SIEBENBÜRGEN Die Ungarn kommen
Zehn Jahre nach der ungarischen Revolution von 1956 trafen sich im Kreml die moskautreuen kommunistischen Führer, um über den Krieg in Vietnam, die gelben Häretiker in Peking und den kooperativen Präsidenten in Washington zu beraten.
Im Swerdlowsk-Saal der alten Zarenburg gratulierten die Genossen dem
ungarischen Parteisekretär Kádár, der vor einem Jahrzehnt Ungarns Ausbruch aus dem Ostblock - mit Hilfe sowjetischer Panzer - verhindert hat.
Dem rumänischen Parteisekretär Nicolae Ceausescu wurden nationalistische Extratouren vorgeworfen. Immerhin hat der Rumäne bedeutende konterrevolutionäre Meriten gegenüber seinen eigenen Ungarn: Ohne Sowjetpanzer und ohne Aufsehen bekämpften Rumäniens Kommunisten 1956 eine Revolte ihrer ungarischen Minderheit in Siebenbürgen, das fast so groß ist wie Bayern.
Ein geflüchteter hoher ungarischer Beamter schilderte dem SPIEGEL, was bisher nicht in den Westen, gedrungen war: Der Funke des Ungarn-Aufstands
von 1956 sprang auch nach Rumänien über - zunächst per Radio.
Die Ungarn in Rumänien (1,6 Millionen von 19 Millionen Einwohnern Rumäniens, davon vier Millionen Siebenbürger) hörten den Budapester Rundfunk. Am 24. Oktober berichtete ihnen »Radio Kossuth«, der Sender der Aufständischen, daß die stalinistische Parteidiktatur in Ungarn gestürzt worden sei.
Die Rumänen in Siebenbürgen verbrüderten sich daraufhin mit den bodenständigen Ungarn, in denen sie seit Jahrhunderten ihre Volkstums-Feinde sahen. Rumänische Arbeiter, Ingenieure, Beamte und Lehrer ließen sich die Meldungen übersetzen und gratulierten den ungarischen Kollegen: »Ihr seid ein prächtiges Volk!«
Rumänische Bauern schmückten Karren und Pferde mit bunten Bändern und fuhren - mit Schnaps und Wein ausgerüstet - in die Nachbardörfer zu ungarischen Bauern, um zu besprechen, wie man auch in Rumänien die Kolchosen auflösen könne.
Nach dem Muster ihrer Budapester Kommilitonen bildeten die Studenten der Siebenbürger Universitäten und Hochschulen Studentenräte und formulierten am Abend des 24. Oktober ihre Forderungen: freie Studentenverbände, Autonomie der Universität, Beendigung des obligatorischen Unterrichts in Marxismus-Leninismus und russischer Sprache.
In Klausenburg, der früheren Hauptstadt Siebenbürgens, versammelten sich am nächsten Tag die Studentenräte der ungarischen - Universität »Bolyai«, der rumänischen Universität »Babes«, des Agrarwissenschaftlichen Instituts, der Kunsthochschule und des Konservatoriums im mittelalterlichen Saal des Geburtshauses von Ungarn-König Matthias Corvinus. Unter tosendem Beifall erklärten sich die Teilnehmer mit den Studenten in Ungarn solidarisch und beschlossen eine gemeinsame Straßendemonstration für den folgenden Sonntag. Treffpunkt: acht Uhr früh im Sportpark.
Zur selben Zeit, da die Studenten den Aufstand beschlossen, landeten auf dem Klausenburger Militärflugplatz Szarnosfalva zwei Militärflugzeuge. Eines flog hohe Sicherheitsbeamte aus Bukarest, das andere einen ungarischen und einen sowjetischen Abwehr-Offizier sowie einen Vertrauensmann der Rumänischen Botschaft aus Budapest nach Siebenbürgen ein.
Im Hauptquartier der »Securitate«, des rumänischen Sicherheitsdienstes, an Klausenburgs Arpad-Weg berieten die Besucher zusammen mit den Sekretären der regionalen Parteiorganisation über die Gegenmaßnahmen, die ein Übergreifen der Unruhen auf Siebenbürger Gebiet verhindern sollten.
Die Beratung dauerte bis in den frühen Morgen. Dann war der Plan geschmiedet: Rumänen und Ungarn, die sich gegen die rote Herrschaft so rasch solidarisiert hatten, mußten gegeneinander aufgehetzt werden.
Das Rezept hat in Siebenbürgen Geschichte. Schon die Habsburger Monarchie war nach dieser Methode verfahren. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs hatten den Volkstumskampf ihrer Bündnispolitik dienstbar gemacht, Siebenbürgen von Ungarn getrennt und dem alliierten Rumänien zugesprochen. Hitler und Stalin gaben 1940 den Nordteil des ehemaligen Sumpflandes - von deutschen Kolonisten der Habsburgerin Maria Theresia einst in eine Kornkammer verwandelt - wieder an Ungarn; 1947 erhielten es die Rumänen abermals.
Die »Securitate« nutzte die alte Zwietracht zwischen Magyaren und Romanen. Am nächsten Tag wurden sämtliche Spitzel des Sicherheitsdienstes an ihre Treffpunkte gerufen. Allein in Klausenburg hatte die »Securitate« in den letzten Jahren ein Netz von mehreren hundert »ehrenamtlichen Mitarbeitern« aufgebaut - Karrieristen, kleine Gauner, Erpreßte, Verängstigte.
Am Freitag, dem 26. Oktober 1956, gaben in Mietshäusern der verkehrsreichen Innenstadt, Hauswartwohnungen und öffentlichen Gebäuden Sicherheitsoffiziere in Zivil den »Mitarbeitern« unauffällig ihre Instruktionen.
Im Laufe des Tages kursierten in der Stadt Flugblätter, die ein ungarisches Flugzeug angeblich über der Gemeinde Bàcs abgeworfen hatte. Einige der Zettel wanderten an den Universitäten von Hand zu Hand; sie enthielten in 14 Punkten die Forderungen der ungarischen Studenten, so wie man sie aus dem Rundfunk kannte - aber dazu einen 15., unerhörten Punkt: Die ungarischen Aufständischen verlangten die sofortige Rückgabe Siebenbürgens an Ungarn.
Die Rumänen des Klausenburger Gebiets waren betroffen, dann verbittert, bei den Ungarn weckten die Flugblätter die Hoffnung, heim ins Reich zu können.
Bald gaben die Rumänen - vor 24 Stunden noch begeistert über die Ereignisse in Budapest - bereitwillig das Gerücht weiter: »Die Ungarn kommen!« Bei Großwardein, so wurde erzählt, hätten ungarische Freischärler bereits die Grenze überschritten; mordend und brennend rückten sie vor.
Die Rechnung der »Securitate« war aufgegangen; die Flugblätter waren gefälscht. Zu keiner Zeit hatten die Aufständischen von Budapest die Rückgliederung Siebenbürgens gefordert.
Unter den Studenten der ungarischen Universität »Bolyai« setzten die Agenten des Sicherheitsdienstes andere Gerüchte in Umlauf: Sie sollten lieber die baldige Ankunft der »befreienden ungarischen Truppen« abwarten, anstatt mit den rumänischen Kommilitonen zu demonstrieren. Denn: Die Rumänen seien bewaffnet und wollten die Ungarn, die in der Mitte des Zuges marschieren sollten, abknallen.
Die Demonstration fand nicht statt. Die Ungarn fürchteten um ihr Leben, die Rumänen um ihr Land. Am Sonntag früh erschienen im Universitätspark nur die Mitglieder des Studentenausschusses und ein paar Neugierige. In den Nebenstraßen standen Sicherheitsoffiziere in Zivil, die vereinzelten Studenten empfahlen, den Park zu verlassen. Wer dem Rat nicht folgte, wurde von Soldaten des Sicherheitsdienstes, die aus dem Gebüsch hervortraten, festgenommen.
In Temesvár, wo es nur wenige ungarische Studenten gibt, fanden am 26. und 27. Oktober stürmische Demonstrationen statt. Am Sonntag sollten Arbeiter der umliegenden Industriewerke gemeinsam mit den Studenten an einer Großaktion teilnehmen. In der Nacht zuvor trafen Lastwagenkolonnen mit Milizsoldaten ein, die das Universitätsviertel besetzten und etwa 3000 Studenten verhafteten.
Die Partei blieb in Rumänien Herr der Lage. Die Grenze nach Ungarn wurde abgeriegelt. Während in Budapest die Geschütze donnerten, glich Bukarest einer ausgestorbenen Stadt. Nur Posten der »Securitate« patrouillierten in den Abendstunden auf den Straßen. Die Armee, die auf russischen Befehl in Ungarn einmarschieren sollte, weigerte sich zwar, ließ sich aber von den sowjetischen Besatzungstruppen widerstandslos entwaffnen.
Am 1. November 1956 versammelten sich auf dem Friedhof »Hàsdongàrd« in Klausenburg einige Dutzend Studenten an Gräbern ungarischer Dichter und Gelehrter; sie entzündeten Kerzen und legten Blumen nieder. Studentenpoet Bartha rezitierte eines seiner Gedichte. Später berichtete er: »Als die Menschenmenge langsam und in Gedanken vertieft den Friedhof verließ, blieben in kleinen Gruppen - wie nach einer Regenflut die Steine im Gebirgsbach - die in Zivil gekleideten Offiziere der 'Securitate' zurück.«
Sie hatten die Trauerfeier nicht gestört, aber alles beobachtet und bemerkt. Wenig später wurden sämtliche Trauergäste verhaftet.
Militärgerichte urteilten sie ab. Die Verhandlung dauerte oft nur zehn bis 20 Minuten, die Angeklagten wurden sofort in das Zuchthaus Gherla eingeliefert, wo ihnen die Wärter das Urteil mitteilten.
Die Mitglieder des Studentenrates der Universität »Bolyai« erhielten je fünf Jahre Zuchthaus, der Studentendichter Bartha sieben. Der Ordinarius für Marxismus-Leninismus der Universität »Bolyai«, Andràs Bereczky, ein ergebener Kommunist, hatte nicht angezeigt, daß seine Freunde Dobai und Varga einen Antrag an die Uno stellen wollten, die Siebenbürgen-Frage durch Bevölkerungsaustausch zu regeln. Er erhielt dafür 15 Jahre Zuchthaus, Dobai und Varga erhielten lebenslänglich. Bereczkys Frau, Direktorin eines Mädchengymnasiums, wurde ihrer Ämter enthoben und aus der Partei ausgestoßen, weil sie sich weigerte, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen.
Für die Literatur-Studentin Iren Péterfi, die sich in ihrem Tagebuch zu den ungarischen Aufständischen bekannt hatte, lautete die Strafe: zehn Jahre Gefängnis.
Der rumänische Student Moldoveanu hatte einen Passanten geohrfeigt, weil dieser behauptet hatte, ungarische Partisanen hätten schon die Grenze überschritten. Der Geohrfeigte war ein Geheimagent. Moldoveanu mußte ein Jahr ins Gefängnis.
Das Gefängnis Gherla war überfüllt. Rund 10 000 Ungarn aus Siebenbürgen wurden in das Donaudelta verschickt.
Im Februar 1959 erschien in Klausenburg ein Beauftragter des Zentralkomitees aus Bukarest. Er verlangte, daß die ungarische Universität in die rumänische einzugliedern sei. In der folgenden Nacht warf sich Làszlò Szabédi, Altkommunist und Professor für ungarische Literatur, bei Szamosfalva vor einen Schnellzug. Professor Czendes verübte gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord durch Gift. Der Dozent Molnàr stürzte sich aus dem Fenster.
Der Beauftragte des Zentralkomitees hieß Nicolae Ceausescu. Er ist seit 1965 Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Rumäniens.
Aufständische in Budapest (1956): Der Funke des Aufruhrs sprang über die Grenze
Rumäniens KP-Chef Ceausescu (r.): Furcht um Land und Leben