Die Stärken der Schwachen
Viel Beklemmendes in den letzten Monaten scheint darauf hinzudeuten, daß es im Bereich des »real existierenden Sozialismus« diesmal der Tschechoslowakei zugefallen ist, den Dissidenten energisch das Handwerk zu legen und so die Rolle eines Schrittmachers in dieser Hinsicht zu spielen. Oder hat jemand in Prag, übereifrig, den Zeitpunkt schlecht gewählt und einen eigenartigen Beitrag zur Salt-II-Debatte des US-Senats geleistet? Wenn es so ist, dann sollten die Herren im Kreml an Mephistos Wort erinnert werden: »Am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machten.«
In jedem Fall wird in diesen Tagen die Geschichte der Dissidenten-Verfolgung um ein düsteres Kapitel erweitert: Eine größere Anzahl von Menschen als je zuvor wird in dieser »Aktion« drangsaliert, erniedrigt, diffamiert, verhaftet, falsch angeklagt, mit hohen Kerkerstrafen bedroht ...
Vor zehn Jahren wurde dem tschechoslowakischen Volk feierlich und wiederholt von höchster Stelle das Gelöbnis gegeben, daß keine politischen Prozesse im Lande mehr zugelassen werden. Heute hält man im berüchtigten Gefängnis Ruzyne zehn politische Häftlinge, um sie vor Gericht zu stellen und aburteilen zu lassen.
Und in der DDR? Vor 18 Jahren argumentierte man mit der Unmöglichkeit, den Sozialismus bei offenen Grenzen aufbauen zu können, und man errichtete die Berliner Mauer. Jetzt scheint man zum Schluß gekommen zu sein, die Mauer aus Betonquadern reiche nicht und müsse ergänzt werden durch eine aus Paragraphen, aus solchen, die man aus alten, sehr finsteren Zeiten herbeiholt. Jetzt scheint man zu de; Erkenntnis gelangt zu sein (ohne sie allerdings auszusprechen), daß der Sozialismus auch ohne Sibirien nicht zu verwirklichen sei, weshalb man durch die Einführung der legalen inneren Verbannung künstlich das nachzuholen trachtet, was die Natur nicht geschaffen hat: sein eigenes kleines Sibirien. Fortschritt, Vernunft, Déente.
Seit dem kurzlebigen Tauwetter nach Stalins Tod, also seit nunmehr einem Vierteljahrhundert, setzen die Partei- und Staatsführungen der Sowjet-Union und der Länder ihrer Machtsphäre alles daran, öffentlich geäußerte Nichtübereinstimmung mit behördlich sanktionierten Stellungnahmen zum Schweigen zu bringen und weiterhin zu verhindern. In die Tausende geht die Zahl der Dissidenten, die -- von der Elbe bis nach Wladiwostok -- während dieser Zeit der Unterdrückung zum Opfer gefallen sind, besonders aber seit der Verhaftung und Verurteilung von Julij Daniel und Andrej Sinjawski 1965/66, womit die schleichende Re-Stalinisierung in der Sowjet-Union zum Durchbruch gekommen ist.
Dabei wurde behördlich immer wieder behauptet, es handelte sich bloß um eine Handvoll von pathologischen oder sonst entgleisten Individuen, deren Beseitigung die ganze Angelegenheit erledigen werde. Man hat die Beseitigungen jahrelang betrieben, man intensiviert sie gegenwärtig, man vergrößert fortwährend die Zahl der Menschenopfer, ohne das Problem gelöst zu haben.
Das Leiden wächst, der Dissens besteht jedoch nach wie vor. Immer finden sich Nachfolger, die in die Bresche springen. Nur ein Beispiel für viele: Die meisten der in den letzten Jahren in der CSSR aus politischen Gründen Verfolgten standen zwischen ihrem 20. und 30. Lebensjahr, waren also zur Zeit des Prager Frühlings 1968 Kinder oder Teenager.
Die bloße Tatsache, daß artikuliertes Andersdenken alle bisherigen Bedrängnisse überlebt hat, ist eine bemerkenswerte Erscheinung dieser Jahre, denn sie stellt -- wenn auch vorerst unsicher und verworren -- einen Ausweg in Aussicht aus jener Sackgasse, in die sich der »real existierende Sozialismus« hineinmanövriert hat.
Das stalinistische politische System ist,
bekanntlich auch dadurch gekennzeichnet, daß sich beträchtliche Teile der Bevölkerung von ihm auf verschiedene Weise distanzieren. Sie ziehen eine Trennungslinie zwischen »wir« und »sie«, entweder indem sie ihr Hauptaugenmerk auf ihre privaten Angelegenheiten richten und zum Regime nur allernotwendigste Kontakte aufrechterhalten, oder indem sie sich bemühen, aus den vorhandenen Möglichkeiten Nutzen zu ziehen, was zu jener Korruption führt, die das ganze Gesellschaftsgefüge durchsetzt. Dieses Abrücken entspringt der von der Führung vorsätzlich betriebenen Entpolitisierung, das heißt politischen Entmündigung der sogenannten Massen. Deren Flucht ins Private kommt ihr deshalb gelegen, und bei der Korruption drückt sie aus demselben Grund gewöhnlich ein Auge zu.
Auch was später den Namen Dissens erhalten sollte, fing an als eine apolitische, ja manchmal geradezu antipolitische Abgrenzung gegenüber dem Regime. Sie schlug aber bald ins Politische um, weil erstens die Macht diese Art von Abgrenzung nicht tolerieren zu können glaubte und weil zweitens die Dissidenten an die Macht Forderungen stellen mußten. Vereinfacht ausgedrückt entschlossen sich einzelne Menschen, trotz aller Einschränkungen, trotz der vernunft- und wahrheitswidrigen, die Menschenwürde verletzenden Umstände, mitten in Unfreiheit als freie Menschen zu leben, sich nicht manipulieren, von dem, was sie für wahr hielten, sich nicht abbringen und was gesagt werden mußte, nicht ungesagt zu lassen. Sie versuchten somit, eine andere Lebensweise, eine alternative Lebensmöglichkeit für sich zu schaffen.
Vor allem nahmen sie die Gesetze sozusagen beim Wort und forderten, diese sollten wirklich meinen, was sie sagen, und für die Machthaber ebenso bindend sein wie für die Machtlosen. Das kam der Forderung gleich, die Führung solle die gültigen, also ihre eigenen Gesetze respektieren. Wo sie dies nicht tut, betrachten es einzelne Bürger, die nicht länger zu schweigen gewillt sind, als ihre Pflicht, auf die Rechtsverletzungen der Machtorgane öffentlich aufmerksam zu machen, die Behebung der Übergriffe zu verlangen und den Betroffenen solidarisch beizustehen.
Um die Tragweite dieser Stellungnahme anzudeuten, sei daran erinnert, daß die Diktatur des Proletariats laut Lenins Definition durch keine Gesetze, einschließlich der eigenen, gebunden ist. Die jahrzehntelange Anwendung dieses Grundsatzes ergab notwendigerweise eine Willkürherrschaft jener, welche diese Diktatur »vorgeblich in Vertretung des Proletariats ausüben. Zugleich konnte aber dieses System ohne eine formale Anerkennung der demokratischen Errungenschaften früherer Generationen nicht auskommen.
Da haben wir es mit einem der immanenten Widersprüche dieses Systems zu tun, das ein lebenswichtiges Interesse daran hat, ganz anders zu scheinen, als es wirklich ist. Wenn sich die unkontrollierte Macht an kein Gesetz gebunden fühlt, dann untergräbt sie faktisch jede Legalität in der Gesellschaft. Nebenbei bemerkt, seit der Chruschtschow-Ära wurde immer wieder von der Bewahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit gesprochen. Ein hervorragender parteitreuer Jurist in Prag pflegte privat dazu zu sagen: »Bewahrung ist schön und gut, nur müßte sie erst vorhanden sein.
Wenn eine solche Macht nichtsdestoweniger Gesetze erläßt, dann praktisch nur, damit diese von den Beherrschten, nicht unbedingt aber von den Herrschern, befolgt werden, damit also die Zweiteilung der Gesellschaft in Machthaber und Machtlose dauernd aufrechterhalten bleibe.
Gleichzeitig muß man diese allzu
nackte Sachlage verhüllen, indem man sich, den Erben der Großen Revolution, als Fahnenträger des gesellschaftlichen Fortschritts, Vorkämpfer der Freiheit und Garanten des Friedens präsentiert. Die Stalinsche Verfassung von 1936 (die als Vorbild für alle Grundgesetze des »real existierenden Sozialismus« diente und bis heute -- unter geändertem Namen und mit bloß unwesentlichen Retuschen -- gültig ist) hat alle wichtigen demokratischen Institutionen, Verfahren und Bürgerrechte in sich einverleibt, nachdem sie allerdings insgesamt ihres demokratischen Inhalts beraubt und nur als leere Schalen zur Mystifizierung der wirklichen Machtverhältnisse beibehalten worden waren.
Eine der traditionellen demokratischen Einrichtungen fehlt aber im stalinistischen System: die Instanz nämlich, welche die Beachtung des Grundgesetzes und die Verfassungsmäßigkeit einzelner Gesetze autoritativ überwachen soll. Denn jenes System verträgt eben keine Kontrolle, ja nicht einmal die hypothetische Möglichkeit einer solchen. Es behält sich eine ständige Aktionsfreiheit vor.
Eben die Geschichte der Dissidenten-Verfolgung legt dieses ständige Zurückgreifen auf Willkür bloß, denn sie zeigt: Obwohl die Verfolger die gesetzgebende Initiative unbeschränkt innehaben, obwohl die Pro-forma-Gesetzgeber sie bis zum letzten selbst auswählen, also voll beherrschen und folglich alle beliebigen Gesetze, auch die absurdesten und barbarischsten, servil verabschiedet haben können, übertreten sie auch solche stets noch durch gesetzwidrige Schikanen, Einschüchterungen und terroristische Gewalttaten.
Im Inneren des Landes, wo das vor sich geht, ja im ganzen Bereich des »real existierenden Sozialismus«, wird dem einzelnen Bürger auf diese Weise eingeprägt, daß er, ohne Rücksicht auf den Buchstaben des Gesetzes, von dem Willen der Machthaber abhängig ist.
Das muß auf die Gesellschaft tief demoralisierend wirken. Diese Einstellung zur Frage der Gesetze tritt im internationalen Maßstab zutage, wenn etwa die Schlußakte von Helsinki feierlich unterschrieben und die Uno-Konventionen über Menschenrechte ratifiziert werden, während gleich daneben den übernommenen Verpflichtungen diametral entgegengesetzte Verordnungen erlassen werden und in der Praxis auch über diese noch hinweggegangen wird. Die Welt hat es dabei mit einem folgenschweren Phänomen zu tun, das, wie immer man es bezeichnen mag -- etwa: legalisierte Illegalität -, im Wesen die Schaffung einer allgemein gültigen Gesetzlichkeit in bezug auf die Menschenrechte unterminiert, mithin die vielleicht wichtigste Voraussetzung eines zivilisierten Zusammenlebens.
Indem die Dissidenten verschiedenster Schattierungen Analysen und Lösungsvorschläge vorlegen, die von den offiziell sanktionierten abweichen, durchbrechen sie vorsätzlich das Tabu der ideologischen Alleinherrschaft, die eine Fortentwicklung der Gesellschaft lähmt.
Indem sie der Macht gesetzliche Schranken setzen wollen, geht es ihnen um die Beseitigung der demoralisierenden Wirkung einer unbeschränkten Handlungsfreiheit der Mächtigen. Indem sie fordern, der einzelne solle tatsächlich als »citoyen«, als Subjekt der Politik, als Dialogpartner anerkannt und behandelt werden, wollen sie (oder die meisten unter ihnen) die unkontrollierte Macht unter demokratische Kontrolle stellen.
Durch ihren hartnäckigen Mut schaffen sie trotz Verlusten und Rückschlägen alternative, ethisch annehmbare Lebensmöglichkeiten für den einzelnen und legen zugleich das Fundament zu Parallelstrukturen, die den Bedürfnissen der Menschen dieser Zeit in ihrem jeweiligen Land entsprechen und dem Geiste gemäß sein sollen. Eine zusätzliche Rolle ist Dissidenten der nichtrussischen Völker in der Sowjet-Union und besonders Andersdenkenden in europäischen Ländern der sowjetischen Machtsphäre zugefallen. Alle diese Völker -- mit Ausnahme der Deutschen in der DDR, wo das Problem anders liegt -- haben Zeitläufte nationaler Unfreiheit durchgemacht und meistens langwierige nationale Emanzipationskämpfe führen müssen, aus denen sie demokratische Traditionen mitgebracht haben. Hinzu kommt als Quelle der Inspiration ihre Teilhabe an Europas sozialpolitischen Entwicklungen der Industrialisierung und ihrer politischen Folgen.
Das Zarenreich dagegen war das einzige wichtige Land Europas, das keine demokratische Umwälzung erfahren hat; und nach der Oktoberrevolution ist die lang überfällige Demokratisierung Rußlands auch nicht zustande gekommen. Statt dessen ist da eine Gesellschafts- und Staatsform entstanden, die sich aus zwei entgegengesetzten Elementen zusammensetzt: den Grundlagen eines sozialistischen ökonomischen Systems und einem historisch längst überholten, wesentlich prä-industriellen, despotischen politischen System.
Als nun die Sowjet-Union nach 1945 ihr System in den ihr zugefallenen Ländern Mittel- und Südeuropas allmählich einführen ließ, rief sie Geister hervor, mit denen sie kaum gerechnet hatte. Die betroffenen Völker zeigten sich nicht willig, die Beschränkung ihrer nationalen Souveränität und den Verlust ihrer (hier und da auch nur bescheidenen) demokratischen Traditionen auf die Dauer schweigend hinzunehmen. Da die Großmachtinteressen der Sowjet-Union vor allen anderen den Vorrang hatten, wurden diesen Völkern ein entsprechender Lebensrahmen und Lebensstil aufgezwungen. Sie wurden tatsächlich um eine historische Epoche zurückgezerrt, denn sie sahen sich von neuem dessen beraubt, was ihre Vorfahren teuer errungen hatten: des Rechts, ihre Geschicke mitzubestimmen und nicht wieder als Leibeigene zu leben, sondern als mündige Bürger dieses Jahrhunderts.
Da geht es nun um eine eigenartige, zähe Abwehr gegen die als wesensfremd empfundenen Lebensbedingungen, die mit aller Gewalt aufgedrängt wurden. Es geht um Widerstand gegen den historischen Rückschritt, der die Gefahr des Identitätsverlusts in sich birgt. In diesem Kampf sind es die Dissidenten, die Neinsager, welche -- bereit, sich für ihren Selbstrespekt aufzuopfern -- die Interessen der Machtlosen, die nationalen Belange artikulieren und bewahren.
Ein jedes Zeitalter hat seine Inquisitionen. Von Machthabern, die vorgeben, den Staat, die Gesellschaft aufgrund ihrer Kenntnis historischer Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlich zu lenken, könnte man erwarten, daß sie um das historische Geschick von Inquisitionen wissen. Sie glauben aber -- wie alle ihre Vorgänger -, anders zu sein als alle ihre Vorgänger und zu bewältigen, woran jene gescheitert sind. Despoten, bemerkt Tschechow, sind anfällig für Illusionen.
Die Dissidenten veranschaulichen die Stärke der Schwachen. Das Interesse dafür sollte nicht nur dem altchinesischen Zöllner in Brechts Gedicht überlassen bleiben.