Mimi in »La Bohème«, Eva in den »Meistersingern"), dem dramatischen (Aida, Brünnhilde) und dem Koloratur-Fach (Rosine in »Der Barbier von Sevilla«, Königin der Nacht in der »Zauberflöte").

Sie singt die mit Koloraturen gespickte Partie der Konstanze in der »Entführung aus dem Serail«, deren halsbrecherische Martern-Arie Mozart »der geläufigen Gurgel« der Primadonna Cavalieri »aufgeopfert« hatte, ebenso wie die hochdramatische Brünnhilde in Richard Wagners »Ring«; weiter die typische Drei-Oktaven -Partie der Norma, die Bellini für die »göttliche« Pasta komponierte, und in Verdis Prunkoper »Die Sizilianische Vesper« die klippenreiche Partie der Herzogin Elena, die der Maestro für die Primadonna Sofia Cruvelli komponiert hatte, eine seiner Ansicht nach »verrückte Frau« aus Bielefeld mit dem schlichten deutschen Geburtsnamen Sophie Crüwell.

Die Callas besitzt schließlich ein eminentes schauspielerisches Talent. Sie versteht, sich als personifizierte Leidenschaft zu gebärden, und soll als Norma schon echte Tränen auf offener Szene vergossen haben. Von der marionettenhaften Primadonnen-Spielastik und der eingelernten Heroinen-Gebärde des italienischen Theaters hält sie nicht viel.

Ihre Unberechenbarkeit ("Es kostet Nerven, sich einmal nicht zu bewegen") ist deshalb hinter den Kulissen gefürchtet. Der durch seinen angeblich »veristischen« Stil in Italien bekannte Regisseur Luchino Visconti mußte nach einer »Traviata«-Premiere an der Scala herbe Kritik einstecken, weil ihm ein grotesker Einfall der Callas - sie streifte, sich im Sessel räkelnd, lässig die Schuhe von den Füßen und schleuderte sie über die Bühne - als rein äußerlicher Regie-Effekt ("Die Scala ist kein Zirkus") angekreidet wurde.

Das schauspielerische Temperament der Sängerin entspricht dem Grundcharakter ihrer Stimme, die trotz aller Vielseitigkeit doch ein etwas mehr dramatisch als lyrisch angelegter Sopran ist. Als »Tosca« ist die Callas in ihrer ersten Zeit sogar ausgepfiffen worden, so daß ihr der Impresario die Auszahlung der Gage verweigern wollte.

An dieser deutlich erkennbaren Grenze ihrer Gaben ist der »Primadonna des Jahrhunderts« ihre einzige ernsthafte Konkurrentin erwachsen: in der ehemals unangefochtenen Primadonna der Scala, Renata Tebaldi, einer Entdeckung Toscaninis ("Sie hat eine Engelsstimme"). Im Gegensatz zur Callas besitzt die Tebaldi einen ausgeprägt lyrischen Sopran.

Die beiden Primadonnen sind nach anfänglich sauersüßer Freundschaft heute völlig verfeindet. Es besteht jedoch auch im Lager der Griechin kein Zweifel, daß die Callas ("Ich verstehe mich auf den Haß") daran weit mehr Schuld trägt als die sanfte Tebaldi. Einen »Kampf zwischen Adler und Taube« nennt man daher den Primadonnen-Streit, in dem gleichfalls ein altes Motiv aus der jahrhundertelangen Geschichte des Ziergesangs wiederkehrt.

Konkurrenzkampf auf offener Bühne

Um die Leistungen der durchweg verfeindeten Primadonnen wechselseitig anzustacheln, den Ohrenschmaus zu verdoppeln und dem Publikum den Nervenkitzel eines jederzeit möglichen Skandals zu vermitteln, stellte man früher oft zwei »prime donne« nebeneinander auf die Musikbühne. Sie wurden unter den provokatorischen Zurufen der Galerie mehrfach zum Schauplatz von Konkurrenzkämpfen, die in Handgreiflichkeiten ausarteten. Berühmt ist ein Skandal zur Zeit Händels in London: Die Venezianerin Faustina Bordoni-Hasse und die temperamentvolle Francesca Cuzzoni kratzten und bissen sich auf offener Bühne. Bei anderer Gelegenheit hielt der bärenstarke Händel die zänkische Cuzzoni so lange zum Fenster hinaus, bis sie sich beruhigt hatte.

Solche Rivalinnen-Kämpfe zwischen »prima« und »seconda donna« blieben nicht auf das damals schaulustige London beschränkt. Das kunstliebende Paris war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur in Anhänger des deutschen Opernreformators Gluck und des Italieners Piccini geschieden. Es gab auch die Primadonnen-Parteien der »Maratisten« und der »Todisten«, nachdem Elisabeth Mara-Schmeling, an der Friedrich der Große die Geduld verloren hatte, aus Berlin in die französische Hauptstadt übersiedelt war und dort der Portugiesin Luiza Rosa Todi den Rang der Primadonna streitig machte.

Vollkommen ähnlich sind die italienischen Opernfans von heute in leidenschaftliche Anhänger der Callas und der Tebaldi geschieden. Diese Gegnerschaft findet sich sogar in Nord- und Südamerika. In Philadelphia, wo zahlreiche Italo-Amerikaner leben, wurde ein Platz nach der Tebaldi genannt. In Rio de Janeiro schnitten begeisterte Tebaldianer ihrem Idol bei einer turbulenten Begrüßung im Gedränge Locken aus der Frisur.

Umgekehrt versuchten die Parteigänger der Callas zu einer Zeit, da der Primadonnen-Kampf um den ersten Platz an der Scala noch unentschieden war, die Tebaldi durch Telephonanrufe und anonyme Drohbriefe zu zermürben, was in Mailand ernster ist als anderswo, da es an der Scala noch eine organisierte Claque gibt. Außerdem erschien »Freundin« Maria immer dann in einer Loge frontal zur Bühne, wenn die Tebaldi sang, und fixierte sie von dort aus scharf.

Die Tebaldianer Mailands rächten diesen lautlosen Terror, indem sie der Callas bei nächster Gelegenheit ein Bukett Radieschen auf die Bühne warfen. Auch diese Sendung vom Olymp des Opernhauses gehört zu den längst festgelegten Riten der Primadonnen-Kämpfe, seit in London eine Dienerin der englischen Primadonna Katherine Tofts deren Rivalin mit einer Apfelsine bewarf.

Die Callas revanchierte sich für die Radieschen-Sendung in ihrem Gespräch mit dem »Time«-Vertreter auf ihre Art. Zum Thema Tebaldi bemerkte sie scheinbar beiläufig (was sie nachträglich in »Oggi« abstritt): »Renata ist eine Frau ohne Rückgrat.« Es war eine gezielte Beleidigung vor dem Millionen-Parkett der »Time«- und »Life«-Leser.

Tief verletzt schrieb die Tebaldi einen Leserbrief an die »Time«-Redaktion. Darin hieß es: »Ich bin wirklich tief betroffen über das Urteil, das meine Kollegin Frau Maria Callas über mich abgegeben hat. Frau Callas behauptet, eine Frau von Charakter zu sein, und erklärt zugleich, daß ich kein Rückgrat habe. Meine Antwort: Ich habe etwas, was sie nicht hat, nämlich ein Herz.«

In diesem Fall übten die New Yorker Tebaldianer an der Callas Rache, wie die von der »Oggi«-Autobiographie eilfertig dementierte Callas-Legende nicht ganz unglaubwürdig überliefert. Die Galerie, so heißt es, habe der Primadonna ebenfalls Radieschen auf die Bühne geschickt, begleitet von dem Kommentar in italienischer Sprache: »Du hast sie in Mailand bekommen - du sollst sie auch hier haben.«

Das sei für den Callas-Gatten Meneghini zu viel gewesen. »Wir haben Geld genug«, habe der Sechzigjährige, hochrot im Gesicht, geschrien. »Meine Frau soll sofort die Bühne verlassen.«

Ähnlich hatte schon die Managerin der Tebaldi, ihre Mutter Giuseppina, während einer Vorstellung in der Scala gedroht, ihre Tochter werde sofort die Bühne verlassen, wenn die Callas ihre Mittelloge nicht räume. Tatsächlich mußte die Callas daraufhin auf Ersuchen des Scala-Intendanten Ghiringhelli in einer Seitenloge Platz nehmen.

Solche Aktivität der Sippe ist ebenfalls Primadonnen-Tradition, und immer waren dabei die Ehemänner oder die Mütter die wichtigsten Vertrauten und Intriganten. Im Falle der Callas liegt allerdings eine absonderlich anmutende Umkehrung der Verhältnisse vor. Die meiste Abneigung, ja unverkennbaren Haß empfindet die Primadonna, wie sie in ihrem »Time«-Interview zu erkennen gab, gegen ihre Mutter Evangelista.

»Sie ist groß und hager, hat eisgraues Haar und sieht aus wie sechzig. Sie lebt in einem ärmlichen Hause in Athen, verdient ein paar Pfennige mit der Herstellung von Puppen, die Opernfiguren darstellen. Das ist die Mutter der Callas.«

So begann die Illustrierte »Oggi« einen Artikel über »Die gute und die schlechte Tochter«. Darin figurierte die engelstimmige Tebaldi dank ihres guten Einvernehmens mit Mutter Giuseppina als helle Kontrastgestalt zu der »schlechten Tochter« Maria Meneghini-Callas, die 1951 ihrer Mutter auf deren Bitte um ein Darlehen von hundert Dollar folgenden Brief geschrieben hatte:

»Bleib mir mit Deinen Sorgen vom Leibe. Ich habe hart arbeiten müssen, um zu Geld zu kommen, und Du bist noch jung genug, um arbeiten zu können. Wenn Du es nicht fertig bringst, so viel zu verdienen, daß Du leben kannst, dann spring doch aus dem Fenster oder häng' Dich auf . . .«

»Als ich den Brief erhielt«, gestand die Mutter, »wollte ich mir wirklich das Leben nehmen.« Dann aber schrieb sie noch einmal nach Mailand und fragte nach dem Grund solcher Hartherzigkeit. Die Antwort der Callas war kurz: »Vergeude nicht Zeit und Tinte.«

Dem »Time«-Mann erklärte sie sich genauer. »Ich werde meiner Mutter nie verzeihen, daß sie mir meine Kindheit geraubt hat; immer mußte ich musikalisch schwer arbeiten. Sie hat mich nie geliebt, sie hat immer meine Schwester Jackie vorgezogen. ... Meine Familie ist jetzt mein Mann. ... Ich habe ein reines Gewissen.«

Der Mailänder Illustrierten »Epoca« gegenüber beklagte sich die Mutter der Sängerin bitter über das Verhalten ihrer berühmten Tochter. »Maria hat sich wie ein Teufel benommen.«

»Sie ist ein Teufel und hat teuflische Instinkte«, bestätigte auch der 77jährige Maestro Tullio Serafin, der mit der Callas die Hauptpartien einstudierte und musikalisch gleichsam Vaterstelle an ihr vertrat.

Auch ihm gegenüber zeigte sich die Primadonna als schlechte Tochter. Sie brach mit Serafin im vorigen Jahr, weil er gewagt hatte, eine »Traviata«-Aufnahme für die Schallplatten-Industrie mit der Tebaldi zu besetzen. Damit verlor der ausgediente Theater-Dirigent auch seinen Job als eine Art Studienleiter der Callas und ständiger Dirigent ihrer Schallplattenaufnahmen. Darüber hinaus registriert er seitdem eine auffallende Abneigung anderer Sänger, mit ihm zusammenzuarbeiten. Dazu die Callas: »Wenn jemand unrecht tut, muß er büßen.«

Unter den Künstler-Kollegen hat die Callas wenig Freunde, schon wegen ihrer Gewohnheit, den Beifall möglichst allein abzusahnen. In Rom hielt der baumlange russische Bassist Boris Christoff, sie einmal hinter der Bühne fest und erklärte, als sie wieder Anstalten machte, allein vor den Vorhang zu treten: »Entweder gehen wir jetzt alle hinaus oder keiner.« Andere, wie der Scala-Tenor Giuseppe di Stefano, lehnen es ab, künftig mit der Callas aufzutreten, und einer von diesen Opponenten sagte voraus, »daß der Tag kommen wird, an dem die Callas allein singen muß«.

Woher diese abnorme Unverträglichkeit gegen Verwandte und Kollegen stammt, erklärt möglicherweise eine nur scheinbar abseitige Beobachtung. Nach ihrem entscheidenden Durchbruch an der Scala und ihrem Triumph über die Tebaldi verlor die bis dahin figürlich noch immer enorm üppige Primadonna ziemlich rasch Gewicht, in drei Jahren insgesamt 60 Pfund, und vervollständigte damit ihren Sieg über die auch in dieser Hinsicht weniger glückliche Tebaldi, die es nur auf 13 Pfund Gewichtsabnahme brachte. Die Callas ist heute eine schlanke Frau mit einer für eine Stimme ihres kräftezehrenden Kalibers ungewöhnlich idealen Figur - eine »Pin-up-chanteuse«, wie die französische illustrierte »Paris Match« sich ungalant ausdrückte.

Dieser überraschende Gestaltwandel wurde allgemein auf eine radikale Abmagerungskur zurückgeführt, angeblich mit Hilfe von Spezial-Spaghettis, für die eine italienische Nudelfabrik mit dem Namen der Callas Reklame machte, bis die Sängerin einen Prozeß anstrengte und gewann.

Ein italienischer Arzt aber erklärte den Gewichtsschwund einleuchtender. Nach seiner Ansicht ist die Karriere der Callas die Geschichte vom häßlichen jungen Entlein, das plötzlich als Künstlerin entdeckt und auch als Frau anerkannt wurde. »Als sie nach dem Erfolg an der Scala alles erreicht hatte, was sie wollte, starb ihr enormer Appetit von selber ab.«

Die anderen Zeichen einer einseitig entwickelten, innerlich gehemmten Persönlichkeit verloren sich dagegen nicht. Die Feindschaft gegen Mutter und Schwester - übrigens nicht gegenüber dem Vater, der weiter in Amerika lebt - ist sogar erst in den letzten Jahren so kraß offenbar geworden. Die krankhafte Eifersucht der Callas auf die Tebaldi ist so stark wie eh und je, obwohl die Callas in der letzten Saison an der Scala 37 Mal, die Tebaldi ("Die Atmosphäre an der Scala ist nicht mehr angenehm") überhaupt nicht aufgetreten ist.

Als die Callas Ende vorigen Jahres in New York erfuhr, daß die Tebaldi wegen eines Wohltätigkeitskonzerts vom MailänderErzbischof Montini in Audienz empfangen werde, flog sie entgegen ihrer ursprünglichen Absicht noch vor Weihnachten nach Mailand zurück. (Dabei benutzte sie dasselbe Flugzeug wie der von ihr ausgebootete Bariton Sordello, der ihr auf dem Flugplatz versöhnlich die Hand hinstreckte. Die Callas übersah seine Geste und weiterhin seine Anwesenheit kühl, denn »wer sich einmal einer Dame gegenüber vorbeibenommen hat«, so dozierte die Primadonna mit dem tumultuösen Benimm, »ist als Kavalier erledigt«.)

Unmittelbar nach ihrer Ankunft schrieb sie einen Scheck über eine Million Lire aus und unterrichtete den Sekretär des Erzbischofs telefonisch von dieser Spende für wohltätige Zwecke. Sie hatte daraufhin die Genugtuung, mit ihrem Mann von Monsignore Montini empfangen zu werden, zwei Tage vor der Tebaldi.

Gefährlichere Konkurrenz erwächst ihr inzwischen nach Ansicht von Experten weniger von der Tebaldi, sondern möglicherweise von einer ganz anderen Seite. In Italien scheint ein neuer Gesangsstern aufzugehen. Eine junge Griechin erzielte in Oper und Konzert große Erfolge. Ihr Lehrer ist ein Athener Gesangsprofessor, der bereits mehrere Scala-Stars großgemacht hat. Seiner jüngsten Schülerin gab er das Gutachten mit: »Fräulein Elena Montesanto hat einen rein dramatischen Sopran von seltener Qualität.«

Dieser Künstlername will wenig besagen. In Wahrheit heißt die junge Griechin Calogeropoulos, Vorname: Giacinta. Es ist Mutter Evangelistas andere Tochter, die »Jackie« genannte Schwester der Callas.

* Andere Ausnahmen waren etwa Lilli Lehmann, die sowohl das dramatische wie das Koloraturfacb beherrschte - »Wenn's drauf ankommt, singt die Lehmann auch noch den Sarastro«, also den Baß in der »Zauberflöte« hieß es hinter den Kulissen der Berliner Staatsoper - weiter jene australische Primadonna Nelle Melba nach der die Internationale Eis-Spezialität »Pfirsich-Melba« benannt ist und die »schwedische Nachtigall« Jenny Lind

* Der Kammerton a, der beim Einstimmen der Orchester von der Oboe angegeben wird, liegt in der sogenannten »eingestrichenen« Oktave. Darunter liegen die »kleine«, die »große«, und die »Kontra-Oktave«, darüber die entsprechend mehrgestrichenen Oktaven. Die Partie der Brünnhilde in Wagners »Siegfried« reicht bis zum dreigestrichenen c, die der Königin der Nacht in Mozarts »Zauberflöte« bis zum dreigestrichenen f. Stimm-Abnormitäten wie der Koloratur-Sopran Erna Sacks erreichen noch das a und b der dreigestrichenen Oktave; eine Primadonna der Mozartzeit, »la bastardella« Agujari, sang sogar das viergestrichene c.

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