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GESETZE »Die unverdünnte Hölle«

Menschen mit Behinderungen werden in Deutschland ausgegrenzt und in Sonderschulen, Werkstätten und Heime abgeschoben. Nun tritt eine Uno-Konvention in Kraft, der ein radikales Umdenken folgen müsste. Doch die Bundesregierung signalisiert: Alles soll so bleiben, wie es ist.
Von Ulrike Demmer
aus DER SPIEGEL 2/2009

Als Carolin aussortiert wird, ist sie drei Jahre alt. Ein Amtsarzt stellt bei ihr »sonderpädagogischen Förderbedarf« fest, weil das Mädchen noch immer nicht laufen kann. Die Eltern freuen sich. Die Krankengymnastik, die der Mediziner verschreibt, tut ihrer Tochter gut.

Sie können nicht wissen, dass sie an diesem Tag das Schicksal ihres Kindes aus der Hand geben. Das Gutachten ist von nun an untrennbar mit dem Leben der Tochter verbunden. Carolin ist gekennzeichnet, die zweite Wahl, wie fehlerhaftes Porzellan.

»An diesem Tag ist die Aussonderungsmaschinerie angelaufen, wir haben das damals nur noch nicht begriffen«, sagt Inge Kirst, Carolins Mutter. Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass ein Mensch mit »sonderpädagogischem Förderbedarf« sein Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft, sein Recht auf Bildung, sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben verloren hat?

Carolin ist heute 15 Jahre alt. Sie bewegt sich schwerfällig und unsicher wie eine alte Frau. Das Mädchen leidet unter einem seltenen Gendefekt, der die Muskeln schwächt und die Motorik behindert. Carolin kann nur mit einem Rollator laufen, bei längeren Strecken ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Und sie spricht langsamer als andere Kinder, weil auch das Sprechen motorisch gesteuert wird. Schnelles Denken verhindert die Motorik aber nicht.

Carolin hat alle Harry-Potter-Bücher gelesen, sie schwärmt für den Hauptdarsteller im »High School Musical 3«, und seit sie im Fernsehen »Die Frau vom Checkpoint Charlie« gesehen hat, interessiert sie sich für die Geschichte der DDR. Ihr Privatvergnügen. In der Schule, die sie besucht, steht so etwas Anspruchsvolles wie die jüngere deutsche Geschichte nicht auf dem Stundenplan.

In Carolins Ordner mit dem Lehrstoff der Klasse acht sind zwischen ein paar simplen Rechenaufgaben des kleinen Einmaleins viele Rezepte abgeheftet: Lasagne, Muffins und Nudelsalat mit Thunfisch. »Wir haben dauernd gekocht und Tischmanieren geübt«, sagt sie genervt. Einen Aufsatz zu verfassen oder ein Diktat zu schreiben, hat nie einer von ihr verlangt.

Seit acht Jahren besucht Carolin eine Sonderschule für Körperbehinderte. Das Schulamt hat das »nach Aktenlage« bestimmt. Kinder mit »sonderpädagogischem Förderbedarf« werden diesen Schulen auch gegen den Willen der Eltern zugewiesen, »zu ihrem Besten, für eine optimale Förderung«, wie das Schulamt betont. »Wir fördern jedes Kind nach seinen Möglichkeiten«, haben auch die Lehrer versichert. Inge Kirst weiß inzwischen, dass das nicht stimmt.

Wer in Deutschland die Sonderschule besucht, hat seine Chancen auf einen akademischen Abschluss praktisch verloren. In dieser Schulform, die sich heute Förderschule nennt, erreichen 0,2 Prozent aller Schüler das Abitur. 77 Prozent von ihnen schaffen nicht einmal den Hauptschulabschluss. Ein Grund: Der Wechsel von der Förder- in die Regelschule findet so gut wie nie statt. Wer die Sonderschule absolviert, darf sich auf ein Berufsleben in der Behindertenwerkstatt freuen.

Carolin teilt ihr Schicksal mit 84 Prozent aller Kinder mit »sonderpädagogischem Förderbedarf« - ob taub, blind, lern-, geistig- oder körperbehindert, sie alle landen auf der Sonderschule. Im internationalen Vergleich ist Deutschland damit Europameister im Aussortieren. Im EU-Durchschnitt lernen rund 80 Prozent der Kinder mit Behinderung an Regelschulen. Italien hat die Sonderschulen abgeschafft.

Die Folgen dieser Ausgrenzung sind bei Carolin nicht zu übersehen. »Sie wird von Jahr zu Jahr trauriger und unsicherer«, sagt ihre Mutter. Das Mädchen fühlt sich unterfordert und allein. Jeden Tag karrt ein Taxi es quer durch Ostwestfalen. Die Sonderschule liegt 40 Kilometer entfernt, die meisten Mitschüler wohnen noch weiter weg. Verabredungen nachmittags zum Spielen sind da nicht drin.

Immer wieder fragt Carolin ihre Mutter: »Mama, wieso kann ich nicht auf eine normale Schule gehen?« Inge Kirst versucht dann so diplomatisch wie möglich zu antworten, erklärt, dass die anderen Schulen nicht integrativ arbeiten, dass dort Aufzüge und Sonderpädagogen fehlen. Wenn Carolin nicht dabei ist, wird die Mutter deutlicher: »Carolin wird vom Staat gemobbt.«

Auf dem Papier scheint Deutschland ein sehr behindertenfreundliches Land. In den vergangenen Jahren sind eine ganze Reihe wohlklingender Gesetze verabschiedet worden. Es gibt ein Behindertengleichstellungsgesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Sozialgesetzbuch mit der Nummer IX, ein Regelwerk, das Selbstbestimmung und Teilhabe verspricht. Auch im Grundgesetz sind die Rechte Behinderter inzwischen verankert: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«, steht seit 1994 in Artikel 3, Absatz 3.

Jedes einzelne dieser Gesetze hätte einen Paradigmenwechsel bedeuten können. Doch die Vorschriften blieben ein Lippenbekenntnis. Wer gegen diese Gesetze verstößt, hat kaum Sanktionen zu fürchten. Wer sich auf sie berufen will, kann seine Interessen nur selten durchsetzen.

Wer sich mit dem Behindertsein und Behindertwerden auseinandersetzt, kommt nicht umhin, sich mit dem Begriff der Normalität zu beschäftigen. Aber was ist normal? Das statistische Mittel? Das Übliche? Ist es unnormal, verschieden zu sein?

Die Venus von Milo, eine schlanke, fast nackte Frau, leicht zur Seite geneigt, bewundern wir. Obwohl der Statue etwas Wesentliches fehlt: die Arme. Wer vor ihr steht, der ergänzt im Kopf die fehlenden Gliedmaßen. In der U-Bahn dagegen würde man Mitleid mit ihr empfinden. Krüppel werden in Deutschland angestarrt, höflich übersehen oder verstohlen beäugt. Der Anblick von Menschen mit Behinderung berührt ein Tabu.

Es gibt einen wachsenden Druck zur Optimierung der menschlichen Natur, zur Steigerung körperlicher und geistiger Fähigkeiten. Die Bilder menschlicher Perfektion, die in den Medien transportiert werden, entfalten eine normative Kraft. In einer Zeit geprägt von Perfektionssucht, Doping und Schönheitschirurgie, haben Menschen mit Behinderungen keinen Platz. Seit der Radikaleugenik der NS-Zeit spricht in Deutschland zwar so gut wie niemand mehr von »lebensunwertem Leben«. Aber die Ansicht, dass Menschen mit Behinderung die Gesellschaft belasten, ist weit verbreitet.

Mit »der Art der Geräusche« begründete ein Richter sein Urteil, das einer Wohngruppe von sieben geistig behinderten Menschen vorschrieb, sich nur noch zu festgelegten Zeiten im Garten aufzuhalten. Ein Flensburger Gericht sprach Hotelgästen eine finanzielle Entschädigung zu, weil sie im Urlaub gemeinsam mit behinderten Menschen hatten speisen müssen. Und im Stuttgarter Stadtteil Muckensturm klagten Anlieger gegen ein Heim, weil sie Lärmbelästigung, tätliche Übergriffe und den Wertverlust ihrer Häuser fürchteten.

Ursachen für die Ablehnung sind häufig Unsicherheit und die Angst vor dem Fremden. Nur wenige haben Kontakt zu Menschen mit Behinderung, sei es im Sandkasten, am Tresen oder am Arbeitsplatz. Dabei leben in Deutschland 6,9 Millionen Menschen mit einem Behinderungsgrad von 50 Prozent und mehr. Jeder Zwölfte ist im Sinne der Sozialgesetzgebung »schwer behindert«. Und doch sind sie fast unsichtbar. Menschen mit Behinderung werden in Heimen gesammelt und in Werkstätten abgeschoben.

Betroffene, Behindertenverbände und Fachpolitiker hoffen nun auf eine Wende. Denn Anfang dieses Jahres tritt ein Gesetz in Kraft, das auf 40 Seiten eine Revolution formuliert: das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Theresia Degener, Juraprofessorin, Expertin für Behindertenrecht und selbst Contergan-geschädigt, betrachtet die Konvention als einen »Meilenstein« für Menschen mit Behinderung. Das Gesetz werde eine Welle lostreten. »Erstmalig wird es einen internationalen Rechtsausschuss mit zwölf unabhängigen Experten geben, ein Überwachungsgremium, das jeder, der sich diskriminiert fühlt, anrufen kann.« Das Gremium könne zwar kein Urteil sprechen, räumt die Juristin ein. Degener baut aber auf die Außenwirkung des Gesetzes, denn die Experten werden öffentlichkeitswirksam mit dem Finger auf die verantwortliche Regierung zeigen. »Mobilisation of Shame« nennt die Menschenrechtsexpertin das. Die Vereinten Nationen hätten international schon gute Erfahrungen mit dieser Form der Sanktionierung gemacht. Die Bundesregierung wird sich wohl beschämt in die Ecke stellen müssen.

Wer die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen besucht, muss keine Stufen steigen, die Türen öffnen sich auf Knopfdruck, und im Aufzug klärt eine freundliche Stimme aus dem Lautsprecher über das erreichte Stockwerk auf. Der Weg zu Karin Evers-Meyer ist barrierefrei. Barrierefrei ist alles, was Menschen mit Behinderung grundsätzlich und ohne fremde Hilfe zugänglich ist - Gebäude, Internet-Seiten, Verkehrsmittel. Wer der Regierungsbeauftragten länger zuhört, ahnt, dass es davon nicht allzu viel in Deutschland gibt.

Sie sei »geschockt« gewesen, als sie ihr Amt vor drei Jahren antrat. Die SPD-Abgeordnete spricht das Ungeheuerliche offen aus. »In allen Lebensbereichen werden Menschen mit Handicap behindert und ignoriert«, urteilt Karin Evers-Meyer.

In der Gastronomie etwa könne von Barrierefreiheit keine Rede sein. Kneipen mit Rampe und Behindertentoilette sind eine Seltenheit, Speisekarten in Blindenschrift gar eine Rarität. Wer als Rollstuhlfahrer ICE fahren möchte, der wird in einer peinlichen Prozedur mittels einer Hebebühne auf das Niveau des Schnellzugs gepumpt. Nur ein Bruchteil aller Fernsehsendungen wird für Gehörlose untertitelt oder in Gebärdensprache übersetzt.

Im Ausland ist man da schon sehr viel weiter. In den USA ist die Gebärdensprache heute eine der beliebtesten Fremdsprachen, die in Behörden oder Schulen ganz selbstverständlich beherrscht wird. Die BBC untertitelt inzwischen ihr gesamtes Programm. Wer in London mit dem Rollstuhl vor einem Bahnhof ohne Aufzug steht, der kann sich auf Kosten der Zuggesellschaft mit dem Taxi zur nächsten barrierefreien Station chauffieren lassen. Und während es in den Niederlanden rund 160 Fachärzte für geistig Behinderte gibt, können sich in Deutschland Menschen mit Handicap bis heute nicht sicher sein, dass sie ordentlich medizinisch behandelt werden. »Wer nicht lesen kann, der braucht auch keine Lesebrille.« Mit diesem Argument verweigerten Ärzte bereits bei banalen Sehproblemen den gehandicapten Patienten die Hilfe, schilderten Experten auf einer Tagung der Bundesärztekammer im Dezember die Situation.

»Behindert ist man nicht, behindert wird man«, lautet deshalb der Slogan der »Aktion Mensch«. Doch selbst die Behindertenhilfe hat eine Weile für diese Erkenntnis gebraucht. 1964 zeigte die Organisation, damals noch unter dem Namen »Aktion Sorgenkind«, in einem Fernsehspot Bilder behinderter Kinder untermalt mit sentimentaler Jazzmusik: »Das sind Sorgenkinder. Sie werden nie einen Platz an der Sonne finden. Ein Leben lang werden sie auf der Schattenseite des Lebens bleiben«, sagte der Sprecher im Off. Der Spot ist aus dem Programm verschwunden, das Mitleid auf der Straße nicht.

»Es ist die unverdünnte Hölle, entwürdigend, da kriege ich jedes Mal die Hasskappe«, sagt Kirsten Bruhn. Dann erzählt die mehrfache Paralympics-Gewinnerin im Schwimmen, was passiert, wenn sie im Rollstuhl durch einen Supermarkt fährt. »Es gibt Leute, die nehmen ungefragt meinen Karton vom Schoß, sagen 'Ich mach das mal für Sie' und suchen Äpfel an der Obsttheke für mich aus. Die behandeln mich, als wäre ich drei.«

Kürzlich führte die Versicherungskauffrau in ihrem Büro ein Beratungsgespräch. Der Kunde hegte keine Zweifel an ihrer Kompetenz, bis er Bruhns Rollstuhl hinter dem Schreibtisch entdeckte. »Ja, können Sie das denn?«, fragte der Mann schockiert. Als Bruhn ihn darauf hinwies, dass sie gehbehindert sei, nicht blöd, eilte der Mann unter einem Vorwand beschämt aus dem Raum.

»Es ist das Unbekannte, das den Leuten Angst macht«, sagt Bruhn, »Behinderte und Nichtbehinderte werden einfach zu oft voneinander getrennt.«

Im Bielefelder Stadtteil Gadderbaum gibt es vor jedem größeren Gebäude zwei oder drei Behindertenparkplätze. Vor rund 140 Jahren wurden hier die Bodelschwinghschen Anstalten Bethel gegründet. Rund 12 000 Menschen werden hier heute betreut. Es gibt keine Mauer, keinen Schlagbaum, der die Anlage abgrenzt vom Rest der Stadt. Trotzdem sprechen die Menschen, die hier wohnen und arbeiten, von »draußen«, wenn sie das Leben jenseits der Werkstätten und Heime beschreiben.

Das Leben in Bethel hat zwar heute nichts mehr mit Zwang und Massenabfertigung wie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zu tun. Der Schlafsaal ist dem Einzelzimmer gewichen, die alten Villen sind renoviert, die Räume in hellem Blau, Gelb oder Orange gestrichen. Doch wer hier lebt, zahlt noch immer einen hohen Preis: den Verzicht auf Intimität.

»Privatsphäre gibt es in diesem Leben kaum«, sagt Hartmut G., 53. Der schmale, dunkelhaarige Mann mit Oberlippenbart steht an einer Maschine, die Kabel automatisch bündelt. Er überwacht, ob die Maschine das auch richtig macht. Als Zwölfjähriger wurde er wegen seiner epileptischen Anfälle in die Bodelschwinghschen Anstalten eingewiesen.

Jahrzehntelang bestimmten fremde Menschen, was und wann er aß, wann er ins Bett zu gehen hatte, wann er Besuch empfangen und welches Fernsehprogramm er schauen durfte. Kleinigkeiten, die einen großen Unterschied machen, den Unterschied, sich als Mensch respektiert zu fühlen.

Artikel 19 der Uno-Menschenrechtskonvention legt für Menschen wie Gnass nun das Recht auf unabhängige und selbstbestimmte Lebensführung verbindlich fest. Der Staat soll mit Hilfe gemeindenaher Unterstützungsdienste und persönlicher Assistenz allen Menschen mit Behinderung ein Leben in der Wohnung ihrer Wahl und an einem Ort ihrer Wahl ermöglichen.

58 Prozent der Sozialhilfe - 10,5 Milliarden Euro - gab der Staat 2006 für behinderte Menschen aus. Derzeit fließt die Eingliederungshilfe, wie das Geld irreführend heißt, nicht an die Behinderten selbst, sondern wird zu 89 Prozent unmittelbar an Heime und Werkstätten gezahlt. Experten behaupten, mit diesem Geld sei auch die persönliche Assistenz problemlos zu finanzieren.

Hartmut G. konnte schon vor zehn Jahren eine eigene Wohnung in der Stadt beziehen. Möglich wurde das allerdings nur, weil er dank besserer Medikamente keine Anfälle mehr bekam und sein Betreuungsbedarf unter neun Stunden in der Woche sank. Doch beruflich bleibt die Behindertenwerkstatt in Bethel für ihn die einzige Chance. Auch weil er als ehemaliger Sonderschüler weder einen Schulabschluss noch eine richtige Ausbildung hat.

Behindertenvertreter plädieren deshalb für eine Abschaffung des Sonder-Förderschulsystems. Von »segregierender Beschulung« spricht der Sozialverband VdK. Für Eva-Maria Thoms, Gründerin der Initiative »Mittendrin«, sind diese Schulen »nicht mehr als ein Abfalleimer«. Mit den Vorgaben der Uno-Konvention sei dieses Schulsystem nicht zu vereinbaren, pflichtet die Menschenrechtsexpertin Theresia Degener bei.

Hans Wocken, Professor für Pädagogik in Hamburg, belegt in einer Studie sogar, dass die Förderschule Kinder dümmer macht, als sie sind. Der Wissenschaftler hat empirisch nachgewiesen, dass die Leistungen der Schüler umso schlechter sind, je früher sie auf eine Förderschule gehen und je länger sie dort verweilen. »Schüler wachsen mit den Ansprüchen, die man an sie stellt«, sagt Wocken, »doch in Sonderschulen herrscht eine regelrechte Friedhofsruhe.« Wenn die Pädagogen ständig schützend ihre Hand über die Kinder hielten, »dann entsteht keine Atmosphäre, in der sich ein Kind gut entwickeln kann«. Der Professor plädiert dafür, alle Kinder auf dieselbe Schule zu schicken: »Die lernen doch am besten voneinander.« Das Leistungsgefälle sporne alle in der Klasse an.

Carolins Mutter Inge Kirst hat von dieser Studie nichts gewusst, doch der beste Beleg für die Richtigkeit der These sitzt neben ihr am Küchentisch. Carolins fünf Jahre jüngere Schwester Sarah hat den gleichen Gendefekt, doch sie hatte das Glück, einen Platz an der integrati- ven Grundschule gleich um die Ecke zu bekommen. Die Mutter hatte inzwischen herausgefunden, wie man mit Finesse das Schulamt umgeht.

Sarah hat in der vierten Klasse der Regelschule schon mehr gelernt als ihre große Schwester nach acht Jahren an der Förderschule. Wichtiger noch erscheint Inge Kirst aber, dass Sarah im Gegensatz zu Carolin Freunde in der Umgebung hat. Und dass sie wohl auch deshalb viel unbefangener mit ihrer Behinderung umgeht, sich zum Beispiel problemlos im Rollstuhl fotografieren lässt, während Carolin auf keinen Fall mit dem Gefährt abgelichtet werden will.

Wie positiv sich gemeinsamer Unterricht auf die Entwicklung nichtbehinderter Kinder auswirken kann, zeigt das Beispiel der Schulfreunde Philipp, 14, und Damian, 12. Über fünf Schuljahre haben sich der hochbegabte Damian und das Down-Kind Philipp gegenseitig unterstützt. Ermöglicht hat das eine integrative Grundschule in Gießen, in der jahrgangsübergreifend unterrichtet wird.

So konnte Damian ein Schuljahr überspringen und trotzdem bei seinem Freund Philipp in der Klasse bleiben. Damian hat Philipp beim Rechnen und Schreiben geholfen und ihm gezeigt, wie man lässig Tischfußball kickt. Umgekehrt war Philipp der zuverlässige Freund, der auch zu Damian hielt, wenn die großen Jungs den schmächtigen Hochbegabten hänselten.

Mit seiner Grundschulzeit endete für Philipp im vergangenen Sommer allerdings auch die Integration. Das Schulamt hat ihn jetzt auf die Sonderschule geschickt, wo sie neulich im Unterricht Topfschlagen gespielt haben. Philipps Mundwinkel sind seit Wochen wund, wie immer, wenn ihm sein Leben nicht gefällt.

Dass man ein Kind wie Paula nicht mit Topfschlagen abspeisen kann, hat auch dem Schulamt eingeleuchtet. Die Zwölfjährige ist Autistin und Einser-Schülerin, sie sollte auf ein Gymnasium gehen. Wie in einem solchen Fall üblich, finanzierte und organisierte das Schulamt für vier Stunden in der Woche einen Sonderpädagogen, der Paula unterstützt, indem er ihre Lehrer über die Wesenszüge einer Autistin aufklärt. Paula versteht zum Beispiel keine Ironie, vermeidet jeden Blick- und Körperkontakt und kann über ihre Gefühle nur schwer schreiben, weil sie kaum Zugang dazu hat.

Doch die Sonderpädagogen wechselten alle paar Wochen und tauchten dann nur sporadisch auf; so nahmen die Missverständnisse irgendwann überhand. Zwar blieben Paulas schulische Leistungen stabil, doch sie begann in die Hose zu machen, wollte nicht mehr essen. Nach vier Monate haben die Eltern Paula nun von der Schule genommen - nachdem sie morgens auf dem Küchentisch eine Nachricht fanden: »Hi Sandra, hi Andy! Ich gehe morgen nicht in die Schule! Ich würde es da keinen Moment aushalten! Ich würde lieber tot sein, als zur Schule zu gehen!«

Selbst wenn Paula gegen alle Widerstände das Abitur schaffen sollte, wird es nicht leicht für sie sein, einen Job zu finden. »Manche Unternehmen versuchen behinderte Mitarbeiter gezielt loszuwerden«, sagt Dorothee Czennia, sozialpolitische Referentin beim Sozialverband VdK.

Fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze müssten Firmen, die 20 Mitarbeiter und mehr beschäftigen, an Menschen mit Behinderung vergeben. Mehr als drei Viertel aller privaten Betriebe in Deutschland kommen dieser Pflicht schon jetzt nicht in vollem Umfang nach. Bei gut 30 000 beschäftigungspflichtigen Unternehmen arbeitet kein einziger Schwerbehinderter.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist es auch, die vor einer »übereilten Ratifizierung« der Uno-Konvention ausdrücklich warnt. In einer Stellungnahme im Parlament gab der Verband zu Protokoll, es sei zu prüfen, »ob mit dem Übereinkommen die in Deutschland bereits bestehende Überregulierung im Bereich des Behindertenrechts weiter verschärft würde. Wäre dies der Fall, müsste dieser Gefahr wirksam - durch die Anbringung entsprechender Vorbehalte - begegnet werden«.

Die Arbeit der Lobbyisten ist nicht ohne Folgen geblieben. Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD), der noch Ende September auf einer Festveranstaltung zu Ehren der Konvention das Gesetz als »großen Fortschritt in der Menschenrechtspolitik« pries, legte wenige Tage später schriftlich eine Kehrtwendung hin. Auf die Anfrage des behindertenpolitischen Sprechers der Grünen, Markus Kurth, antwortete das Scholz-Ministerium, »dass die derzeitige deutsche Rechtslage ... den Anforderungen des Übereinkommens entspricht«.

Mit anderen Worten: Alles soll so bleiben, wie es ist. ULRIKE DEMMER

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