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Die sechs Schlagseiten des neuen Bundestages

Rund 85 Prozent der Abgeordneten des neuen Bundestages ließen sich von dem Politologen Ulrich Lohmar und zwei Systemanalytikern befragen. Anhand der Antworten analysiert Lohmar, von 1957 bis 1976 Mitglied der SPD-Fraktion, die Struktur des Bonner Parlaments und zeigt die Unterschiede zwischen den Parteien auf.
aus DER SPIEGEL 43/1976

Unsere Vorstellung von der Beziehung zwischen Parlament und Wählern geht davon aus, daß die Abgeordneten das Volk repräsentieren, und dies heißt doch wohl auch, daß sie die Bevölkerung in ihrer Struktur ungefähr widerspiegeln sollten. Dies ist bei den Parlamentariern des 8. Bundestages in mancher Hinsicht jedoch noch weniger der Fall als in früheren Bundesparlamenten. Wo sind die Schlagseiten des neuen Bundestages?

Nimmt man die Statistik zur Hand, so fällt auf, daß der Bundestag eine Versammlung verheirateter Familienväter ist. Frauen und Ledige finden sich vor allem in der FDP, obwohl sie natürlich auch dort eine kleine Minderheit bilden.

Die Angaben über den Familienstand ergänzen dieses Bild beinahe kongruent:

Die Kinderzahl der Abgeordneten der CDU/CSU überwiegt die der Abgeordneten der beiden Koalitionspartner beträchtlich. Ginge man von dieser Art der »Fruchtbarkeit« der Abgeordneten allein aus, dann wäre spätestens in den 90er Jahren ein Wahlsieg der Union kaum zu vermeiden. Insbesondere die FDP müßte sich da nachhaltig um ihre Zukunft sorgen.

Aufschlußreich ist auch die konfessionelle Struktur des Bundestages. Die Katholiken sind mit 40 Prozent der Parlamentarier in die Minderheit geraten, die Protestanten erreichen mit 46 Prozent der Parlamentarier fast die absolute Mehrheit. Doch erst die konfessionelle Aufschlüsselung der vier Parteien zeigt die Bedeutung dieser Relationen.

Wie das Statistische Bundesamt ermittelte, sind 29 Prozent der CDU/CSU-Parlamentarier neu in den Bundestag gewählt, bei der FDP sind es 25 Prozent und bei der SPD nur 18 Prozent. Die Zahlen zeigen, daß sich die personelle Zusammensetzung der sozialdemokratischen Fraktion stabilisiert hat, während bei der Union und bei der FDP mehr Neigung zum Auswechseln von Abgeordneten besteht.

Die CSU brachte ihre Erstbewerber denn auch sämtlich in den Bundestag hinein, während bei der SPD zwei von drei, bei der CDU drei von vier und der FDP nur knapp jeder dritte Erstbewerber ins Parlament gelangen konnten. Die Mobilität unter den Kandidaten ist -- bis auf die CSU -- bei allen Parteien übrigens größer als bei der tatsächlichen personellen Veränderung der Fraktionen aufgrund der Wahlergebnisse. Die Konkurrenz um Bundestagskandidaturen und Bundestagsmandate ist in den vier Parteien offenbar sehr unterschiedlich ausgeprägt gewesen. Einen oder mehrere Gegenkandidaten im Wahlkreis mußte, aufs Ganze gesehen, nur eine Minderheit der Abgeordneten überwinden. Bei der CDU sahen sich 40 Prozent der Parlamentarier solchen Konkurrenten gegenüber, bei der CSU waren es 29 Prozent, neun Prozent bei der FDP und 30 Prozent bei der SPD.

Setzt man diese Angaben in Beziehung zu dem Anteil der erstmalig im Bundestag vertretenen Abgeordneten. so läßt sich folgern, daß in der CDU der relativ ausgeprägteste Wettbewerb um ein Mandat in Bonn stattgefunden hat. Bei der FDP entspricht der geringere Anteil von umkämpften Wahlkreisbewerbungen der Aussichtslosigkeit, mit der dieses Unterfangen für die meisten liberalen Direktkandidaten verbunden bleibt.

Besonders eindrucksvoll ist die Berufsstruktur des neuen Bundestages. Wir wollen sie exemplarisch an drei Gruppen deutlich machen:

Als »selbständig Tätige« haben sich nicht nur Selbständige im steuerlichen Sinne, sondern auch solche Abgeordnete bezeichnet, die in ihrem beruflichen Wirkungskreis frei disponieren können. Hausfrauen, notabene, sind nur mit 1,5 Prozent im gesamten Bundestag vertreten. Bei den Beamten teilen sich im wesentlichen die Angehörigen des gehobenen und des höheren Dienstes in die errungenen Mandate; der einfache und der mittlere Dienst sind kaum vertreten. Doch bis auf die FDP sind die Beamten in den Fraktionen weit überrepräsentiert, vor allem bei CSU und Sozialdemokraten.

Das Statistische Bundesamt umschreibt diesen Tatbestand etwas verklärend, indem es die Beamten vorzugsweise in die Gruppe der »administrativ entscheidenden Berufstätigen« einordnet. So ist es wohl. Arbeiter, was immer sie heute tatsächlich tun, finden nur bei der SPD noch eine bescheidene Zuflucht. Die FDP hat mit der CSU den starken Anteil von selbständig Tätigen gemeinsam.

Den Bildungsstand der Abgeordneten sollen die beiden Pole der möglichen Schulausbildung deutlich machen. Hauptschule und Hochschule.

Dazwischen liegen die Abgeordneten, die ihre Ausbildung mit dem Besuch der Realschule, des Gymnasiums oder einer Fachhochschule abgeschlossen haben. Die Akademisierung des Bundestages schreitet offensichtlich unaufhaltsam fort und wird auch darin sichtbar, daß rund jeder dritte Parlamentarier seinen Doktor gebaut hat. Politische Karrieren auf der Basis nur einer Hauptschulausbildung finden sich in nennenswertem Ausmaß nur noch bei den Sozialdemokraten und in engeren Grenzen bei der CDU.

Ein genaues Bild von dem akademisch vorgebildeten Teil der Abgeordneten ergibt sich, wenn man die fachliche Zuordnung betrachtet (bezogen auf die Stärke der Parteien im ganzen):

Naturwissenschaftler und Ingenieure sind in allen Fraktionen eine kaum wiederzufindende Minderheit geblieben, wenngleich unsere Gesellschaft von Entwicklungen in diesen Bereichen weithin auch ökonomisch bestimmt wird. Die Juristen halten, mit einem Gefälle von der CSU bis zur SPD hin, ihre Spitzenstellung. Neben ihnen fällt nur die Gruppe der ökonomisch ausgebildeten Abgeordneten noch ins Gewicht.

Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden aufmerksam zur Kenntnis nehmen, wie die Abgeordneten des neuen Bundestages auf ihr Verdikt reagieren, die Tätigkeit des Parlamentariers sei einem vollen Beruf gleichzusetzen. In dieser Frage gehen die Meinungen zwischen den Parteien des Parlaments weit auseinander. 41 Prozent der CDU-Abgeordneten sehen sich als Berufspolitiker, nur 28 Prozent ihrer CSU-Kollegen, aber 66 Prozent der FDP- und gar 75 der SPD-Parlamentarier.

Die Sozialdemokraten haben schon immer dazu geneigt, die Tätigkeit im Parlament als einen vollen Job zu werten. Daß die liberalen Abgeordneten es ihnen in dieser Einschätzung mittlerweile beinahe gleichtun, mag manchen ihrer Wähler verwundern. Die CSU zeigt sich von dem Urteilsspruch der Karlsruher Richter wenig beeindruckt, und die Mehrheit der CDU auch. Man darf gespannt darauf sein, welche Folgerungen der neue Bundestag angesichts dieser kontroversen Auffassung aus dem Diätenurteil von Karlsruhe ziehen wird.

Die CDU hebt sich von den anderen Parteien durch einen relativ hohen Anteil von Abgeordneten ab, die auch literarisch tätig geworden sind und Bücher fachlicher, wissenschaftlicher oder politischer Art veröffentlicht haben. Doch auch in den anderen Fraktionen ist die Neigung, sich in dieser Form an die Öffentlichkeit zu wenden, ziemlich ausgeprägt. Als Autoren haben sich versucht bei der CDU 45 Prozent, bei der CSU 32 Prozent, bei der FDP 26 Prozent und bei der SPD 32 Prozent der Abgeordneten.

Vor allem die englische Sprache, dann die französische und einige andere Sprachen werden von den Abgeordneten auf die Frage genannt, wie es um ihre Fremdsprachenkenntnisse bestellt sei. Das Ergebnis dieser Selbsteinschätzung ist eindrucksvoll: Danach beherrschen bei der CDU 94 Prozent, bei der CSU 82 Prozent, bei der FDP 94 Prozent und bei der SPD 76 Prozent eine oder mehrere Fremdsprachen.

In dieser Hinsicht liegt das Niveau des Bundestages also ganz augenscheinlich weit über dem der Gesamtbevölkerung, was die internationale Zusammenarbeit gewiß beträchtlich erleichtern wird.

Mißt man den Bundestag an der Struktur der Wahlbevölkerung, dann hat das Parlament sechs schwere Schlagseiten:

* Der Bundestag ist ein Männerparlament;

* im Bundestag dominieren die Beamten und die selbständig Tätigen;

* Arbeiter und Hausfrauen sind kaum vertreten;

* die Akademisierung des Bundestages schreitet fort;

* Juristen gibt es zu viele, Naturwissenschaftler und Techniker zu wenig:

* das Durchschnittsalter ist mit 47,3 Jahren immer noch zu hoch.

Manche dieser Schwächen finden sich in den Fraktionen relativ gleichmäßig, andere deuten auf die unterschiedlichen Strukturen der Parteien hin.

Die CSU ist in jeder Hinsicht die konservativste Partei des Hohen Hauses. In allen bayrischen Wahlkreisen stellte sie Männer auf, darunter keinen Arbeiter. Sie sind fast alle verheiratet, haben Kinder, üben Ehrenämter aus und bekennen sich ausnahmslos zu einer der beiden christlichen Konfessionen.

Die FDP ist eher eine Partei der Extreme. Sie stellt den relativ größten Anteil weiblicher Abgeordneter, hat die meisten ledigen Parlamentarier in ihren Reihen, auch die meisten kinderlosen, jeder siebte liberale Abgeordnete ist weder katholisch noch evangelisch. Ihre Direktkandidaten wechseln in der großen Mehrheit von Wahl zu Wahl, die persönliche Konkurrenz um die Wahlkreise ist extrem gering. Die FDP hat die wenigsten Beamten in ihren Reihen, aber keinen Arbeiter, hingegen wiederum die relativ größte Zahl von selbständig Tätigen.

Die beiden großen Parteien SPD und CDU können sich zwar zu Recht als Volksparteien bezeichnen, wenn man die stattliche Anzahl ihrer Wähler im gesamten Bundesgebiet als Maßstab heranzieht. Doch die Struktur ihrer Parlamentarier zeigt, daß sie Volksparteien in einem sehr unterschiedlichen Sinn geblieben sind, wobei die Unterschiede zwischen CDU und CSU oft ebenso ins Gewicht fallen wie die zwischen der SPD und der FDP.

Die SPD fällt in mancher Hinsicht aus dem Rahmen der übrigen Parteien heraus: Sie hat den relativ höchsten Anteil von Abgeordneten, die ihr Bekenntnis nicht angeben oder außerhalb der christlichen Kirchen ihre weltanschauliche Überzeugung gefunden haben. Sie hat den geringsten Anteil an neuen Abgeordneten, den höchsten Anteil an Beamten und zugleich (relativ) an Arbeitern. Die selbständig Tätigen meiden die SPD, die Akademisierung der Fraktion ist noch nicht so weit fortgeschritten wie in den drei anderen Parteien. Und schließlich: Die große Mehrheit der SPD-Fraktion wertet ihre Arbeit in Bonn als vollen Beruf.

Die CDU hingegen ist eine vorwiegend katholische Partei geblieben. Ihre Offenheit für neue Gesichter ist größer als die der anderen Parteien, die Personalkonkurrenz um Parlamentsmandate härter. Arbeiter führen ein Schattendasein in der CDU, Beamte belegen einen mittleren Platz, ebenso wie die selbständig Tätigen. Die CDU weist die meisten Akademiker auf, eine starke Gruppe der Fraktion sieht das Mandat nicht als Berufsersatz an.

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