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SPIEGEL Essay Die Religion des Herzens

von Norman Birnbaum Norman Birnbaum, 1926 in New York geboren, ist Professor an der Washingtoner Georgetown-Universität, Mitherausgeber der Zeitschrift »The Nation« und war Berater Edward Kennedys im Wahlkampf.
Von Norman Birnbaum
aus DER SPIEGEL 6/1981

Die amerikanische Literatur kommt nur selten über die Sentimentalität hinaus. Unsere Romanciers mögen mit Celine durchaus in der Beschreibung der schmutzigen Abgründe des Großstadtlebens konkurrieren, sie mögen mit Kafka durchaus in ihrer Abbildung der Absurdität der Welt wetteifern, Graß ohne weiteres in der Schilderung des Grotesken erreichen können, in ihren Herzen sind sie jedoch unheilbar naiv.

Der Mensch ist im Grunde seiner Seele gut, nur das Leben ist schlecht -- oder zumindest beklagenswert verworren. Graham Greene hat über den friedfertigen Amerikaner geschrieben, der unser Desaster in Vietnam vorweggenommen hat, indem er versuchte, Gutes in Indochina zu tun. Selbstverständlich bewirkte er das Gegenteil.

Sind wir, wenn wir die welthistorische Szenerie betrachten, eine Nation friedfertiger Amerikaner? Die amerikanische Reaktion auf die Gefangenschaft und die Freilassung unserer Geiseln erweckt den Eindruck, daß wir als Volk weder bereit noch fähig sind, die Bürde einer Weltmacht zu tragen.

Die Rückkehr der Geiseln hat einen beispiellosen Ausbruch nationaler Selbstgerechtigkeit ausgelöst. Selbstgefälligkeit und Selbstmitleid haben gemeinsam verhindert, daß über die Gründe und Konsequenzen unseres Debakels im Iran nüchtern nachgedacht wird. Präsident Reagan ist sogar so weit gegangen, daß er auf seine üblichen Beschimpfungen der »Bürokraten« verzichtete, um die Geiseln zu Helden zu verklären (die, das versteht sich von selbst, nicht etwa in geringerem Maße »Bürokraten« sind als Millionen anderer Staatsbediensteter).

Die Bezeichnung der Perser als »Barbaren« geht unzähligen Amerikanern so leicht von den Lippen, daß man die Vereinigten Staaten im ersten Moment mit einem Stadtstaat der griechischen Antike verwechseln könnte -wie da bald fassungslos und bald verzweifelt die offenkundige Unfähigkeit der übrigen Welt bestaunt wird, unseren olympischen Maßstäben standhalten zu können.

Präsident Reagan selbst hat sich so ausgedrückt. Vielleicht wurde er in seinem Verdammungsurteil über die iranische Revolution durch seinen politischen Verbündeten, den Reverend Falwell, bestärkt -- das geistige Oberhaupt der »moralischen Mehrheit« und gestrenger Anwalt des amerikanischen Gottesstaates, der weder vor Bücherverbrennung noch vor Antisemitismus zurückschrecken würde. Jedenfalls hat Chomeinis Ruf nach islamischer Erneuerung zu einer amerikanischen Neuauflage des Calvinismus geführt.

Aber die Theologen Neuenglands wurden längst durch ihre weltlichen Nachfolger ersetzt -- durch unsere Fernsehkommentatoren, die allabendlich vor einer Millonengemeinde predigen und ihren Redeschwall als »Nachrichten« tarnen. Die Fernsehgesellschaften waren in ihrer Berichterstattung über die Heimkehr der Geiseln förmlich außer Rand und Band.

Die Zeitungen konnten dagegen nur mit Einsatz der vollen journalistischen Erfindungsgabe ankämpfen: Eine der Geiseln hat »Newsweek« beschuldigt, ein angeblich mit ihr geführtes Interview völlig aus der Luft gegriffen zu haben. Die Fernsehkommentatoren haben ihre Programme damit beendet, indem sie die Tage der Gefangenschaft der Geiseln zählten -- es war, als ob sie eine neue Schöpfungsgeschichte zu schreiben hätten.

Die biblischen Parallelen ergeben schon einen Sinn. Amerika ist eine Nation, in der selbst Katholiken und Juden dazu angehalten wurden, wie Calvinisten zu denken und zu handeln. Unser Calvinismus ist, endlich!, schwächlicher geworden -- aber er ist immer noch unser wichtigstes gemeinsames Kulturerbe, vielleicht unser einziges. Die Einsichten des früheren amerikanischen Puritanismus über die Finsternis, die über den Geist waltet -das alles ist Vergangenheit. Was übriggeblieben ist, leitet sich aus einer weniger rigiden Spielart des Protestantismus her, der Religion des Herzens.

Der amerikanische Calvinismus und die amerikanische Sentimentalität haben sich zu der populären Gotteslehre verbunden, die unser grobschlächtiger Ersatz für eine Philosophie der Geschichte ist.

Laut Max Weber ist Politik ein starkes, langsames Durchbohren von harten Brettern. In der amerikanischen Version ist Politik ein kurzer Ausflug ins ewige Heil.

In der Trümmerlandschaft unseres öffentlichen Lebens sind wir Pilger -wir suchen nach Zeichen und Wundern und finden nur Anzeichen des Verfalls. Das geradezu versessene Starren einer ganzen Nation auf die Geiseln, die Bedeutung, die wir ihrer Gefangenschaft und Rückkehr zugemessen haben, offenbart unsere Unfähigkeit, die Zeitgeschichte auch nur zu verstehen -- von ihrer Bewältigung ganz zu schweigen.

Wir reagieren mit Verzweiflung, Verständnislosigkeit und Wut auf die Stöße, welche die Geschichte unserer Selbstzufriedenheit versetzt. Wenn sie am meisten gebraucht werden, glänzen unsere Eliten durch Abwesenheit, oder sie sind damit beschäftigt, das allgemeine Leiden zynisch zu ihrem Nutzen zu manipulieren.

Selbstverständlich werden solche hohlgewordenen Eliten nicht geboren: Sie werden gemacht. Burke hat die französischen Revolutionäre beschuldigt, sie hätten das einfache Volk der einfachen Freuden der Armut beraubt, weil sie in ihrem Hochmut versuchten, eine Republik der Tugend zu etablieren. Viele amerikanische Politiker, Geschäftsleute und Journalisten werden wahrscheinlich von Burke gehört haben: Wenige werden ihn auch gelesen haben. Aber instinktiv haben sie begriffen, worauf es ihm ankam. Panem et circenses in all seinen amerikanischen Spielarten bietet freien Eintritt.

Dem Glanz und der Pracht der Amtseinführung folgte der Plan Präsident Reagans auf dem Fuße, die Nahrungsmittelsubventionen für die Armen um 25 Prozent zu kürzen und so den Hunger wieder in sein altes Recht einzusetzen, nämlich dem Fleiß Ansporn zu sein.

Ein lärmender Ideologe auf dem rechten Flügel der Demokratischen Partei hat vor geraumer Zeit den Ausdruck geprägt, daß Amerika die Nummer eins sei. Und tatsächlich wurden die Geiseln bei ihrer Rückkehr mit Spruchbändern begrüßt, auf denen man lesen konnte: »Vereinigte Staaten gegen Iran: 52:0«. Die Umdeutung einer historischen Tragödie zu einem Fußballspiel könnte man als eine Art geistiger Onanie abtun -- würde aus ihr nicht eine historische Unwissenheit sprechen, die zu tiefgreifend ist, als daß sie nicht gefährlich wäre.

Doch Vereinfachungen helfen nicht weiter. Unsere Eliten haben das Land noch nie vollständig beherrscht oder vollständig in der Hand gehabt. Unsere potentiellen Herrscher sind im Grunde ihres Herzens verängstigte Diener, die sich, wie es zur Zeit aussieht, davor fürchten, daß sie all ihre Macht verlieren, und es gibt nichts, was sie nicht augenblicklich leichten Herzens fahren ließen, ohne jegliche Scham und bar aller Prinzipien.

Bei den Feierlichkeiten zur Amtseinführung haben sich die reichen Spießer, die rohesten Vertreter des Schaugewerbes aus Hollywood und eine Schicht raffgieriger, zur Auspowerung der Nation entschlossener Geschäftemacher zusammengefunden. Diesen Emporkömmlingen S.109 mangelt es sogar an einem sicheren Selbstverständnis.

Die meisten unserer sogenannten Militärexperten kennen Kriege nur aus ihren Schlachten um akademische Würden und ihren Kämpfen ums Weiterkommen in ihren Rechtsanwaltsfirmen. Wie unsere übrigen Eliten sind sie jedoch außergewöhnlich geschickt, wenn es darum geht, anderen Schaden zuzufügen. Präsident Reagans Aufforderung, zu amerikanischen Werten wie Gemeinschaft, Familie und Arbeit zurückzukehren, ist pure Nostalgie.

Unsere Eliten leben nicht nach diesen Wertbegriffen -- die den Superreichen unserer großen Konzerne ebenso offenkundig abgehen wie den Spitzengremien amerikanischer Politiker. Geführt von den historisch Blinden und den geistig Lahmen -- was bleibt unserem Volk außer einer Pseudo-Politik, die von Zeit zu Zeit durch spastische Zuckungen des Zweifels und der Wut unterbrochen wird?

Sosehr wir uns öffentlich gefreut haben, daß die Geiseln zurückkehren konnten -- es gab einen Kontrapunkt zu dieser Freude: die Hartnäckigkeit, mit der manche darauf bestanden, daß die Vereinbarungen mit den Persern gebrochen werden müßten.

Kissinger verschwendete viel Energie darauf, die Verhandlungen schon für ehrlos zu erklären, als sie noch nicht abgeschlossen waren. Als die Freilassung von der ganzen Nation gemeinsam gefeiert wurde, fand er nicht den Mut, zu seinen erbärmlichen Überzeugungen zu stehen, und wählte einen für ihn außergewöhnlichen Ausweg: den des Schweigens. Und doch war es der gleiche Kissinger, der Carter bewog, den Schah in die USA kommen zu lassen.

Und was Präsident Reagan betrifft: Er hat der Welt gedroht, daß künftig jeder, der unsere Diplomaten als Geiseln nimmt, mit fürchterlicher Vergeltung rechnen muß.

Die frühere berufliche Laufbahn des Präsidenten ist insofern nicht ohne Bedeutung, da er uns an König Lear erinnert: »Will solche Dinge tun -- was weiß ich selbst noch nicht.« Die Drohung ist eine offene Einladung für Gefahr in einer Welt, die von fanatisierten Haufen und Terroristen jeglicher Spielart bevölkert ist.

Der Scharlatan Brzezinski hatte an einem bestimmten Punkt der Entwicklung den Wunsch nach einem Mayaguez-Zwischenfall geäußert, der die Carter-Regierung in die Lage versetzt hätte, ihre Stärke zu demonstrieren.

Wir vermögen nicht zu sagen, ob es Teil der grandiosen Strategie des Dr. Brzezinski war, daß die Iraker die Iraner angegriffen haben. Aber wir vermögen zu sagen, daß der Persische Golf sich in höchster Explosionsgefahr befindet -- obwohl die Geiseln wieder zu Hause sind. Jedenfalls war es in keinem Falle Brzezinski, der in der Wüste sterben mußte.

Mit solchen Führern an der Spitze -- was Wunder, daß unser Volk sich so vor seinen Feinden fürchtet?

Schlimmer noch: Die amerikanische Unkenntnis anderer Kulturen ist grundlegend. Wer Kenntnis von anderen Kulturen hat, muß in einer Art innerer Emigration mit seinem Wissen leben. Bis vor kurzem haben sich die Westdeutschen der amerikanischen Wertschätzung erfreuen dürfen. Sie waren doch so tüchtig, fleißig, ihre Wirtschaft florierte und -- das ist die Hauptsache -- sie waren bereit, sich unserem Führungsanspruch zu fügen.

Kleine Irritationen wie die Mitbestimmung in der Industrie sowie ihr besonderer Stolz auf das öffentliche Verkehrsnetz und die Stadtplanung konnten da gnädig verziehen werden -- oder als Absonderlichkeiten genommen werden, wie die Lederhosen. Die Ostpolitik, die sozialliberalen Anwandlungen und Versuche, etwas unabhängiger von uns zu werden, haben das verändert.

Man kann sich leicht ausmalen, vor welche Schwierigkeiten eine islamische Renaissance eine Nation stellt, die nicht einmal in der Lage ist, zwischen europäischem Konservatismus und amerikanischem Republikanismus unterscheiden zu können. Wo man Sozialdemokraten als potentielle Umstürzler betrachtet und die italienische kommunistische Partei als eine revolutionäre Kraft mißversteht, müssen die islamischen Schiiten auf pures Unverständnis stoßen.

Natürlich hat man immer Ausnahmen gemacht -- für Amerikas wahre Freunde. Sogar als uns der Schah gelegentlich vor den Ausschweifungen unserer permissiven Gesellschaft warnte, war er Verbündeter. Er war ein Tschiang Kai-schek oder Ky des Mittleren Ostens, ein Patriarch, dessen gelegentliche Strenge zu seinen Untertanen nur seine Liebe zu ihnen offenbarte.

Was die CIA, die Savak und Mossadeghs Schicksal anlangt, war unsere Verantwortung klar. Genau wie im Chile Allendes mußten wir das Volk vor sich selbst schützen. Die Mullahs und die Linken, unfähig, die Wohltaten zu begreifen, die ihrem Land durch die Multis zukamen, waren, na klar doch, Berserker, denen man jedes Verbrechen zutrauen konnte.

Das also ist die Nation, die die Absicht hat, die Europäer wieder über ihre Pflichten zu belehren. Eine Kampagne gegen die Europäer und insbesondere gegen die Deutschen hat begonnen -- für die man sich des ideologischen Treibguts aus der europäischen Geschichte bedient. Die Schlüsselbegriffe heißen »Euroneutralismus« oder »Finnlandisierung«.

Amerikanische »Experten« schlagen vor, daß wir für einen »begrenzten« nuklearen Krieg planen. Keiner von ihnen hat bis jetzt genauer gesagt, wo die sogenannten Begrenzungen liegen sollen.

Ein großer Abschnitt des iranischen Zwischenspiels liegt nun hinter uns. Wenn wir zurückblicken, dann erscheinen uns die öffentlichen Reaktionen einmalig in ihrer Paradoxie. Da gab es laute Forderungen nach sofortiger und schrecklicher Rache ("Löscht sie mit Atombomben aus!").

Präsident Carter wurde heftig kritisiert, weil er wenig oder gar nichts tat. Die Geiselnahme, die gescheiterte Befreiungs-Aktion spielten eine schwer zu definierende, aber gewichtige Rolle in der sorgfältig aufgebauten Meinung vom Abstieg Amerikas. Millionen von Amerikanern erlebten die Gefangenschaft der Geiseln, das Mißlingen der Befreiungs-Aktion in der Wüste als nationale Demütigung. Vielleicht war der wahnsinnige Jubel der Bevölkerung über die Geiselbefreiung der verschlüsselte Ausdruck für die Erleichterung, daß wir nicht kämpfen mußten.

Vielleicht ist die Situation nicht so aussichtslos düster. Die Korruption unserer politischen Führer, das Fehlen historischer Erfahrungen in unserem Volk, das alles drängt die Nation in die Sentimentalität und Selbstgerechtigkeit. Und doch hat das amerikanische Volk gezeigt, daß es sich den fundamentalen Aufgaben der zeitgenössischen Politik stellen kann, indem es die Legitimität der politischen Führer herausforderte. Eine ehrwürdige amerikanische Tradition von Liberalismus und Skeptizismus ist immer noch lebendig.

Vertreter des öffentlichen Lebens warnten im Fernsehen davor, einen dauerhaften Haß gegen den Iran zu säen. Einige der Geiseln, und das bleibt ihr ewiges Verdienst, haben im gleichen Sinne gesprochen. In dem Durcheinander der letzten Monate gab es Gestalten wie Warren Christopher und Cyrus Vance, die einfach taten, was zu tun war.

Die allgemeine Zurückhaltung unserer Nation während der Monate der Geiselgefangenschaft schlägt sich für uns positiv zu Buche. Das unnachgiebige Streben unserer politischen Führung nach einer hegemonialen Vormachtstellung wird durch unsere Selbstgerechtigkeit unterstützt. Aber ein Großteil unserer Bevölkerung und einige unserer Führer haben eine Scheu davor, das unkontrollierbare Chaos heraufzubeschwören. Vielleicht ist gerade die Tatsache, daß wir so gespalten sind, das Vorzeichen künftiger Reife.

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