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Rudolf Augstein DIE REGIERUNG, DIE WIR GEWOLLT HABEN

Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 43/1969

Es war zu erwarten, die katholische Partei würde die Regierungsämter nicht aufgeben, ohne »Betrug« zu rufen, Manipulation, Verfälschung des Wählerwillens, und wieder, und ausgerechnet von dem 39jährigen Helmut Kohl, Betrug und Manipulation. Es war zu erwarten, die katholische Partei würde nicht verwinden, daß Macht nicht von ihr, sondern gegen sie ausgeübt wird. Sie muß, wie die katholische Kirche, den Pluralismus der Meinungen erst lernen, muß sich den demokratisch-egalitären Tendenzen anpassen. Das war mehr als fällig.

Aber sind denn die Wähler betrogen, ist ihr Wille manipuliert worden? Hat gar ein »Putsch gegen die Wähler« stattgefunden, wie der »Rheinische Merkur« lamentiert? Ist der Christen-Union der Sieg »gestohlen« worden (Bruno Heck)? Hat die Mehrheit der Wähler sich eindeutig für die Fortsetzung einer Politik unter Führung von CDU/CSU gegen einen Kanzler Brandt entschieden, wie die Landesleitung der CSU in einer »Danke für Ihr Vertrauen«-Annonce bekanntgab? Die Mehrheit der Wähler hat sich nur dann gegen einen Kanzler Brandt entschieden (und damit immer noch nicht für eine Politik unter Führung von CDU und CSU), wenn man die Stimmen der NPD denen der CDU/CSU schlicht hinzuzählt. Mit ähnlicher Beweiskraft könnte man die Stimmen der Nicht-Wähler und die ungültigen Stimmen als gegen Brandt und für Kiesinger abgegeben betrachten.

So wären denn die Wähler der CDU/CSU manipuliert und betrogen worden, weil die NPD nicht über die Hürde kam? Sogar Strauß wird das nicht lange behaupten wollen. Die Mehrheit der verfassungsgemäß zustande gekommenen Bundestagsfraktionen trägt den neuen Regierungsbund, sogar ohne die Stimmen der Einwohner West-Berlins und ohne jede Verfälschung eines imaginären, nur in der Einbildung der Politiker existierenden Wählerwillens. Die Wähler können nur antworten, was sie gefragt werden. Sie werden nicht gefragt, wer Kanzler, nicht, welche Koalition geschlossen werden soll, sondern ausschließlich nach der Präferenz für eine Partei. Der Dolchstoß des Jahres 1969 macht keine Legende.

Es stimmt, die Mehrheit ist knapp. Es stimmt, eine knappe Mehrheit ist weniger anfällig, wenn eine Partei regiert. Es stimmt, die FDP ist besonders anfällig, weil an die zehn von dreißig Abgeordneten lieber eine Koalition mit der CDU/CSU sähen.

Nur, was besagt das? Hätte die CDU/CSU diese zehn Abgeordneten -- und alle zehn kann sie nicht gewinnen -herausgebrochen, so hätte sie immer noch zwei Abgeordnete weniger als der am Dienstag zu wählende Kanzler. Kiesinger, der auch noch seine Ohnmacht mißbraucht, ist kein Brech-Mittel mehr.

Eine respektablere Mehrheit könnte auch schwerlich aus Neuwahlen hervorgehen, sondern allenfalls aus einem neuen Wahlgesetz, das die beiden großen Partei-Gruppen knallend ad acta gelegt haben. Somit: Eine CDU/CSU, die nicht auf Opposition setzt, sondern darauf, binnen zwei Jahren das abgelebte Kanzlerbild Kiesinger auf den Richtlinien-Sessel zu intrigieren, steht sich selbst und ihrer Erneuerung im Wege. Traut sie sich nicht zu, diese beiden Parteien SPD und FDP im Jahre 1973 Mores zu lehren? Offenkundig noch nicht.

Es mag ja richtig sein, daß die Christen-Union 1973 wenig Chancen hat, wenn sie aus der Opposition heraus einen Kanzler-Kandidaten, womöglich den Rainer Barzel, anbieten muß. Nur, die FDP rechnet nicht anders. Jene fünf oder sieben FDP-Abgeordneten, deren Übertritt die CDU immer noch erhofft, wissen, daß sie ihre Partei vernichten würden. Dazu gehört nicht nur ein Stück Charakter, sondern auch ein Stück Schurkengesinnung. Jene Abgeordneten, die ich sehe, bringen das nicht über sich. Nein, diese Koalition hat eine Chance, bis 1973 zusammenzubleiben, eben weil sie eine so schmale Mehrheit hat; aber auch, weil die noch verbleibende Spielart »Große Koalition« schon aufgebraucht ist.

Die SPD wird bis zu Neuwahlen 1973 oder früher unter keinem CDU-Kanzler in die Regierung gehen, soviel steht fest (das Umgekehrte, daß nämlich die Christen-Union nicht unter einem SPD-Kanzler dienen würde, stand ja immer fest). Also kann es keine Verbreiterung der Regierungsbasis geben, es sei denn, die FDP als Fraktion ginge zur CDU/CSU über.

Das Fazit ist zwingend. Nur wenn die Mehrheit der dreißig FDP-Abgeordneten zur CDU hin Selbstmord begeht, gibt es das, was man eine stabilere Regierungsmehrheit nennt. Der Fall ist zu unwahrscheinlich. Also wird man auf seiten der CDU/CSU gut tun, sich auf eine starke Opposition eher als auf den Absprung von FDP-Abgeordneten zu kaprizieren. Bis zu Neuwahlen gibt es keine stabilere Mehrheit, und vorzeitige Neuwahlen kann zuallerletzt die FDP wollen (wir Wähler noch weniger).

Wer diese Regierung gewollt hat, muß gleichwohl ins Auge fassen, daß sie unverhältnismäßig viel Kraft darauf verwenden wird, die nötigen Mehrheiten immer parat zu haben. Aber das wäre unter einer Renegaten-Regierung der CDU/CSU nicht anders. Fortschreiten wird diese Regierung langsam, aber zu ihrem Glück wird sie daran gemessen, wie eine Renegaten-Regierung der CDU/CSU wohl fortschreiten würde.

Willy Brandt will ein Kanzler der inneren Reform sein, was Präsident Nixon niemals vorgegeben hat. Aber was »Time« kritisch über Nixon schrieb, könnte auch Brandt abschrecken. »Der Fehler der Nixon-Regierung«, schrieb »Time«, »ist die Neigung des Präsidenten, vorsichtig halbe Schritte zu machen in der Hoffnung, zur gleichen Zeit jene Kritiker zu beruhigen, die große Sprünge fordern, und jene nicht zu verärgern, die auf Stillstand beharren. Wie lobenswert auch jede kleine Tat sein mag -- am Ende befriedigt diese Politik niemanden und setzt den Präsidenten dem Vorwurf aus, ihm gehe es mehr darum, Aktivität vorzutäuschen, als grundlegenden Wandel herbeizuführen.«

Grundlegender Wandel bei uns wäre nicht nur erwünscht, sondern nötig. Aber will die Bevölkerung grundlegenden Wandel? Doch wohl eher nicht. Und was wäre ein grundlegender Wandel? Gibt es einen grundlegenden Wandel, den die FDP, die einst Deutschland verändern wollte, mitmachen könnte? Wird die FDP jene linke Komponente einer sich öffnenden Gesellschaftspolitik entwickeln, die zu respektieren auch für die SPD lohnend sein könnte? Oder wird sie sich im Bremserhäuschen scheinbar unentbehrlich, in Wahrheit überflüssig machen? Daß die Mehrheit der Wähler immer noch mittelständlerischbesitzbürgerlich fühlt, scheint offenkundig. Wird die FDP nach rückwärts oder nach vorwärts beharren?

Werden Brandt und Scheel den Mut haben, das Verhältnis zur rebellischen Jugend durch eine Amnestie neu zu gründen? 10 000 Verfahren stehen an. Werden die beiden Vorsitzenden initiativ, um den Hunger-Ländern seitens der Industrie-Staaten wirksamer als bisher beizustehen? Das heißt beinahe schon zuviel verlangen. Aber Brandt hat uns versprochen, Zeichen zu setzen. Sie können sich nicht in der Kilometerpauschale erschöpfen.

Freilich, was immer an Neuerungen ansteht, kann von dieser Koalition besser geleistet werden als von ihrer allein möglichen Alternative:

* finanzielle Mitbeteiligung der Arbeitenden;

* Mitverantwortung der Arbeiter, Angestellten und Beamten in allen Bereichen, etwas unscharf Mitbestimmung geheißen;

* gerechtere Steuern zuungunsten der Großverdiener;

* Reform des Ehe- und Familienrechts;

* Zusammenfassung der kulturellen Bundes-Kompetenzen, konzentrierte Planung der Ausgaben für Forschung und Wissenschaft;

* bessere Beziehungen zu Sowjet-Rußland, Polen und zur DDR. Ob Dr. Willy Brandt ein Bundeskanzler ist, wird sich herausstellen. Der, den er ablöst, war eine Galionsfigur, die nur immer tönte »Ich regiere, ich regiere, ich regiere« und »Ich bin ein starker Mann«.

Bessere Männer, wenn solch rüder Qualitätsvergleich erlaubt ist, sitzen künftig auf den Stühlen des Verteidigungsministers, des Innenministers und auch des Finanzministers. Denn es läßt sich nicht übersehen, daß der publizitätsstarke Franz Josef Strauß nach dem Verteidigungsressort nun auch das Bundesfinanzministerium in einem Strudel demagogischer Unzulänglichkeit räumt, so sehr, daß der formal unbeteiligte Bankier Abs als Sündenbock mit Groll und Kritik beladen wird, und nicht etwa der verantwortliche Minister. Jedenfalls kann die Reform der Bundesfinanzen jetzt von einem Minister betrieben werden, dem dies Geschäft nicht zu gering erscheint.

Schiller bleibt Schiller. Aber daß der Wahlspruch von den richtigen Männern gefährlich übertrieben war, zeigt sich trotz der zusammengestrichenen Minister-Liste. Einen überzeugenden Nachfolger auf dem Stuhl Heinemanns, Dehlers und Ehmkes haben die beiden Parteien offenbar nicht anzubieten. Daß der Gesamtdeutsche Minister Egon Franke heißt, mag wenig besagen. Will man, wie man gelegentlich soll, zynisch sein, wird man die Wichtigkeit dieses Ministeriums nicht eben hoch veranschlagen. Es ist, rundheraus, überflüssig. Mit einem Amt für innerdeutsche Regelungen unter direkter Kompetenz des Kanzlers wäre allen gedient.

Die Landwirtschaft kann unter dem Bayern Josef Ertl nicht subventionistischer verfahren werden als unter der Jean-Paul-Figur Hermann Höcherl. Allenfalls verspricht das Desinteresse der beiden Regierungspartner an bäuerlichen Wählerstimmen hier einige Erleichterung. Ob es weise ist, das Ministerium des emsigen Hann Katzer nicht mit dessen SPD-Zwilling Professor Schellenberg, sondern mit dem Gewerkschaftsboß Walter Arendt zu besetzen, muß sich, auch und gerade im Hinblick auf »wilden« Streik, herausstellen. Der eine war einschlägig bewandert, der andere muß sich bewandern lassen.

Das gefährlichste Versäumnis drohte eine Weile da, wo bislang schon am ungescheutesten gesündigt wurde, im, wie es nun heißen soll, Ministerium für Wissenschaft und Bildung. Hier müßten die zu knappen Mittel für sämtliche Forschungsvorhaben gesteuert, hier die Rahmenpläne für Schulen und Hochschulen der Bundesländer durchgesetzt werden. Nichts gegen Klaus von Dohnanyi, dessen Phantasie sich auf elegante technische Lösungen sehr wohl einlassen kann: Aber in dieses Amt gehört entweder ein durchsetzungskräftiger, im Partei-Establishment angesehener Boß oder ein einschlägig erfahrener Außenseiter, der sich über Bund-Länder-Kompetenzen und über der Hochschul-Misere die Hacken wundgelaufen hat. Wenn kein deutscher Wedgwood Benn zu haben ist, so genügt es denn doch nicht, Stoltenberg zu ersetzen (daß Dahrendorf Junior unter Scheel wird, anstatt als Abgeordneter da zu karren, wo Not am Mann ist, mindert den Nennwert großer Sprüche).

Die richtigen Frauen hat uns die SPD gar nicht erst versprochen, und so kann man sagen, daß diese Regierung das kritische Vertrauen, das wohlwollende Interesse der Öffentlichkeit verdient. Herbert Wehner zum Fraktionsvorsitzenden zu machen, war eine Königsidee.

Fläche zu kritischem Widerstand wird dies Kabinett freilich bieten, genug, um eine Opposition mit Fuß und Hand auf die Beine zu bringen, wenn es denn überhaupt in den Fähigkeiten von CDU und CSU liegt, ein Gegenkonzept innerparteilich zu entwickeln.

Gäbe es solch eine Opposition, verlöre die Klage der Christen, sie seien von den Fernsehleuten und Journalisten benachteiligt worden, schnell ihren Gegenstand. Denn natürlich ist Kritik für den fähigen Kopf reizvoller als Zustimmung, und wachsam, sagen wir zu 51 Prozent wachsam gegen die Regierung, ganz gleich welche Regierung, sollten Fernsehen und Journalisten immer eingestellt sein.

Sagen wir CDU und CSU darum noch einmal, warum sie bislang zu Recht das Gefühl hatten, von der Publizistik benachteiligt zu werden. Jene, wie der Vorsitzende der Christlichen Studenten sagt, »Argumente aus der Mottenkiste der fünfziger Jahre«, jene unwahrhaftige Ausbeutung des verlorenen Krieges und der zerstobenen Illusionen, jene roßtäuscherischen Revisionismen, jene Oder-Neiße-Rabulistik, DDR-Phänomenologie und atomare Europa-Spinnerei wird von Leuten, die beruflich mit Politik zu tun haben, immer weniger akzeptiert.

Was aus Bayern, und nicht nur aus Bayern, nach den Wahlen zu vernehmen war, läßt allerdings auf Einsicht noch nicht hoffen. Da kündigen sie einen permanenten Wahlkampf an, beklagen den »Ausverkauf Deutschlands« und den »programmierten Untergang deutscher Wirtschaftskraft«, den »Untergang der deutschen Souveränität«, alles im »Bayernkurier«. Da schreibt der »Rheinische Merkur« von dem zu erwartenden »Ausverkauf In der Außenpolitik«. Die CSU-Landesleitung gelobt in Zeitungsannoncen, »den Ausverkauf der Rechte unseres Landes und seiner Bürger zu verhindern«. Rundum Total-Ausverkauf.

Strauß selbst spricht von der »Politik des Verzichts auf deutsche Rechte und Interessen«. Sind wir Propheten, wenn wir weissagen, daß die alten Hüte der CSU, denen kein CDU-Vorsitzender widerspricht, die Publizistik weiter mit Schlagseite gegen diese Mittelstands- und Kleine-Landwirte-Gesinnung in Rage bringen?

Eine bessere, eine stärkere, eine ausgewogenere Regierung ist denkbar, aber nicht zu sehen. Glück zu, Ihr Damen und Herren dieser Regierung, handeln Sie nach dem Motto, das der Preußen-Friedrich nach dem Haaresbreite-Sieg bei Liegnitz kreierte: »Gott ist stark in den Schwachen.« Solange Sie von der Opposition Stinkbomben statt Gegenkonzept zu gewärtigen haben, wird die intelligente Meinung dieses Landes mit Ihnen sein.

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