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Die Reichen sind nun gleicher als gleich

SPIEGEL-Redakteur Rolf Lamprecht über das Parteispenden-Urteil des Bundesverfassungsgerichts *
aus DER SPIEGEL 30/1986

Artikel 3 des Grundgesetzes bestimmt: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.« Aus diesem Gebot, einem Leitsatz aller Demokratien, hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) »das Recht der Bürger auf gleiche Teilhabe am politischen Willensbildungsprozeß« hergeleitet.

Die Bedeutung dieses obersten Prinzips wurde über Jahrzehnte hinweg festgeschrieben, in vier Grundsatzurteilen: Eine Einflußnahme auf politische Parteien durch unterschiedlich hohe steuerbegünstigte Spenden sei strikt verboten. Der Vermögende solle gegenüber dem Kleinverdiener nicht bevorzugt, seine politische Meinung nicht vom Finanzamt prämiert werden.

Letzte Woche fanden sechs von acht Richtern des Zweiten BVG-Senats eine verblüffende neue Deutung des Gleichheitssatzes: Nach ihrem »Parteienfinanzierungs-Urteil« darf in Zukunft jeder Bundesbürger bis zu 100000 Mark spenden und diese Summe steuermindernd vom Einkommen absetzen.

Der Milliardär Friedrich Karl Flick und der Arbeitslose werden insoweit gleich behandelt: Beide dürfen 100000 Mark im Jahr steuerbegünstigt spenden.

Der Normalbürger verdient nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes durchschnittlich 35000 (Arbeiter) bis 45000 Mark (Angestellte) im Jahr. Er darf also theoretisch das Zwei- oder Dreifache seines Jahreseinkommens steuerbegünstigt spenden und ist nun, aberwitzig genug, dem Multimillionär gleichgestellt, der dieselbe Summe aus der Westentasche bezahlt.

Das Urteil erinnert an den Aphorismus des französischen Literaten Anatole France: Das Gesetz in seiner erhabenen Gleichheit verbietet Armen und Reichen, unter den Brücken zu schlafen.

Eine derart zynische Auffassung von Gleichheit hat das BVG bislang dem Gesetzgeber nie durchgehen lassen. Die Verfassungsrichter haben vielmehr immer gefordert, daß bei der Auslegung des Grundrechts alle »tatsächlichen Gleichheiten und Ungleichheiten« zu berücksichtigen seien. Mit der Fehlentscheidung

- einer weiteren in einer langen Kette - hat der Zweite Senat seine langjährige Rechtsprechung aufgegeben und damit, so »Die Zeit«, »das ganze Ausmaß der richterlichen Abdankung« offenbart. Das Gericht, das einst seine vornehmste Aufgabe darin sah, die Omnipotenz der Parteien zurückzustutzen, gab wieder mal dem hemdsärmeligen Umgang der Politiker mit Recht und Verfassung die höheren Weihen.

Wie stark die Richtermehrheit des Zweiten Senats dazu neigt, klare Rechtsnormen und eigene Grundsatzurteile ersichtlich aus politischer Opportunität zu mißachten, zeigte sich vor allem an zwei Urteilen der letzten Jahre: *___So wurde der Verfassungsbruch, daß der Zivildienst nach ____der gesetzlichen Neuregelung von 1983 fünf Monate ____länger dauert als der Wehrdienst, höchstrichterlich ____gebilligt und ebenso *___der rechtswidrige Ausschluß der Grünen von den ____Beratungen der Ge heimdienst-Etats im Parlament gut ____geheißen.

Wie in diesen beiden Fällen zeigte der Senat auch mit seinem Parteispenden-Urteil ein gestörtes Verhältnis zu dem - neben der Achtung der Menschenwürde - höchsten Verfassungsgebot, dem Gleichheitssatz. Anlaß für das Urteil letzter Woche war eine Verfassungsklage der Grünen. Sie ließen ein Gesetz von 1983 überprüfen, mit dem die etablierten Parteien ihre verrotteten Finanzen in Ordnung bringen wollten.

Ihre rüde Geldbeschaffung war seit vielen Jahren umstritten. Dauernd am Rande der Pleite wirtschaftend, waren alle in kriminelle Aktivitäten verstrickt: in Steuerhinterziehungen von abenteuerlicher Größenordnung, in die verfassungswidrige Verschleierung der Namen von Großspendern.

Das in Karlsruhe angefochtene Gesetz, das seit 1. Januar 1984 in Kraft ist, erlaubt zum einen den Abzug von Spenden bis zur Höhe von fünf Prozent des Einkommens einer Einzelperson oder von zwei Promille des Umsatzes und der Löhne eines Unternehmens als Sonderausgaben. Zum anderen sieht es Zahlungen des Staates an die Parteien vor, den sogenannten Chancenausgleich. Dadurch soll kompensiert werden, daß die Parteien für Spender unterschiedlich attraktiv sind (siehe Graphik).

Dieser Ausgleichsbetrag wird auf höchst komplizierte Weise berechnet. Der Staat verschenkt, so die grundsätzliche Überlegung, Steuereinnahmen, wenn er Spenden als abzugsfähig anerkennt. Bei der Kalkulation, auf wieviel Geld der Staat damit insgesamt verzichtet, legen die Finanztüftler einen fiktiven Steuersatz von 40 Prozent zugrunde, der normalerweise fällig wäre. Die Summe der entgangenen Steuereinnahmen wird dann als staatlicher Zuschuß für die Parteien behandelt und nach einem festgelegten Schlüssel verteilt.

Als Maßstab dient dabei die Partei mit dem höchsten Aufkommen an Spenden und Beiträgen. Die minderbemittelten Parteien erhalten, je nach ihren eigenen Einnahmen und dem Anteil von Zweitstimmen bei der letzten Bundestagswahl, den Chancenausgleich. Für 1984 mußte die SPD als Maßstabspartei herhalten.

Dabei zeigte sich, wie fragwürdig die ganze Regelung ist. Die SPD bekam zwar nur wenige Spenden, hatte aber hohe Summen aus Mitgliedsbeiträgen in der Kasse - die Genossen erhielten deshalb keinen Pfennig aus dem Chancenausgleich. Andere Parteien, die, umgekehrt, hohe Spenden- und geringe Beitragseinnahmen verbuchen, erhalten dagegen einen Zuschuß aus der Staatskasse - der beabsichtigte Spendenausgleich wird völlig verzerrt. Diese Regelung ist auch noch auf andere Weise dubios: Jeder Spender unterstützt, über den Chancenausgleich, mit seinem Geld indirekt auch die gegnerischen Parteien.

Die Senatsmehrheit hatte an all diesen Ungereimtheiten nichts auszusetzen. Auch der willkürlich angenommene Steuersatz von 40 Prozent wurde anstandslos akzeptiert, obwohl Großspender zumeist dem Spitzensatz von 56 Prozent unterliegen.

Nur mit ihrem Trick, daß bis zu fünf Prozent des Einkommens eines Gebers oder bis zu zwei Promille des Umsatzes und der Löhne eines Unternehmens als Spende abzugsfähig sind, kamen die Parteien in Karlsruhe nicht durch. Das Gericht, das ähnliche Regelungen schon früher einmal kassiert hatte, hielt formal an seiner alten Rechtsprechung fest.

Danach verstößt eine »unterschiedliche steuerliche Behandlung der Einflußnahme auf die politische Willensbildung je nach der Höhe des Einkommens« gegen den Gleichheitssatz. Denn unstatthaft sei, daß dadurch »zugleich die Parteien bevorzugt würden, die eine größere Anziehungskraft als andere Parteien auf kapitalkräftige Kreise ausübten.

Dazu steuerte der Senat ein Rechenexempel bei: Wer 18000 Mark im Jahr verdiene und 2100 Mark spende, habe einen Steuervorteil von 731 Mark; wer eine Million verdiene und 51200 spende, spare 28421 Mark an Steuern. Diese Ungleichheit sei verfassungswidrig.

Um so unbegreiflicher ist deshalb, daß die Verfassungsrichter, ohne nähere Begründung, gegen ihr eigenes Prinzip verstoßen und abzugsfähige Spenden bis zu

100000 Mark erlauben. Dem Großverdiener mit einer Million Mark Jahreseinkommen wird einerseits die steuerbegünstigte Spende von fünf Prozent seiner Bezüge, also 50000 Mark, verboten. Andererseits aber darf er, seit dem überraschenden Urteil, künftig die doppelte Summe steuermindernd absetzen.

Wie absurd die Logik der Senatsmehrheit ist, wird - wie so oft in den letzten drei Jahren - an der »abweichenden Meinung« der Minderheit deutlich. Professor Ernst-Wolfgang Böckenförde, ein besonnener Wissenschaftler, ging mit der Mehrheit hart ins Gericht: Die steuerliche Abzugsfähigkeit bis zu einem Betrag von 100000 Mark liege »außerhalb jeder Rechtfertigungsmöglichkeit«.

Böckenförde, dessen Votum von Richter Ernst-Gottfried Mahrenholz unterstützt wird, hielt es für »offenkundig, daß von diesem Abzugsbetrag nicht einmal in Annäherung alle Bürger in vergleichbarer Weise Gebrauch machen können«. Mithin würden »die Bezieher großer Einkommen in erheblichem Ausmaß absolut und proportional privilegiert«.

Das heißt mit anderen Worten: Sämtliche Eigenzitate aus früheren Urteilen, mit denen die sechs Mehrheitsrichter vorgeben, die alte Rechtsprechung zur »gleichen Teilhabe« aller Bürger an der politischen Willensbildung aufrechtzuerhalten, sind nichts weiter als inhaltsleere Worthülsen. Statt dessen gilt: Die Reichen sind nun gleicher als gleich.

Darüber hinaus rügten die beiden Abweichler, daß nicht nur natürliche, sondern auch juristische Personen in den Genuß der Steuerbegünstigung kämen. Auf diese Weise erhielten »jene natürlichen Personen, die hinter der juristischen Person stehen und durch sie agieren, gleichheitswidrig eine zusätzliche Möglichkeit der steuerbegünstigten Einflußnahme auf die politische Willensbildung, die anderen Bürgern vorenthalten« sei.

Steuerliche Vergünstigungen dieser Art, »die praktisch vor allem Wirtschaftsunternehmen und Verbänden zugute« kämen, ließen sich, so das Votum der beiden Richter, »im demokratischen System nicht rechtfertigen«. Ein Blick auf das Organisations-Schema eines mittleren Konzerns genüge, um zu erkennen, »wie schnell zehn oder mehr von der Konzernleitung maßgeblich beeinflußte oder beherrschte Tochtergesellschaften in Form juristischer Personen« zusammenkämen. »Nach der Rechtsauffassung des Senats« könne jede bis zu 100000 Mark steuerbegünstigt spenden.

Damit ist die obskure Spendenpraxis der letzten Jahre doch noch legalisiert worden. Böckenförde und Mahrenholz: Das Mehrheitsurteil eröffne »auch ohne besondere Findigkeit den Weg zu steuerbegünstigten Millionenspenden an politische Parteien«.

[Grafiktext]

FÜR SPENDER UNTERSCHIEDLICH ATTRAKTIV Die Einnahmen der Parteien in der Bundesrepublik in Millionen Mark; Zahlen in Klammern = Anteile der Einzelposten an den Gesamt-Einnahmen in Prozent CDU CSU SPD FDP Grüne 192,8 Mill. Mark 42,6 Mill. Mark 198,1 Mill. Mark 28,6 Mill. Mark 34,9 Mill. Mark = Beiträge 83,3 (43,21) 14,7 (34,46) 98,1 (49,52) 7,9 (27,75) 3,7 (10,49) = Spenden 24,0 (12,46) 12,4 (29,11) 16,2 (8,17) 8,7 (30,48) 5,5 (15,87) = Wahlkampfkosten-Erstattung 71,8 (37,23) 13,7 (32,18) 71,1 (35,87) 10,1 (35,19) 24,2 (69,37) Sonst. 13,7 (7,09) 1,8 (4,26) 12,7 (6,44) 1,9 (6,59) 1,5 (4,26) Quelle: Rechenschaftsberichte 1984 der politischen Parteien

[GrafiktextEnde]

Rolf Lamprecht

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