»Die Sowjets wollen keinen Krieg«
Als der General am Abend aus Heidelberg zurückkehrte, war die Krise da. In der Berliner Residenz des US-Militärgouverneurs lagen bereits alle Meldungen vor: Die sowjetischen Militärbehörden hatten am Morgen des 24. Juni 1948 den gesamten Interzonenhandel, alle Zufahrtswege und Lieferungen nach Berlin gesperrt.
Vier-Sterne-General Lucius D. Clay, US-Militärgouverneur im besetzten Nachkriegs-Deutschland und Oberbefehlshaber der US-Truppen in Europa, wußte, was das bedeutete. Berlins Westsektoren sollten von jeder Umwelt und Versorgung abgeriegelt, 2,5 Millionen Berliner ausgehungert und für Sowjet-Forderungen reif gemacht werden.
Es war ein Coup, der selbst den Sowjet-Gegner Clay überraschte. Dabei hatten die Sowjets im letzten Vierteljahr Zug um Zug die West-Transporte nach und von Berlin behindert: Erst war von ihnen ein Kontrollrecht gegenüber allen westlichen Militärzügen beansprucht worden, dann hatten sie angeordnet, daß Frachtgüter auf dem Schienenweg Berlin nur noch mit ihrer Genehmigung verlassen dürften.
Washington hatte nervös reagiert und Clay angewiesen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Er sollte die Angehörigen der in Berlin stationierten US-Soldaten sofort evakuieren, ja es gab bereits den Plan, im Falle einer sowjetischen Invasion gemeinsam mit der amerikanischen Berlin-Besatzung 20 000 deutsche US-Freunde auszufliegen.
Doch Lucius D. Clay mochte solche Pläne nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Dem Planungschef der US-Armee, Generalleutnant Wedemeyer, kabelte er am 2. April: »Sowjetische Aktion verfolgt das Ziel, uns aus Berlin zu vertreiben. Sofortige Evakuierung von Familienangehörigen würde als sowjetischer Erfolg gelten.« An General Bradley, den Stabschef der Armee: »Wir müssen so reagieren, daß es von 42 Millionen Deutschen und 200 Millionen Westeuropäern nicht falsch verstanden wird. Wir müssen sagen: Bis hierher und nicht weiter.«
Und dem Armeeminister Kenneth Royall schärfte er in seinen allabendlichen supergeheimen Telephongesprächen mit Washington ein: »Jede Schwäche auf unserer Seite wird uns Prestige kosten, das jetzt so wichtig ist. Wenn die Sowjets wirklich den Krieg wollen, dann werden wir durch eine schwache Aktion die nächste Provokation nur um einige Tage aufschieben.«
Nur eine Schreckensvorstellung ließ ihn zuweilen in seinen Überzeugungen wankend werden: Wie denn, wenn die Sowjets Berlin von aller Versorgung abschnürten und Hunderttausende hungernder Berliner gegen die US-Resatzer rebellierten? Das sei »die einzige Konstellation, die uns aus Berlin vertreiben könnte«, schrieb Clay am 10. April an Bradley. Er klammerte sich freilich an einen Wunschglauben: »Ich zweifle, daß die Sowjets einen solchen Zug machen werden.«
Und eben dies war jetzt, am Morgen des 24. Juni 1948, geschehen: Die Sowjets hatten die totale Blockade gegen West-Berlin verhängt. Clay konnte sich leicht ausrechnen, wie lange sich die Stadt selber versorgen konnte. »Unsere Lebensmittelvorräte«, erinnert sich Clay, »reichten für 36, die Kohlevorräte für 45 Tage.«
Was war dagegen zu tun? Clay rief seinen Stab zusammen und erörterte mit ihm Gegenmaßnahmen. Doch seine engsten Mitarbeiter konnten sich nicht einigen; eine kleine Gruppe wollte durchhalten, eine andere zog den Rückzug aus Berlin vor.
Verärgert verabschiedete Clay seine Mitarbeiter und blieb allein im Büro zurück. Immer wieder spielte er sich Möglichkeiten für eine Lösung der Berlin-Krise durch. Da kam ihm eine Idee, verzweifelt und verrückt, von ihm selber schon wiederholt verworfen und doch die einzige Hoffnung, die ihm und den Berlinern im freien Teil der Stadt blieb.
Allerdings: Sie ließ sich nur verwirklichen, wenn West-Berlins Bevölkerung mitspielte und härteste Abstriche an ihrem ohnehin kargen Lebensstandard hinnahm. Clay rief Ernst Reuter, West-Berlins künftigen Oberbürgermeister, zu sich und erläuterte ihm, was er vorhatte. Reuter kannte nur eine Antwort: Die Berliner würden für ihre demokratische Freiheit kämpfen.
Dann ließ sich Clay mit dem Hauptquartier in Wiesbaden verbinden und verlangte General Curtis LeMay, den Oberbefehlshaber der US-Luftwaffe in Europa, an den Apparat. »Curt«, sagte er, »können Sie Kohle per Luft transportieren?«
Der Air-Force-Mann glaubte, nicht richtig gehört zu haben. LeMay: »Entschuldigung, General, würde es Ihnen was ausmachen, diese Frage noch einmal zu wiederholen?«
Clay tat es und entwickelte ihm dann seinen Plan: mit allen verfügbaren Transportmaschinen sofort eine Luftbrücke nach West-Berlin zu errichten, auf der in einer Art Nonstop-Unternehmen Lebensmittel und Brennstoff in die belagerte Stadt transportiert wer* Nach der Ernennung Clays zum Ehrenbürger West-Berlins.
den konnten. Gewiß, der Pionieroffizier und Nachschub-Experte Clay wußte, daß LeMay nur über zweimotorige Maschinen vom Typ C-47 verfügte, die allenfalls je 2,5 Tonnen laden konnten; doch für den Anfang reichten sie ihm später würde er größere Transporter aus den USA anfordern.
LeMay war begeistert und versetzte seine Transporterflotte augenblicklich in Alarmzustand. Die ersten C-47 wurden für den Berlin-Einsatz bereitgestellt; noch in der Nacht waren sie mit Lebensmitteln beladen. Am Morgen des 25. Juni, einem Freitag, hörten mit Clay Tausende von Berlinern das donnernde Motorengeräusch heranfliegender »Rosinenbomber«, wie LeMays Transporter alsbald genannt wurden.
Es begann eines der faszinierendsten politisch-technischen Abenteuer der Nachkriegszeit: 462 Tage lang flogen amerikanische und britische Transporter schier pausenlos Lebensmittel und Kohlen ein, landeten auf Behelfsbahnen, starteten wieder, holten neue Waren und kamen wieder. Insgesamt schafften sie 1,8 Millionen Tonnen in die belagerte Stadt -- nicht ohne Verluste: 31 Amerikaner, 39 Briten und acht Deutsche verloren dabei ihr Leben.
Lucius D. Clay hatte ein Unternehmen in Bewegung gesetzt, das aus der Mythologie des Kalten Krieges nicht mehr wegzudenken ist. Die Luftbrücke sicherte West-Berlins Freiheit und erzwang nach einem knappen Jahr die Aufgabe der sowjetischen Blockade.
West-Berlin wurde nicht zuletzt gerettet, weil Clay in einer entscheidenden Stunde Mut und Phantasie besessen hatte. »Auf sein schnelles und kluges Reagieren«, so der amerikanische Blockade-Chronist Walter Phillips Davison, »ist es vor allem zurückzuführen, daß der 25. Juni 1948 nicht zu einem schwarzen Freitag für den Westen wurde.«
Es ist diese Tat, derentwegen die Berliner den nüchtern-trockenen General, der kaum Freunde hatte und nie ein Wort Deutsch erlernte, wie einen Volkshelden verehrten und in der vergangenen Woche echte Betrübnis offenbarten, als bekannt wurde, daß Lucius DuBignon Clay, der »Vater der Luftbrücke« ("Süddeutsche Zeitung"), im Alter von 80 Jahren an einem Herzversagen im US-Staat Massachusetts gestorben sei.
»Es ist mehr als fraglich«, schrieb der Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe, »ob es heute ein freies Berlin gäbe, wenn General Clay nicht tatkräftig und entschlossen dafür eingetreten wäre.«
In die aufbrandende Welle der Nachrufe mischte sich freilich auch mancher falsche Ton, grassiert doch unter bundesdeutschen Publizisten noch immer das alte Mißverständnis, Clay sei so etwas wie ein Kalter Krieger gewesen und habe im schärfsten Gegensatz zu der heutigen Entspannungspolitik gestanden.
Die Nachrufschreiber kennen offenbar nicht Clays einst geheime, inzwischen freigegebene Briefe, Kabel und Telephonprotokolle aus seiner Gouverneurszeit, die belegen, daß der General alles andere als ein fanatischer Feind der Sowjets war. Er hielt selbst Stalin für rational. ansprechbar und konnte sich eine Friedensordnung ohne sowjetische Mitarbeit nicht vorstellen.
Der Ingenieur-Offizier Clay, Urgroßneffe eines US-Außenministers und Sohn eines US-Senators, dachte viel zu nüchtern in den Bahnen traditioneller Machtpolitik, um einer antisowjetischen Kreuzzugsmentalität zu erliegen. Er hatte, bescheinigt ihm der Historiker John Gimbel, »ein Verständnis für politische Realität, das den Ideologen fremd war, die den Kalten Krieg gegen die Russen führten«.
Er wollte bewahren, nicht durch den Kriegsausgang verlorenes Terrain zurückerobern. Was Clay dabei allerdings von anderen unterschied, war die Härte, mit der er westliche Positionen gegen Sowjet-Pressionen verteidigte. Dabei war es weniger sowjetische Macht als westliche Schwäche, die ihn alarmierte; den Westen wollte er stark machen, um ihn in die Lage zu versetzen, eines Tages einen Modus vivendi mit dem Osten zu finden.
Der Militärgouverneur Clay hatte sogar länger als jeder andere US-Besatzungsfunktionär an dem Konzept festgehalten, gemeinsam mit den Sowjets die deutsche Einheit zu bewahren -- aus wirtschaftlicher Ratio: Nur eine Zusammenarbeit aller Besatzungsmächte konnte den Deutschen jenen Mindest-Lebensstandard sichern, der die USA. der Notwendigkeit enthob, das geschlagene Deutschland auch noch ökonomisch unterstützen zu müssen.
Das scheiterte an dem Widerstand Frankreichs, das keine deutsche Einheit zulassen wollte. Den Russen aber attestierte Clay im November 1945: »Die Sitzungen des Alliierten Kontrollrates zeigen, daß die UdSSR bereit war, mit den anderen Mächten zusammenzuarbeiten, um Deutschland als eine politische und wirtschaftliche Einheit zu verwalten.«
Noch im Mai 1946 glaubte Clay, Moskau sei nicht auf die Teilung Deutschlands fixiert. Für den General war und blieb Frankreich »das größte Hindernis auf dem Weg zur Einheit«. Das verwickelte ihn in heftige Auseinandersetzungen mit dem US-Außenministerium, das Frankreich den Deutschen vorzog und sogar eine französische Wirtschaftshegemonie im Nachkriegs-Europa förderte.
Erst als 1947/48 deutlich wurde, daß Moskau einen kommunistischen Einheitsstaat auf deutschem Boden anvisierte und Frankreich nach langem Zögern zumindest der Errichtung eines westdeutschen Staates zustimmte, änderte Clay seinen Kurs. Die immer intransigentere Verweigerungspolitik Moskaus ließ ihm ohnehin keine andere Wahl.
Doch er hörte nicht auf, den Franzosen zu mißtrauen. Noch als die von Clay forcierte Währungsreform in den Westzonen im Frühsommer 1948 zum offenen Konflikt mit den Sowjets führte, die prompt durch eine Gegen-Reform in ihrer Zone auch gleich das Vier-Mächte-Berlin in ihr Herrschaftsgebiet integrieren wollten, schalt er die Franzosen ob ihres Wankelmuts.
»Selbst heute abend«, entrüstete sich Clay in einem Telephongespräch mit Bradley, »verkleinerten sie noch das russische Problem und sprachen von der deutschen Gefahr.« Auch bei den letzten Verhandlungen mit dem sowjetischen Militärgouverneur Sokolowski über einen Ausweg der Berliner Währungskrise war sich Clay seines französischen Kollegen Pierre Koenig nie sicher.
Desto hartnäckiger trieb Clay Washington und die Verbündeten an, in Berlin nicht nachzugehen und ja nicht die Währungsfrage für den eigentlichen Kern des Berlin-Konflikts zu halten. Armeeminister Royall beschwichtigte ihn: »Wir stimmen mit Ihnen darüber ein, daß der Währungsstreit möglicherweise nur eine Phase in dem großen sowjetischen Versuch ist, die Westmächte aus Berlin zu vertreiben.«
Gleichwohl beschlich Washington zuweilen das Gefühl, Clay übernehme sich. Royall mahnte ihn: »Ich will nicht haben, daß irgendeine Aktion in Berlin unternommen wird, die zu einem bewaffneten Konflikt führen könnte.« Darauf Clay: »Wir haben nicht die Absicht, mit dem Schießen anzufangen.«
Dennoch wurde er nicht müde, Washington zu einem immer risikofreudigeren Berlin-Engagement anzuspornen. Gegen den Widerstand der Washingtoner Luftwaffenführung, die sowjetische Angriffe befürchtete, setzte er den Einsatz der leistungsfähigeren Transporter vom Typ C-54 durch, er erreichte die Verlegung amerikanischer Bomberverbände nach Deutschland, er ließ von Woche zu Woche die Berlin-Lieferungen steigern.
Clay konnte sich so engagieren, weil er sich sicher war, die Sowjets würden es über Berlin nicht zu einem Krieg kommen lassen. Clay zu Bradley: »Ich bin überzeugt, daß die Sowjets keinen Krieg wollen.« Und von dieser Grundüberzeugung rückte er nie ab.
Das verlockte Clay schließlich auch, Washington ein waghalsiges Unternehmen vorzuschlagen, mit dem er aller Welt demonstrieren wollte, daß die Sowjets nur blufften. Dabei wollte er sich die Blockade-Begründung der Sowjets zunutze machen, »technische Schwierigkeiten« machten die Zufahrtswege nach Berlin unbefahrbar. Clay kabelte am 10. Juli an Bradley:
Ich bin der festen Oberzeugung, daß wir der sowjetischen Regierung unsere Bereitschaft bekunden sollten, diese technischen Schwierigkeiten zu beheben, indem wir an einem bestimmten Tag einen Konvoi mit entsprechendem Brückenbaumaterial entsenden, der den uns zustehen. den Weg nach Berlin befahrbar macht. Ich bin überzeugt, daß der Konvoi nach Berlin durchkäme und alle technischen Schwierigkeiten verschwinden würden. Die Konvoi-Idee faszinierte die Armeeführung so, daß Brigadegeneral Pritchard von der Operationsabteilung des Europa-Kommandos sofort Auftrag erhielt, einen Einsatzplan zu entwerfen. Pritchards Plan: Ein Konvoi von 200 Zehn-Tonnen-Lkw, gedeckt von einem Polizeiregiment und einem Pionierbataillon der US-Armee, einem britischen Infanteriebataillon und einer französischen Panzerabwehrabteilung, stößt auf der Autobahn Helmstedt-Berlin vor.
»Das Unternehmen«, so Pritchard am 13. Juli, »würde a) unsere klare Absicht zeigen, die Straße nach Berlin freizumachen, und könnte b) von den Sowjets nur durch die Anwendung militärischer Gewalt unterbunden werden.« Was aber, wenn die Sowjets die Autohahn verbarrikadierten und damit den Konvoi zwangen, entweder umzukehren oder sich mit Waffengewalt den Weg nach Berlin freizukämpfen? Clay wurde nach Washington gerufen, um die Frage zu beraten.
Am 23. Juli fiel die Entscheidung: kein Konvoi. Die Minister in Washington wollten ihn allenfalls unbewaffnet in Marsch setzen, womit wiederum Clay nicht einverstanden war. Doch ganz starb das Projekt nie. Es tauchte immer mal wieder auf, so auch am 9. August, als Clay die Order zuging, alle Vorbereitungen für den Konvoi-Einsatz zu treffen und nichts davon den Alliierten zu verraten.
Das Projekt überlebte sogar die Berliner Blockade und hing Clay wie eine Wunderdroge an. Als der Ex-General, längst in die Privatwirtschaft übergewechselt, 1961 nach dem Bau der Berliner Mauer als Präsident Kennedys Sonderbotschafter in die Stadt versetzt wurde, um die deprimierten West-Berliner wieder moralisch aufzurichten, und durch seine Spaziergänge jenseits der Mauer westliche Präsenz in Ost-Berlin demonstrierte, tauchte prompt die Erinnerung an den Konvoi-Plan wieder auf. Der alte Herr ließ sich gerne feiern. In Interviews bekannte er, wenn damals sein Plan verwirklicht worden wäre, hätte man den Zugang nach Berlin endgültig sichern können.
Es war eine fromme Lüge, mit der sich Lucius D. Clay von seinen Schützlingen verabschiedete. Schon Jahre zuvor hatte er seinen geheimen Papieren die Erkenntnis anvertraut, daß das Konvoi-Projekt zum Scheitern verurteilt war.
»Die Sowjets sind so stark, daß sie leicht einen solchen Vorstoß (nach Berlin) vereiteln könnten«, schrieb er am 25. Mai 1949. »Ich meine, es hat keinen Zweck, so etwas zu unternehmen.«