LEBENSART Die Schlacht der Schnecken
Wer die Veröffentlichungen des Vereins Foodwatch liest, braucht einen starken Magen. Gewarnt wird da vor »Acrylamid in Pommes frites«, vor »Kadavermehl im Schweinetrog« und »Altöl im Hühnerfutter«.
Über »eklige Rindswurst« beklagt sich ein Mitstreiter namens »Knolle« im Internet-Forum des Vereins: »Bräsige, breiige Pampe in Wursthaut«; Grundstoff sei vermutlich »durch Massentierhaltung verseuchtes, BSE-haltiges, hormoniertes, gequältes Zuchtfleisch« - »Pfui Teufel«.
»Die Verbraucher werden legal vergiftet«, schlägt der 2002 gegründete Verein regelmäßig Alarm - und ruft auf zur »Razzia im Supermarkt«, zu Protesten an die Adresse säumiger Ernährungspolitiker und, natürlich, zu Spenden für »die Essensretter«, wie sich Foodwatch selbst nennt. Allein in den vergangenen acht Wochen kam Foodwatch in fast hundert Fernsehsendungen und tausend Presseartikeln vor.
Völlig anders, sehr viel leiser kommt eine zweite Organisation daher, die ebenfalls das Wort »Food« im Namen führt: Auch Slow Food Deutschland, gegründet 1992, erfreut sich verstärkter Resonanz, seit Industriefleischskandale die Nation verunsichern. Bei der Lektüre der Schriften dieses Verbands aber läuft manchem Leser das Wasser im Munde zusammen.
Geschwärmt wird da vom edlen Apfelsaft der selten gewordenen Sorte »Finkenwerder Herbstprinz« oder von einer »leckeren Kohlwurst (80% Wildschwein / 20% Hirsch) aus einem Jagdrevier im westlichen Mecklenburg«. Gerühmt wird die Geschmacksfülle der bedrohten Kartoffelsorte »Linda« oder die Kochkunst in einem bayerischen Dorfgasthof: »In der Tafelspitzbrühe schwimmt ein riesiger, lockerer und wohlschmeckender Leberknödel, ein richtiges Prachtexemplar.«
Die beiden ungleichen Vereine haben zwar gleichermaßen den Sünden der industriellen Nahrungsmittelproduktion den Kampf angesagt. Doch ihre Konzepte könnten kaum unterschiedlicher sein.
Wo Foodwatch Unappetitliches enthüllt, Skandalfirmen anprangert und scharfe Kontrollen fordert, wirbt Slow Food für
eine neue Esskultur: Der Verein macht Appetit auf vergessene oder bedrohte heimische Köstlichkeiten und ruft dazu auf, mutige Produzenten von Qualitätsware aus der jeweiligen Region zu unterstützen.
Und während in der Berliner Foodwatch-Zentrale ein kleiner, effizienter Stab knallharter PR-Profis nach Greenpeace-Art operiert, wirken die ehrenamtlich tätigen Slow-Food-Mitglieder wie eine sinnesfrohe Runde beschwingter Gourmets.
Anführer von Foodwatch ist der kampferprobte Thilo Bode, 58 und promovierter Ökonom. Zuvor hatte er ein Dutzend Jahre lang an der Spitze von Greenpeace Deutschland und Greenpeace International gestanden und mit Millionenetats für medienwirksame Eklats gesorgt. So demonstrierte Bode etwa auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, um gegen die chinesische Atompolitik zu protestieren - eine Aktion mit weltweitem Echo.
Dagegen wirkt Ulrich Rosenbaum, 60, der Sprecher von Slow Food Deutschland, eher wie ein rheinischer Bonvivant. Der rundliche Weinkenner und Katzenfreund, langjähriger Hauptstadt-Korrespondent der
»Hamburger Morgenpost«, engagiert sich für die Deutsche Akademie für Kulinaristik, schätzt sein Sommerdomizil im italienischen Montepulciano und schwärmt auf seiner privaten Homepage www.toskanafraktion.de von dem »Geheimnis der toskanischen Lebensart«.
Wappentier seines Vereins ist eine possierliche Schnecke, die Tafelrunden heißen Schneckentisch. »Für uns ist das Glas Wein halb voll und nicht halb leer«, beschreibt Rosenbaum den Unterschied zwischen Slow Food und Foodwatch. »Wir zeigen das Positive, die dagegen sagen igitt, da ist was Ekliges.«
Dabei haben die beiden Food-Vereine seit Anbeginn einen gemeinsamen Hauptgegner: den Fast-Food-Multi McDonald's, der weltweit mit dem kunterbunten Reklameclown Ronald McDonald wirbt.
Als Greenpeace-Veteran Bode Foodwatch ins Leben rief, nutzte er die Erfahrungen des Greenpeace-Gründers David McTaggart, der in den siebziger Jahren mit waghalsigen Schiffsmanövern gegen Walfänger, Robbenjäger und Atomtester Furore gemacht hatte. Für erfolgreiche Aktionen sei, so wusste Bode, dreierlei nötig: »Ein klares Ziel, ein eindeutiger, populärer Konflikt mit einem geeigneten Gegner und die Konstellation David gegen Goliath.«
Die Methode David McTaggart half auch gegen Ronald McDonald. Als der Fast-Food-Konzern 2003 in Anzeigen versicherte, seine Burger-Brötchen enthielten nur Weizen, Hefe, Wasser sowie Spuren von Salz und Zucker, nahm Foodwatch den Kampf gegen Goliath auf. Bode: »Wenn Sie den richtigen Griff ansetzen, werfen Sie einen scheinbar übermächtigen Gegner auf die Matte.«
Die Foodwatcher enthüllten, dass McDonald's gewisse Zusatzstoffe, sogenannte Emulgatoren, verschwiegen hatte. Der millionenschwere Werbefeldzug wurde daraufhin gestoppt. Später musste die Firma - peinlich, peinlich - auch noch 10 000 Euro Vertragsstrafe an Foodwatch zahlen. Nun war sich Bode vollends sicher, »endlich den richtigen Gegner« für eine weitere Aktion gefunden zu haben. Thema: »Echte Wahlfreiheit bei der Gentechnologie«.
»Gemein! 1000 Menüs im Angebot, aber keinen Hamburger ohne Gentechnik!«, protestiert seither eine von Foodwatch ausgerufene »Burgerbewegung« mit dem Slogan: »Bringt Burger in Bewegung«. Möglichst viele der rund zwei Millionen deutschen Kunden sollen sich nun per Unterschrift dafür einsetzen, dass der Weltkonzern von seinen Fleischfabrikanten »ab sofort den Einsatz von Futter ohne gentechnisch veränderte Sorten« verlangt.
Bereits in den achtziger Jahren hatte die amerikanische Schnellimbisskette die Gründung von Slow Food ausgelöst: Als McDonald's ein Fast-Food-Restaurant ausgerechnet an der Spanischen Treppe in Rom plante, riefen linke Journalisten zum Protest. Aus dem Piemont stießen Freunde der traditionellen italienischen Osteria um die Zeitschrift »La Gola« (Maul, Genuss) hinzu, und 1989 wurde unter dem Vorsitz des »Gola«-Mannes Carlo Petrini in Paris der Slow-Food-Verband gegründet.
Petrini, nach wie vor Präsident der auf 83 000 Mitglieder angewachsenen Weltbewegung, wurde mittlerweile vom US-Magazin »Time« zum »European Hero« gekürt. Das Stammland Italien, wo Slow Food in Bra eine private Feinschmecker-Universität unterhält, ist nach wie vor die mitgliederstärkste Region. Auf dem zweiten Platz liegt Deutschland, wo die Zahl der Aktivisten binnen eines Jahres von rund 5000 auf 6000 gestiegen ist.
Dem Vereinsmotto »Nur langsam kann man genießen« fühlen sich Berühmtheiten wie die Starköche Eckart Witzigmann und Vincent Klink verpflichtet. Im Kampf gegen die Denaturierung der Nahrung, so Klink, dürfe keine Zeit mehr verloren werden - slow hin, slow her: Es sei »nicht fünf vor zwölf, sondern Viertel vor drei«.
Die rund 50 deutschen Regionalgruppen, »Convivien« genannt, wollen mehr
sein als nur Treffpunkte ambitionierter Leckerschmecker - was ganz im Sinne des Altlinken Petrini ist: Ein Gericht allein mit dem Gaumen zu bewerten, predigt der italienische Slow-Food-Guru, sei »dekadent« und »dumm«. Ebenso wichtig wie der Geschmack seien soziale sowie natur- und umweltgerechte Erzeugung und Vermarktung. Petrini: »Wenn einer dieser Punkte fehlt, ist das kein Slow-Food-Produkt.«
Die moderne Lebensmittelindustrie trage dazu bei, dass die meisten Menschen sich heute nur noch von einer Hand voll Tier- und Pflanzenarten ernährten, klagt Petrini. Mit einer Aktion namens »Arche des Geschmacks« will Slow Food daher weltweit die bedrohten Nutztier- und Nutzpflanzenarten sowie alte regionale Lebensmittel und Gerichte vor dem Vergessen bewahren.
Unter den mehr als 750 »Arche-Passagieren« sind auch diverse deutsche Spezies und Spezialitäten, etwa Weine der Rebsorte »Blauer Frühburgunder«, die »Diepholzer Moorschnucke« und der schmackhafte »Albschneck«, der sich in Schwabens Weinbergen von Wildkräutern nährt.
Nicht nur für den Umgang mit Schnucken und Schnecken gilt eine kurios anmutende Slow-Food-Regel: »Man muss essen, was man retten will.« Diesem Motto fühlt sich auch der Landwirt Eckart Brandt verpflichtet, der in seinem »Boomgarden« an der niedersächsischen Oste Hunderte alter Sorten wie den »Seestermüher Zitronenapfel« gesammelt hat, die er auf Wochenmärkten feilhält.
Über das Bemühen der Agrarmultis, »alle Lebensmittel aus Profitgier zu vereinheitlichen«, schimpft auch Karsten Ellenberg, Kartoffelbauer aus dem Lüneburgischen. Er wirbt für die Renaissance von so tollen Knollen wie dem »Weinberger Schlosskipfler« oder dem »Blauen Schweden«.
»Kurze Wege, langer Genuss« - mit diesem Lehrsatz versuchen die Tafelritter in ihrem jeweiligen Convivium, die Chancen für regionale Nischenprodukte zu erhöhen, zum Beispiel mit Käsemärkten, Wildbörsen
und Privatbierverkostungen. Zugleich kämpfen sie mit einer Empfehlungsliste für die Unterstützung des guten alten deutschen Landgasthofs und werben mit »Slow Baking« für die knackigen Krusten des traditionellen Backhandwerks.
Verpönt ist bei den Fastfood-Gegnern Zuchtlachs, den sie »Hamburger des Meeres« nennen. Auch saisonfremde Angebote gelten ihnen als degoutant. Es gebe, pflichtet die deutsche Verbraucherzentralen-Chefin Edda Müller den Slow-Food-Anhängern bei, schließlich kein »Menschenrecht auf Erdbeeren im Januar«.
Vehement wehren sich die Schneckenrunden gegen den Verdacht, ihre Regeln taugten nur für Angehörige gehobener Stände, die genügend Zeit und Geld für elitäres Essverhalten haben. »Der Pizzabote braucht zur Lieferung mindestens eine halbe Stunde. In dieser Zeit lässt sich auch schon phantasievoll und gesund kochen«, versichert Hartmut Julius Meimberg vom Convivium Mittleres Ruhrgebiet. Teurer als Fast Food sei gute Ernährung schon gar nicht, sofern »weniger und besseres Fleisch« und mehr Gemüse und Obst verwendet werde, empfiehlt der Verein.
Mit ihrer Geiz-ist-geil-Mentalität allerdings habe die Masse der Verbraucher dazu beigetragen, dass die Qualität vieler Lebensmittel gesunken sei, argumentiert Slow Food. »Wer würde sich denn einen BMW für 6000 Euro kaufen? Da merkt doch ein jeder, dass der Preis nicht stimmen kann«, sagt der deutsche Vizevorsitzende Christopher Bodirsky.
Ebenfalls zu einem Beispiel vom Automarkt greift Foodwatch-Chef Bode, um seine Forderung zu begründen, dass auch billige Lebensmittel einwandfrei sein müssten: »Es kann doch nicht sein, dass beim Fiat Panda die Bremsen schlechter sind als beim Mercedes.« Gesundheitliche Unbedenklichkeit allein von teurer Ware zu erwarten sei ein »unsozialer Ansatz«. Schließlich sei der Staat verpflichtet, das Grundrecht aller Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu achten.
Blindes Vertrauen in Bio-Produkte indes propagieren weder Foodwatch noch Slow Food. Die Behauptung etwa, Fleisch mit Bio-Siegel sei gesünder, könne wegen darin enthaltener, zwar erlaubter, aber umstrittener Zusatzstoffe »überhaupt nicht aufrechterhalten werden«, warnt Bode.
Die Slow-Food-Leute wiederum sind allein mit ökologischem Anbau irgendwelcher Standardsorten nicht zufrieden zu stellen. Obst und Gemüse aus Bio-Betrieben beispielsweise, sagt Olaf Ehrigsen vom Hamburger Convivium, »entspricht der Slow-Food-Philosophie nur dann, wenn es auch wirklich schmeckt«.
Um schon die Jüngsten auf den Geschmack zu bringen, hat Slow Food erste Kinderkochclubs gegründet. So stellt Professor Armin Lewald vom Convivium Oldenburg
dem örtlichen »KiKoKlub« seine Uni-Lehrküche zur Verfügung, wo die Kleinen im Dienste der Geschmackserziehung Wackelpudding mit naturtrübem Traubensaft zubereiten oder mit erlesenen Zutaten »Süße Salami« backen.
Gemeinsam mit Sterne-Koch Witzigmann soll eine Stiftung für »gesunde Schulverpflegung« aufgebaut werden - ein Vorhaben, das laut Rosenbaum »mit der zunehmenden Zahl von Ganztagsschulen an Bedeutung gewinnt« und für das der Verein auch mit Regierungshilfe rechnet; ein entsprechender Punkt hat Eingang in die Koalitionsvereinbarung gefunden.
Immer wieder mal aber sieht auch Slow Food Anlass, Politiker zur Schnecke zu machen. So begnügen sich die Mitglieder nicht damit, Rebstock-Patenschaften für Muster-Weinberge zu übernehmen - sie äußern derzeit, Seite an Seite mit den Winzern, auch lautstark Protest gegen das Brüsseler Weinhandelsabkommen mit den USA, das undeklarierten »Industriewein« in die EU fluten lassen werde.
Dennoch hat Politik für viele Slow-Food-Anhänger eher Beilagencharakter. Für die Foodwatch-Aktivisten dagegen zählt die Lobby-Arbeit in der Hauptstadt zu den zentralen Aufgaben. »Robben sind hierzulande besser geschützt als Verbraucher«, beschreibt Ex-Robbenschützer Bode die derzeitige Lage. Daher müsse öffentlicher Druck die Politik dazu bewegen, Pestizid- und Nitratsteuern einzuführen und »das Verbraucherrecht vom Kopf auf die Füße zu stellen«. Ziel: mehr Transparenz bei Produktion und Vertrieb von Lebensmitteln sowie Anprangerung von Skandalbetrieben, damit jeder erfahren könne, wo die Ratten huschen.
Von dem Ziel, Ernährung als bedeutsames Politikfeld zu etablieren, sieht sich Foodwatch noch weit entfernt. Das »Sofortprogramm«, mit dem der neue Bauern- und Verbraucherminister Horst Seehofer (CSU) auf die Fleischskandale reagierte, qualifizierte Bode im SPIEGEL-Interview (50/2005) umgehend als »erbärmlich«; »nicht mal Trippelschritte« zu besserem Verbraucherschutz unternehme der Minister.
Auf eine Wende hoffen auch die traditionellen Verbraucherzentralen. Ihr Sprecher Christian Fronczak sieht in den neuen Mitstreitern - nicht zuletzt dank der »Kampagnenfähigkeit« von Foodwatch - eine willkommene Ergänzung und Verstärkung. Allerdings bleibe abzuwarten, ob sich Foodwatch auf Dauer bewähre.
Zurzeit plagen den Verein Finanzprobleme. Zwar haben Gönner wie der Ex-Papierfabrikant Clemens Haindl (100 000 Euro) und Schoko-Hersteller Alfred Ritter (160 000 Euro) Startkapital beigesteuert. Doch die Erwartung, den Foodwatchern würden Beitragszahler »scharenweise zulaufen«, erwies sich als »zu optimistisch«, wie Bode einräumt.
Weil das anvisierte Ziel von 30 000 Mitgliedern nicht einmal zu einem Drittel erreicht worden ist, kann der Manager, der bei Greenpeace über einen Etat von mehr als 100 Millionen Euro verfügte, bei Foodwatch alljährlich nur noch eine Million ausgeben.
Ein Großteil des Geldes geht für den Versuch drauf, neue Zahlmitglieder zu gewinnen - auch mit Hilfe von Serienbriefen und -anrufen oder Passantenansprache in Fußgängerzonen. »Auch wenn mir dabei manchmal etwas unwohl ist - bei uns kommen alle Instrumente des klassischen Direktmarketing zum Einsatz«, erklärte Bode im »Harvard Businessmanager«.
Nicht gerade erleichtert wird der Versuch, Foodwatch zu stabilisieren, durch Bodes früheren Verein: Greenpeace stürzt sich mehr denn je auf Food-Probleme; die Sorge um die Nahrung scheint zeitweise traditionelle Schwerpunkte wie Treibhausgase und Tropenabholzung zu überlagern.
Jüngste Greenpeace-Veröffentlichungen greifen exakt jene Themen auf, die auch den Konkurrenzverband bewegen: »Pestizide aus dem Supermarkt«, »Genmais auf dem Vormarsch«, »Geheimniskrämerei um Lebensmittelüberwachung«.
JOCHEN BÖLSCHE
* Im April 2004. * Links: mit Sprecher Ulrich Rosenbaum (M.) im November 2005 an der Ahr; rechts: in Bra, dem Sitz der Slow-Food-Zentrale.