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ITALIEN / ANALPHABETEN Die schreckliche Landplage

aus DER SPIEGEL 23/1956

Der Journalist und Sozialkritiker Luigi

Barzini schockierte kürzlich die italienische Öffentlichkeit mit einer ebenso überraschenden wie deprimierenden Feststellung: »In Italien befindet sich das Analphabetentum im Vormarsch!«

Italien, so erläuterte Barzini und bewies seine Behauptungen mit ausführlichen Statistiken, ist heute einer der dunkelsten Punkte auf dem Diagramm des Analphabetentums in Europa. Während um die Jahrhundertwende das Analphabetentum In Europa gewissermaßen ein Gefälle von West nach Ost zeigte, hat sich jetzt - nach dem großen Bildungswerk des Sowjetstaates in den letzten dreißig Jahren - das Tief in den europäischen Süden, nach Italien, Spanien und Griechenland, verlagert.

1,5 Millionen italienische Kinder werden nach Barzini trotz der Schulpflicht von ihren Eltern daran gehindert, die Grundschule zu besuchen, und weitere 1,7 Millionen Schüler besuchen die Schulen höchstens bis zum dritten Schuljahr, um dann dem Unterricht einfach fernzubleiben. In den süditalienischen Provinzen gehen 9,4 Prozent der Schulpflichtigen nicht zur Schule.

Barzini erforschte auch die Gründe des italienischen Bildungs-Fiaskos: »Die Kinder sind vielfach so schlecht dran, daß sie einfach nicht zur Schule kommen können. Viele sind gezwungen, kilometerweit zu Fuß zu laufen, ohne Schuhe und ausreichende Kleidung. Zum größten Teil müssen sie zu Hause bleiben, um ihren Eltern zu helfen.« Diese Eltern aber sind häufig selber Analphabeten, die eine Schulpflicht als »Frondienst« empfinden.

Die Schulen befinden sich nach Barzinis Schilderungen in einem unbeschreiblichen

Zustand: »Überall ist der gleiche Schmutz, Fenster von uraltem Staub verkrustet, Flure voller Abfälle, Türen, die nicht schließen, übelriechende Toiletten und Waschbecken.«

Luigi Barzinis Enthüllungen, die in der Mailänder Zeitung »Corriere della Sera« erschienen, erregten ganz Italien. Es entstand eine heftige Debatte in der Presse, die auch die Schulinspektoren aus ihrer Lethargie aufschreckte, obwohl die Mißstände im Schulwesen für das Kultusministerium kaum neu sein konnten.

Inzwischen hat das römische Kultusministerium ein »Zentralkomitee für Volksbildung« gegründet, mit dem die Regierung die gröbsten Auswüchse des italienischen Analphabetentums beseitigen will. In Rom aber betrachtet man den plötzlich ausgebrochenen ministeriellen Reformeifer einigermaßen skeptisch. Seit achtzig Jahren bemühen sich die Regierungen Italiens um eine Besserung der Verhältnisse, aber Geldnot und ein grotesker Mangel an Organisationstalent ließen eine Reformer-Generation nach der anderen scheitern.

Schon vor dem ersten Weltkrieg schrieb der damals bekannte italienische Publizist Luigi Lodi bitter über das italienische Schulproblem: »Die Italiener sind wahrhaft und unheilbar unfähig, sich zu reformieren. Es fehlt ihnen die Kraft, Einrichtungen und Gewohnheiten mit Überlegung und gutem Willen zu ändern, um so zu einer dauernden Besserung zu kommen.«

Die »schreckliche Landplage Italiens«, wie die Turiner Zeitung »La Stampa« das Analphabetentum nannte, ist eine alte Erbkrankheit, die der italienische Staat seit seiner Gründung von Generation zu Generation weitergibt. Nur millimeterweise vermochte sich das Bildungsgut gegen südlichen Schlendrian und die Gleichgültigkeit breiter Bevölkerungskreise vor allem im verelendeten Süditalien Bahn zu brechen.

1872 waren 72 Prozent der italienischen Gesamtbevölkerung des Schreibens und Lesens unkundig. 1900 war die Zahl auf 56 Prozent herabgesunken, fünfzig Jahre später ist sie immer noch wesentlich höher als etwa in der Sowjet-Union. (Rußland verringerte seit 1917 sein Analphabetentum um 80 Prozent.)

Das italienische Kriegsministerium förderte dieser Tage ebenfalls beklemmende Ziffern über den Bildungsstand der Nation

zu Tage. Danach bewegt sich der Anteil der Voll- und Halbanalphabeten in Nord - und Mittelitalien zwischen einem und zehn Prozent, während in Süditalien der Anteil der Schriftunkundigen auf 40 und 50 Prozent anschwillt. Den Rekord des Analphabetentums hält Sardiniens Hauptstadt Cagliari mit 53 Prozent.

Barzini gab folgende Zahlen an: 40 Prozent der Italiener über sechs Jahre seien Voll- und Halbanalphabeten, totale Analphabeten gebe es bis zu 20 Prozent.

Die Schriftunkenntnis weiter Bevölkerungskreise lähmt auch weitgehend das politische Leben. Erbittert ringen die Parteien Italiens - allen voran die christlichen Demokraten und die Kommunisten

- darum, auf den Wahlzetteln an erster oder letzter Stelle plaziert zu werden. Da die analphabetischen Wähler nicht lesen können, wen sie wählen, konzentriert

sich die Flüsterpropaganda der Parteien auf die einfache Parole, der Analphabet solle einfach »oben« oder »unten« sein Kreuz machen. Resigniert seufzte die konservative Zeitschrift »II Borghese": »Italien steht und fällt mit dem Kreuz, das der Analphabet in der ersten oder letzten Rubrik des Wahlzettels einträgt.«

Solche Tatsachen drängten Luigi Barzini schließlich die Vision einer Gesellschaft auf, die von dumpfen Analphabeten beherrscht wird:

»Der analphabetische Bauer bewirtschaftet den Acker schlecht. Der Analphabet weiß sich weder moderne technische Kenntnisse anzueignen noch Maschinen zu gebrauchen; in der Industrie kann er nur die niedrigsten Arbeiten ausführen. In der modernen Gesellschaft, die durch Bücher, Gebrauchsanweisungen, komplizierte Diagramme und verzwickte Verordnungen geformt wird, ist der Analphabet ein Isolierter.«

Und weiter: »Unvermeidlich entsteht in dem Analphabeten ein Gefühl des Ressentiments und der Rebellion gegen eine Gesellschaft, in der er nicht mehr die alten patriarchalischen Leitideen für das Leben besitzt und in der er aber auch nicht die neuen lernen kann. Schnell wird er zur Beute uferloser politischer Hoffnungen, und bald ist er bereit, sich in Massen gegen die Staatsautorität zu stellen und Feuer in die Gemeindearchive zu werfen.«

Italiens Sozialkritiker Borzini: Hirn wird Mangelware

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