Zur Ausgabe
Artikel 99 / 128

»Die stickige Luft wird fortgeweht«

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg über den Streit um das Nazi-Gold, die Verdrängung der Vergangenheit und die Selbstgerechtigkeit der Eidgenossen
Von Siegfried Kogelfranz
aus DER SPIEGEL 12/1997

SPIEGEL: Herr Muschg, der Schweizer Bundespräsident hat zur allgemeinen Überraschung eine Stiftung für Solidarität vorgeschlagen, die Opfern von Armut, Katastrophen und Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt helfen soll. Reicht das, um die Sünden der Vergangenheit verblassen zu lassen?

MUSCHG: Jedenfalls hat der Bundesrat mit einem starken Zug eine Position aufgehoben, die bisher nur auf Verlust stand. Aus der Erblast ist über Nacht eine Beweislast geworden: Wie solidarisch ist die Schweiz? Die Antwort darauf gibt sie jetzt in der Gegenwartsform - oder sie bleibt sie schuldig, diesmal nicht den Juden, sondern sich selbst.

SPIEGEL: Hat der kühne Vorschlag politisch überhaupt eine Chance, durchgesetzt zu werden?

MUSCHG: Die Rechnung ist ohne den Wirt gemacht. Das Volk muß darüber abstimmen, was ihm seine Glaubwürdigkeit wert ist, was seine Zukunft kosten darf. Jetzt wird es lebendig bei uns. Schon das ist etwas Neues, und ich freue mich darauf.

SPIEGEL: Die Schweiz, dieser einstige Musterknabe, stand unversehens als Bösewicht vor der Welt da, als ein Land, das sich am Erbe von Holocaust-Opfern vergriff und am Raubgold der Nazis bereicherte. Wie fühlten Sie sich in solch ungewohnter Rolle?

MUSCHG: Ich fühlte mich befreit. Der Schweizer Sonderfall ist definitiv durchgefallen. Auch bei uns wird jetzt nach einem neuen Skript gespielt. Die Heldenrollen für Biedermänner sind gestrichen, dafür treten viele sogenannte Brandstifter von einst als ehrliche Leute auf.

SPIEGEL: Mit Heldenrolle meinen Sie das Bild des wehrhaften Eidgenossen in seinem angeblich kaum bezwingbaren Alpenreduit. Die Mehrheit der Schweizer ist doch immer noch überzeugt, man habe damals unter dem Zwang der Verhältnisse tun müssen, was man getan hat.

MUSCHG: Es gibt eine Kollaboration aus Not und eine, die sich die Not anderer zunutze macht. Übrigens haben sich die Banken nicht nur an der Plünderung der Opfer beteiligt. Sie haben dadurch auch den eigenen Soldaten an der Grenze die Würde gestohlen.

SPIEGEL: Die Banken hatten wohl eher ihre guten Gewinne im Sinn als Würde - nach dem Motto, auch Nazi-Gold stinkt nicht.

MUSCHG: Als Kind habe ich damals auch keinen Unrat gerochen, schon gar kein Gas. Nur Höhenluft und entfernten Pulverdampf. »Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat«, hieß es damals - das klang wie die Einladung zu einer Verschwörung. Auch die abendliche Verdunkelung war ein Abenteuer; ich wußte nicht einmal, daß sie uns von den Deutschen befohlen war. Die Schweiz saß in einem verdunkelten Zuschauerraum, und auf der Bühne spielte der Krieg. Wir durften nur flüstern, sonst kam er zu uns.

SPIEGEL: Aber sonst schien Ihnen alles normal, während die Nachbarn vor den Toren der Gott sei Dank neutralen Eidgenossenschaft aufeinander einschlugen?

MUSCHG: Hinterher kommt mir an diesen Kriegsjahren in der Schweiz alles heimlich vor: unsere Angst, unsere Sympathie, unsere Sprache, sogar unser Mut. Am meisten verheimlichten wir, daß es uns immer noch gutging. Und daß wir wußten: Das war auch richtig so, wir waren die Guten, denn wir waren ja Schweizer.

SPIEGEL: Und nun, nach einem halben Jahrhundert, sind die Schweizer plötzlich die Schurken.

MUSCHG: Die reine Katastrophe für eine ganze Generation, deren Uhr damals stehengeblieben ist. Sie sind aus der Verschwörung der Goldrichtigen nie mehr ausgetreten. Gott hatte sein Volk in zwei Weltkriegen bewahrt, und das mußte heißen, es hatte sich bewährt. Es brauchte 1945 als einziges keinen Neubeginn.

SPIEGEL: Auch keinerlei kritische Bestandsaufnahme?

MUSCHG: Wozu? Uns war ja nichts geschehen, und verbrochen hatten wir erst recht nichts. Die Welt: das waren die andern, mochten sie jetzt ihre Bescherung auch selber aufräumen. Damals hat das Schweizer Immunsystem eine entscheidende Impfung versäumt.

SPIEGEL: So macht die Schweiz mit Jahrzehnten Verspätung auf einmal durch, was die Deutschen längst bewältigen mußten oder was den Österreichern mit der Waldheim-Affäre beschert wurde. Ist es da verwunderlich, daß viele angesichts des Schocks wie betäubt dastehen und nicht angemessen damit umgehen können?

MUSCHG: Splendid war unsere Isolation schon lange nicht mehr. Doch erst nach 1989 wurde sie absurd. Da begann vielen Schweizern zu dämmern, daß nicht die ganze Welt verkehrt sein könne, sondern daß sie selbst verkehrt sein müssen.

SPIEGEL: Wie geht es denn nun weiter?

MUSCHG: Erst muß der Schmerz kommen, wie nach jeder Anästhesie. Aber wer Schuldigkeit anerkennen kann, kehrt in die Realität zurück.

SPIEGEL: Diejenigen, die sich nach wie vor für schuldlos halten, schrecken selbst vor antisemitischen Ausfällen nicht zurück.

MUSCHG: Und merken nicht einmal, daß sie sich damit genau in der Gesellschaft zeigen, mit der sie niemals Verbindung gehabt haben wollen.

SPIEGEL: Kritiker meinen, die Schweiz reagiere auf Enthüllungen über ihre befleckte Vergangenheit wie ein ausgebuffter Krimineller, der immer gerade nur zugibt, was ihm bewiesen werden kann.

MUSCHG: Echte Profis hätten doch lieber gleich ein kleines Delikt auf die Kappe genommen, um die Verhandlung über ein schweres abzubiegen.

SPIEGEL: Diesen Zeitpunkt hat die Schweiz versäumt. Erst jetzt räumt sie nach langem Zaudern etliches ein, was ihr längst nachgewiesen wurde, und bietet auch Entschädigung an - viel zu spät, um sich die ganze Anklage zu ersparen.

MUSCHG: Das ist der Fluch eines Systems, das aus dem Reagieren eine Tugend gemacht hat.

SPIEGEL: Warum haben die mächtigen Banken mit ihren weltweiten Beziehungen diese Gefahr nicht früher erkannt?

MUSCHG: Da staune ich auch. Die Schweiz läßt sich so etwas wie Außenpolitik ja längst von Finanz und Wirtschaft besorgen. Damit glaubte sie fein heraus und doch professionell bedient zu sein. Nun ist auch diese Illusion geplatzt. Nach Kriegsende war es ja noch gelungen, sich für billige 250 Millionen von weiteren Fragen nach dem Verbleib der Beute loszukaufen. Gestellt wurden sie von den Amerikanern schon damals, und es waren sehr unfreundliche Fragen.

SPIEGEL: Die schnell wieder verdrängt wurden.

MUSCHG: Im Kalten Krieg machte die Schweiz ja alles wieder gut. Will sagen: Sie setzte das Doppelspiel der Kriegsjahre fort, diesmal wahrhaftig ohne Not. Jetzt wurde es ein reines Gewinnspiel. Gesinnungsneutralität: um keinen Preis! Aber man zahlte auch keinen, denn die politische Neutralität verpflichtete einen ja geradezu, von beiden Seiten zu kassieren. Auch seine Feinde glaubte man damals besonders preisgünstig zu bekommen. Man suchte sie unter den eigenen Mitbürgern, die dieses Vaterland nicht über jeden Zweifel erhaben fanden. Über ein Fünftel seiner Wohnbevölkerung legte der Staatsschutz im Kalten Krieg Akten an! Diese Notstandssimulation war ein teurer Schwachsinn. Das Land hat darauf viel von der Substanz verschwendet, die ihm heute fehlt.

SPIEGEL: Weshalb haben Sie und andere Schriftsteller und Künstler in dieser bisher schwersten Krise der Schweiz ebensolange wie die Banken und die Regierung gezögert, bevor Sie klare Worte fanden?

MUSCHG: Seit 30 Jahren warnten Intellektuelle in Schrift und Bild. Glauben Sie, da warten wir auf einen Senator, der in New York gewählt werden will, um unseren Landsleuten ins Ohr zu jubeln: Ätsch, wir haben''s ja gesagt? Wer früher nachgedacht hätte, brauchte jetzt nicht nach »Vordenkern« zu schreien.

SPIEGEL: Als größter Sündenbock steht derzeit die Regierung da. Alle werfen dem Bundesrat Führungsmangel vor.

MUSCHG: Armer Bundesrat! Als konkordanzpflichtiger Kompromißverwalter wurde er doch nicht zum Führen bestellt. Bisher reichte es der Wirtschaft auch, wenn die Regierung ihr den Standort begünstigte, den Rücken freihielt, die Verluste sozialisierte - auch die moralischen. Neu ist nur, daß sie weltweit auffallen.

SPIEGEL: Ist es überhaupt möglich, sich unter Zwang mit der eigenen Geschichte ehrlich auseinanderzusetzen?

MUSCHG: Die Historiker haben ihre Hausaufgaben längst gemacht und - um Herrn D''Amato zu zitieren - in die Ecke aufgesagt. Davon ließ sich die Legenden-Schweiz nicht erschüttern. Sie hat sich seit der Schlacht von Marignano aus der Weltgeschichte verabschiedet*. Der Rest war im Prinzip immerwährende Neutralität mit ein paar Zwischenfällen. Und jetzt soll man auf einmal ein Täter gewesen sein, sogar durch Unterlassung. Ein Mittäter der Nazis? Wer gewohnt war, die Geschichte als eine Art kaltes Buffet zu betrachten, von dem man holt, was einem schmeckt, der schluckt das nicht.

SPIEGEL: Was ist die Folge dieser Erfahrung? Führt sie zu weiterer trotziger Isolation oder doch zu einer Öffnung, wie Bundespräsident Koller jetzt hofft?

MUSCHG: Das hängt davon ab, ob man jetzt eine Wunde behandelt oder sich damit begnügt, eine Blöße zu bedecken.

SPIEGEL: Letzteres geht wohl nicht mehr.

MUSCHG: Wenn ich an die Schweizerische Bundesverfassung denke, die nächstes Jahr 150 Jahre alt wird, die konnte auch nur unter schwerem Druck geboren werden. Es waren eigene Bürger, die diesen Druck machten, und sie trieben ihn 1847 bis zum Bürgerkrieg. Aber der siegreiche Freisinn verstand sich als Teil einer europäischen Bewegung. Der einzige Weg aus der heutigen Krise führt uns nach Europa zurück.

SPIEGEL: Warum?

MUSCHG: Weil unser Verhalten zum erstenmal ohne Wenn und Aber mit dem Maß des übrigen Europa gemessen wird. Erst wenn wir uns dieses Maß gefallen lassen, gewinnen wir auch ein gesellschaftsfähiges Verhältnis zu uns selbst. Wir brauchen uns weder kleiner noch größer zu machen, als wir sind. Das Schwierigste, was wir zu lernen haben, ist Konfliktfähigkeit.

SPIEGEL: Der Schlag traf die Schweiz ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo ihr Selbstwertgefühl ohnehin durch hohe Arbeitslosigkeit und schlechte Wirtschaftsaussichten angekratzt ist.

MUSCHG: Ja, die verschnupfte Schweiz steht in schwerem Durchzug, aber es weht auch die Stickluft fort. Zum erstenmal seit 50 Jahren rühren sich in der Schweiz die Grenzen des Vorstellbaren.

SPIEGEL: Wer könnte denn diese Erschütterung in eine grundsätzliche Reform ummünzen?

MUSCHG: Die alte Garde der Wortführer hat schon bewiesen: Sie verlernt die Sprache des Belagerungszustands nicht mehr. Die andere Schweiz kommt nur mit einer Generation, die in anderen Horizonten aufgewachsen ist.

SPIEGEL: Mögen Sie die Schweiz?

MUSCHG: Die Schweiz, die sich selbst zum Maß aller Dinge macht, mag ich nicht. Aber ich mag die Schweiz, die mir jetzt in vielen Gesichtern und Gesprächen begegnet. Sie ist pragmatisch und sensibel. Bescheidenheit macht ihr keine Mühe, und Konflikte wecken ihre Neugier. Wenn sie von einem Modell redet, meint sie nicht Vorbild. Darum kann man mit solchen Partnern sogar über ein Modell Schweiz reden.

SPIEGEL: Heute fragt das Ausland nicht nach dem Modell, sondern danach, was unter der demokratisch gelackten Oberfläche alles möglich war. Warum kommt das alles jetzt erst hoch? Am Ende des Kalten Kriegs und an der Öffnung der Archive allein kann es doch nicht liegen.

MUSCHG: Die schweizerische Art von Demokratie beschleunigt moralische Prozesse nicht. Sie begünstigt das Populäre, und Selbstprüfung ist unpopulär. Der Zusammenhalt der Schweiz war immer heikel. Darum müssen patriotische Legenden hier vielleicht länger dichthalten.

SPIEGEL: Wenn man die Korrespondenzen liest, die Schweizer Banken mit einzelnen Juden führten, schimmert ein unglaubliches Maß an Selbstgefälligkeit durch.

MUSCHG: Ja, zum Typus Pharisäer fallen selbst der Bibel nur Flüche ein. Nicht einmal ihre Sauberkeit hat die Schweiz so beliebt gemacht, wie sie gern glaubte. Da lag immer die Frage in der Luft: Und wo lassen die ihren Schmutz?

SPIEGEL: Jetzt endlich kommt alles auf den Tisch.

MUSCHG: Wir haben uns als Sonderfall aufgeführt, jetzt bekommen wir sein volles Maß auf den Hintern gezählt. Es hilft nicht, wenn wir schreien: Da waren wir aber nicht allein! Kein Rabatt: Jetzt sind wir allein, und dafür haben wir selbst gesorgt.

SPIEGEL: Wie ertragen Sie es denn, daß Ihnen und anderen, die die eigene Geschichte immer kritisch kommentierten, nun von außen erklärt wird, was Sie zu denken haben?

MUSCHG: Unerträglich würde es, wenn der Druck die Ideen ganz ersetzte. Daß er sie liefern muß, ist in der Schweiz normal, und die Ideen sehen, wenn sie einmal ankommen, auch danach aus: verdrückt. Der Solidaritätsfonds mußte der Schweiz abgenötigt werden. Was sie schuldig ist, muß sie zahlen. Aber in dem, was sie sich selbst schuldig geworden ist, bleibt sie frei. Diesmal braucht, anders als im Zweiten Weltkrieg, der Phantasie keine Grenze gesetzt zu sein.

SPIEGEL: In der Präambel zu einem Verfassungsentwurf formulierten Sie 1977 unter anderem, daß »frei nur bleibt, wer die Freiheit gebraucht«, und daß sich »die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen mißt«. Aus dem ganzen Reformprojekt ist seinerzeit nichts geworden. Ist die Ausgangslage jetzt besser?

MUSCHG: Die mentale Verfassung der Schweiz geht in Totalrevision, ob sie will oder nicht. Warum also soll sie, was sie doch muß, nicht wieder einmal wollen?

SPIEGEL: Herr Muschg, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Jürg Bürgiund Siegfried Kogelfranz.* Dort besiegte Frankreich 1515 die Eidgenossen.

Jürg Bürgi

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 99 / 128
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten