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»Die Sowjet-Bürokratie gerät in Panik«

Der belgische Trotzkist Ernest Mandel, seit 1972 als angebliche »Gefahr für die bürgerliche Verfassung« mit Einreiseverbot für die Bundesrepublik belegt, setzt sich in einer Aufsatzsammlung* kritisch mit dem Eurokommunismus auseinander. Fazit: Mit ihrer jetzigen Strategie können die Eurogenossen die Arbeiter nicht an die Macht führen, gleichwohl sind sie für Moskau durch ihre »mächtige antibürokratische Komponente« eine Gefahr. Auszüge:
aus DER SPIEGEL 20/1978

In Osteuropa und in der UdSSR werden die Aussagen der Eurokommunisten zugunsten des politischen Pluralismus und der demokratischen Freiheiten begierig aufgegriffen, nicht aufgrund eines wie auch immer gearteten Hangs zum Kapitalismus und zum bürgerlichen Staat, sondern, im Gegenteil, weil diese Aussagen als Alternative zu den heutigen politischen Herrschaftsformen im eigenen Land (d. h. als Alternativmodell eines Arbeiterstaats) angesehen werden. Darin liegt die große, objektive Sprengkraft des Eurokommunismus für den Kreml.

Wenn Jimmy Carter für die Bürgerrechte in der UdSSR eintritt, wenn cm Solschenizyn die Oktoberrevolution durch den Kot zieht, dann kann dies der Sowjetbürokratie innenpolitisch nur recht sein. Es erlaubt ihr, die eigene Arbeiterklasse mit der Alternative zu paralysieren: entweder kapitalistische Massenerwerbslosigkeit oder bürokratisches Machtmonopol!

Aber wenn Berlinguer, Carrillo und Marchais schüchtern für »politischen Pluralismus beim Aufbau des Sozialismus« plädieren, ändert sich die Sachlage zuungunsten des Kreml. Entweder muß er erklären, daß die wichtigsten kommunistischen Parteien der kapitalistischen Welt ins Lager des Imperialismus übergelaufen sind, oder aber er muß gestehen, daß es auch vom Standpunkt der Arbeiterklasse eine Alternative zum Herrschaftsmodell des Stalinismus und Neo-Stalinismus gibt.

Beides untergräbt seine politische Autorität und erweitert bedeutsam den Spielraum der politischen Opposition in der UdSSR und den »Volksdemokratien«. In diesem Sinn kann man ohne Übertreibung festhalten, daß der Eurokommunismus eine tiefe Bresche in den internationalen stalinistischen Apparat gerissen hat, die die Krise dieses Apparats, vor allem seiner Beziehungen zu den Massen der UdSSR und der »Volksdemokratien«, verschärft und objektiv die Entwicklung der politischen Revolution beschleunigt.

Unverbesserliche Sektierer stellen die Dinge so dar, als wäre der Eurokommunismus entweder ein »abgekartetes Spiel« mit dem Kreml, um die »internationale Entspannung« zu erleich-

* »Kritik des Eurokornmunismus«, Verlag Olle & Wolter, Berlin. 220 Seiten; 12,80 Mark.

tern, oder aber die Absage an eine weitere »Verteidigung der Sowjet-Union«.

Das erste Argument ist lächerlich: Glaubt man allen Ernstes, der Kreml habe Carrillo Marchais und Berlinguer befohlen, den Kreml zu kritisieren?

Das zweite Argument führt auf gefährliche Wege. Denn weder in der CSSR noch in Polen, von der UdSSR ganz zu schweigen, handelt es sich heute um einen Konflikt zwischen Imperialismus und Sowjetgesellschaft. Die Restauration des Kapitalismus steht nicht unmittelbar auf der Tagesordnung.

In allen Fällen handelt es sich um einen Konflikt zwischen der Sowjetbürokratie und Schichten (oder der Mehrheit) der unterdrückten, gegängelten und atomisierten werktätigen Bevölkerung und keineswegs um Versuche, das Privateigentum wieder einzuführen (nur die Dümmsten fallen auf die plumpen Verleumdungen der Bürokratie diesbezüglich herein).

Wer diesen Konflikt zwischen der Bürokratie und der werktätigen Bevölkerung mit dem Konflikt zwischen Sowjetgesellschaft und internationalem Kapital gleichsetzt, der kapituliert vor dem Stalinismus.

Gewiß, wenn Berlinguer, Marchais und Santiago Carrillo der Diktatur des Proletariats abschwören und sich für »parlamentarische und wählbare Wege zum Sozialismus« aussprechen, wenn sie für ein Bündnis mit bürgerlichen Parteien eintreten, wenn sie versichern, daß sie sogar das Atlantische Bündnis respektieren werden, falls sie in einer Regierungskoalition Ministerposten bekommen sollten, dann verzieht der Kreml das Gesicht hierzu aus reiner Spiegelfechterei.

Zweifelsohne: Je mehr sich die kommunistischen Parteien aus einer reformistischen Basis rekrutieren, desto geringer wird der ideologische Unterschied zur Sozialdemokratie, desto zahlreicher werden die Mandatsträger und Bürokraten sein, die bereit sind, diesen Sprung zu vollziehen.

Aber für die kommunistischen Parteien insgesamt bedeutet der völlige Bruch mit der Sowjet-Union den Verlust der eigenen Identität; bedeutet, »ich unumstößlich dem Prozeß auszusetzen, von der Sozialdemokratie aufgesogen zu werden.

Angesichts der bedeutenden materiellen Basis, die ihnen ihre selbständige Existenz verschafft, ist es wenig wahrscheinlich, daß die Führungen dieser Parteien den Prozeß der Sozialdemokratisierung bis zu Ende gehen und mit Moskau völlig brechen werden. Die Beziehungen, wie sie jetzt sind, kommen ihnen genau entgegen.

Wenn aber Berlinguer, Santiago Carrillo und Marchais von der Pluralität der politischen Parteien beim »Aufbau des Sozialismus« sprechen, wenn sie für die Unabhängigkeit der Gewerkschaften eintreten, wenn sie sich für das Streikrecht auch nach dem Sturz des Kapitalismus einsetzen, wenn sie -- wenn auch noch zögernd und unzulänglich -- die Verletzungen und Verbrechen anprangern, die an der proletarischen Demokratie und den elementaren Menschenrechten in der Sowjet-Union und in den Volksdemokratien begangen werden, dann entrüstet sich die sowjetische Bürokratie und gerät in Panik.

Wenn man in den demokratischen Beteuerungen von Berlinguer und Carrillo nur Konzessionen an die Bourgeoisie sieht, dann begreift man nicht die mächtige antibürokratische Komponente, die den revolutionären Aufschwung im kapitalistischen Europa begleitet.

Sie war bereits im Mai 1968 sichtbar. Sie hat sich im revolutionären portugiesischen Prozeß als mächtig erwiesen. Sie wird in der aufsteigenden spanischen, italienischen und französischen Revolution noch gewaltiger sein.

Die Führungen der kommunistischen Parteien Westeuropas verteidigen einige elementare Grundsätze der Gewährung demokratischer Freiheiten und des Schutzes der Menschenrechte in der Phase des Aufbaus des Sozialismus in ihren eigenen Ländern, ohne daß der Kreml sie exkommuniziert, wie er es noch mit Tito und Mao getan hat.

Man kann demnach für ein Mehrparteiensystem, für wirkliche Pressefreiheit, für ein wirkliches Streikrecht der Arbeiter nach dem Sturz des Kapitalismus eintreten, ohne automatisch zum »tollwütigen Antikommunisten«, zu einem »Agenten des imperialismus« abgestempelt zu werden.

Dann aber stellt sich sogleich die Frage: Und wenn ein tschechoslowakischer, ein ostdeutscher, polnischer, hutgarischer, sowjetischer (und jugoslawischer!) Kommunist die Anwendung der gleichen Grundsätze auch in seinem eigenen Land verlangt, wird er dann zum »Antikommunisten«, zum »Anhänger der kapitalistischen Restauration«, zu einer »giftigen Schlange«, zu einem »antisowjetischen Agitator«, weil er genau das wiederholt, was die »Genossen« Santiago Carrillo, Berlinguer, Marchais ganz offen in Ost-Berlin erklärt haben«?

Die große Furcht des Kremls betrifft nicht so sehr die Tatsache, daß er seinen Einfluß auf die kommunistischen Parteien Westeuropas schwinden sieht. Seine große Furcht sind die Auswirkungen des »Eurokommunismus« auf die Kontrolle, die Moskau über die KP"s und die Massen Osteuropas und der UdSSR selbst ausübt, sowie die Konzessionen an die antibürokratischen Empfindungen der Massen, die er aufrührt.

Man muß sieh deshalb die Frage stellen, warum der Kreml letzten Endes dem »Eurokommunismus« nachgegeben hat, wenn die Auswirkungen in der eigenen Einflußsphäre so unheilvoll zu werden drohen.

Die Antwort ist ganz einfach die, daß das Heilmittel schlimmer gewesen wäre als das Übel selbst. Ein neues, drittes »Schisma« im stalinistischen Universum, mit der offenen Exkommunikation der spanischen, italienischen, französischen und britischen KP-Führer, hätte weit mehr zentrifugale Kräfte in den »Volksdemokratien« und in der Sowjet-Union freigesetzt.

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