JAPAN Die Stunde der Rache
In widrigen Situationen denkt Japans Premier Junichiro Koizumi gern an die todesmutigen Kamikaze-Piloten, die sich im Zweiten Weltkrieg auf feindliche Ziele stürzten. »Versetze dich in die Lage jener Einsatzflieger«, sage er sich dann immer, verriet der Premier dem Parlament nach seinem Amtsantritt vor gut vier Jahren. Seit vergangener Woche erleben die Japaner, was Koizumi damit meinte.
Erst schockierte der Premier mit der welligen Haarpracht die Nation, indem er das Unterhaus auflöste und für den 11. September Neuwahlen ausrief - Abgeordnete der eigenen Liberaldemokratischen Partei (LDP) hatten im Oberhaus seine Reform zur Post-Privatisierung zu Fall gebracht.
Dann startete Koizumi eine innerparteiliche Säuberung gegen die Abweichler. Die Aktion kommt einem Putsch von oben gleich. Noch dramatischer: Ausgerechnet in ihrem Jubiläumsjahr spaltet Koizumi die seit 1955 fast ständig regierende LDP und reißt die zweitgrößte Industrienation in eine tiefe politische Unsicherheit.
Mit Sorge blickt die übrige Welt nun nach Ostasien, denn gerade jetzt ist dort ein handlungsfähiges Japan gefragt. Bei den jüngsten Sechser-Gesprächen in Peking weigerte sich Nordkoreas Diktator Kim Jong Il erneut, auf sein Atomprogramm zu verzichten. Tokios Kontakte zum erstarkenden Rivalen China wiederum sind so schlecht wie nie seit der Normalisierung der Beziehungen vor 33 Jahren. Doch der gefährlichste Konflikt droht vor Japans Küsten: Mit den Nachbarn streitet das Land um Inseln und Gewässer, in denen Öl und Gas vermutet werden.
Auch für die Wirtschaft wären politisch wirre Zeiten fatal. Zwar gibt es Signale für eine Erholung, die Arbeitslosenrate fiel auf 4,2 Prozent. Aber die Japaner drosseln den Konsum. Asiens einstige Nummer eins müht sich verzweifelt, aus der Deflationsspirale herauszukommen.
Doch seit vergangener Woche beschäftigt sich Tokio erst einmal ausgiebig mit sich selbst, im Regierungsviertel geht es so turbulent zu wie im Kabuki-Theater. Dabei war der Anlass für die Koizumi-Revolte eher geringfügig. Zwar hatten LDP-Abtrünnige mit der Post-Reform das zentrale Projekt des Premiers zu Fall gebracht. Doch statt Kompromisse auszuloten, sah Koizumi nur die Gelegenheit zu einem Rachefeldzug gegen seine innerparteilichen Gegner.
Nach seiner Entscheidung, welche die Zeitung »Gendai« als schiere »Selbstmordbombe« empfand, wirkt der Premier mit einem Mal wie befreit vom lästigen Kleinkram des Regierens - ähnlich wie sein deutscher Kollege Gerhard Schröder. Doch anders als der Kanzler in Berlin brauchte der Japaner die Gefahr durch Abweichler in den eigenen Reihen nicht erst an die Wand zu malen: In der LDP von vielen gehasst, rettete sich der Reformpolitiker praktisch in einen Wahlkampf gegen große Teile der Partei.
Nun rächt es sich für die LDP, dass sie im Frühjahr 2001 ausgerechnet den Außenseiter zum Premier kürte. Doch damals steckte die Partei in einem Umfragetief, sie suchte verzweifelt einen Retter. Die Taktik ging auf, mit seinen kecken Reformsprüchen führte der 27. Nachkriegspremier den Japanern einen selbstbewussten Staatslenker vor.
Anders als seine meist mausgrauen Vorgänger versprach »Jun-chan« das Land aus der tiefen Krise zu erlösen, in die es nach der geplatzten Wirtschaftsblase Anfang der neunziger Jahre geschlittert war. Denn das System der »Japan AG« - eine eigenartige Mischung aus Sozialismus und Marktwirtschaft samt lebenslanger Arbeitsplatzgarantie und automatischer Beförderung - war infolge der Globalisierung längst zum Auslaufmodell verkommen.
Die Japaner feierten Koizumi wie ein Rockidol, sie kauften Schlüsselanhänger mit seinem Konterfei und hörten eine CD mit Elvis-Presley-Hits, die der Premier zusammengestellt hatte. Doch mit ihren Stimmen für dessen LDP hielten die Wähler zugleich die Gegner des Wandels in Amt und Würden - und die bremsten unverdrossen Reformschritte. Dass der Parteichef damit drohte, die LDP zu vernichten, falls sie sich dem Umbau widersetze, störte sie wenig.
Gleichwohl schlug der Populist einen völlig neuen, rauhen Ton in Japans Politik an. Minister berief er nicht mehr im Konsens oder auf Vorschlag mächtiger Parteifürsten, sondern holte Außenseiter ins Kabinett. An Wochenenden spielte Koizumi nicht mit Parteifreunden Golf, sondern lauschte daheim Wagner-Opern oder schaute sich Western an. Zu den wenigen Vertrauten des Premiers gehörte seine ältere Schwester Nobuko, die zugleich seine Sekretärin ist.
Kaltblütig riss der Außenseiter das Land aus seiner trägen Gruppenmentalität. Dafür wuchs die Zahl seiner Feinde in der konsensverliebten Partei - jenem pragmatischen Zweckbündnis von Verbänden und Berufsgruppen, in dem LDP-Bosse Steuergelder an ihre jeweilige Klientel verteilen und dafür im Gegenzug Spenden und nicht selten auch Schmiergelder kassieren.
Mit der Post-Reform wollte Koizumi auch die finanzielle Quelle für seine Gegner in der LDP trockenlegen - darüber kam es zum innerparteilichen Bruch. Denn mit Spar- und Vermögenseinlagen von rund 2,5 Billionen Euro ist die Post die größte Bank- und Versicherungsanstalt der Welt. Zugleich bilden die rund 400 000 Postbeamten eine wichtige Hilfstruppe für die LDP.
Der Rückzug des Staats aus der Post, so wirbt Koizumi, sei die Voraussetzung für weitere Reformen: ein neues Rentensystem für die vergreisende Nation sowie die Sanierung des Haushalts. Mit insgesamt über fünf Billionen Euro hat Japan eine so hohe Pro-Kopf-Verschuldung wie kein anderes führendes Industrieland.
Doch seit längerem stritten der Premier und seine Partei kaum noch um Japans Zukunft. In den Geisha-Bars um das Regierungsviertel berieten LDP-Verschwörer vielmehr, wie sie »Diktator« Koizumi die erlittenen Demütigungen heimzahlen könnten. Umgekehrt lauerte der Premier auf die Gelegenheit, seine Widersacher niederzumetzeln. Nun jedoch das Unterhaus aufzulösen - »darauf wäre nicht einmal Hitler gekommen«, schimpft Shizuka Kamei, einer von Koizumis Rivalen.
Schon im Unterhaus hatten 37 LDP-Abweichler gegen die Post-Reform gestimmt. Gnadenlos lässt Koizumi deswegen jetzt im Wahlkampf alle Reformgegner von der Liste der offiziellen LDP-Kandidaten streichen. Auf diese Weise wolle er »die alte LDP zerstören«, bekräftigte der Premier. Plötzlich ist Nippons Politik wieder spannend. In den TV-Shows wägen die Experten mögliche Wahl-Szenarien ab: Steigt Koizumis gesäuberte »neue« LDP diesmal endgültig ab, oder zwingt der Premier die Nation mit dem Coup auf seine Seite?
Immerhin: Den ersten Akt des Polit-Dramas entschied Koizumi für sich. In Umfragen schnellte seine Beliebtheit auf fast 50 Prozent hoch. Doch heißt das noch nicht, dass die Japaner auch für das Personal seiner »neuen« LDP stimmen werden. Die Erbarmungslosigkeit, mit der er jetzt sogenannte Killer-Kandidaten in die Wahlkreise einstiger Parteifreunde schickt, könnte wie ein Bumerang wirken.
Von der Selbstzerstörung der LDP könnte am Ende die oppositionelle Demokratische Partei (DP) profitieren. Doch deren Mitglieder sind in wichtigen Reformfragen ähnlich zerstritten wie die Liberaldemokraten.
Letztlich droht Japan nach der Wahl wohl ein Erdrutsch innerhalb der Parteienlandschaft. Aber selbst wenn Koizumis Kamikaze-Angriff gelingt: Ihm bleibt nicht sonderlich viel Zeit. Im September 2006 endet seine Amtsperiode als LDP-Chef - und damit die als Premier.
Doch er baut darauf, dass es zu ihm kaum eine personelle Alternative gibt. Wenn er die Wahl verliere, schärft Koizumi seinen Landsleuten ein, »dann trete ich ab«. Das hält der einsame Premier für eine starke Drohung. WIELAND WAGNER