»Die Verantwortung kann mir keiner abnehmen«
SPIEGEL: Herr Baum, Sie sind im Kabinett für die Reaktorsicherheit zuständig. Können Sie nach Harrisburg noch die Energiepolitik der Bundesregierung mittragen, die zwar der Kohle Vorrang gibt, den Bau weiterer Kernkraftwerke aber »für unerläßlich und für vertretbar« hält?
BAUM: ... und die Energieeinsparung und die Energieforschung als weitere zentrale Fragen ansieht -- das ist hinzuzufügen. Zu Ihrer eigentlichen Frage: Ich trage das Energieprogramm der Bundesregierung mit. Die Bundesregierung hat gerade erst in der Gorleben-Erklärung erneut betont, daß die begrenzte friedliche Nutzung der Kernenergie vertretbar ist, wenn der sichere Betrieb und die Entsorgung gewährleistet sind. Harrisburg hat nun gezeigt, daß wir in die Nähe von Gefährdungen gekommen sind, die nicht für möglich gehalten wurden. Jetzt nach Harrisburg fühle ich mich als der für die Sicherheit der Kernenergie zuständige. Minister verpflichtet, die Folgerungen für die Reaktorsicherheit in der Bundesrepublik zu ermitteln. Ich bin nach dem Atomgesetz verantwortlich für den Schutz von Leben und Gesundheit unserer Bürger vor den Gefahren der Kernenergie. Diese Verantwortung kann mir niemand abnehmen.
SPIEGEL: Ist für Sie eine politische Position denkbar, die auf Kernenergie in der Bundesrepublik verzichtet?
BAUM. Denkbar ist diese Position. Denn wenn ich der Meinung bin, daß wir unser Sicherheitskonzept überprüfen müssen, dann muß ich auch die äußerste Frage zulassen, die natürlich auch die Energieversorgung in starkem Maße berührt. Diese Frage darf für den Reaktorsicherheitsminister nicht tabu sein. Obwohl Reaktoren in der Bundesrepublik nach einem anderen technischen Sicherheitskonzept konstruiert sind und wir einen sehr hohen Sicherheitsstandard haben, müssen wir nach Harrisburg nachforschen, ob es nicht andere Abläufe gibt.
SPIEGEL: ... von denen wir noch keine Ahnung haben?
BAUM: ... die zu Gefährdungen führen können, die wir heute auch nicht für möglich halten, die aber eben in die Nähe des Möglichen rücken können. Das ist die neue Dimension, das ist eine ganz nüchterne Frage.
SPIEGEL: Ist dies. für Sie eine rhetorische oder eine offene Frage?
BAUM: Nach Harrisburg muß ich das als eine offene Frage ansehen. SPIEGEL: Das ist neu.
BAUM: Ja, das ist eine neue Position. Wir müssen Harrisburg zum Anlaß nehmen, noch einmal zu prüfen und zu fragen. Zu vorschnellen und hektischen Entscheidungen ist kein Anlaß. Zur Zeit gibt es nach den Aussagen der Fachleute keine Anhaltspunkte, auch nur ein einziges Kernkraftwerk abzuschalten.
SPIEGEL: Zur Zeit.
BAUM: Zur Zeit. Die Möglichkeit dazu haben wir. Nach dem Atomgesetz muß ich Genehmigungen widerrufen, wenn anders die Sicherheit eines Kernkraftwerkes nicht garantiert werden kann. Es besteht kein Anlaß zur Dramatisierung, man darf aber auch nicht beschwichtigen. Deshalb habe ich auch in den letzten Tagen nicht gesagt, das könne in unserem Lande nicht passieren -- selbst wenn einiges dafür spricht.
SPIEGEL: Hat Harrisburg Auswirkungen auf andere riskante Projekte der Bundesregierung, wie den Schnellen Brüter oder das integrierte Entsorgungszentrum in Gorleben?
BAUM: Das kann man heute noch nicht sagen. Damit beschäftigt sich auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. Die Bundesregierung hat zu Kalkar eine klare Position bezogen ...
SPIEGEL: ... die nicht in Übereinstimmung steht mit dem Beschluß des FDP-Parteitages.
BAUM: Richtig. Gerieben hat eine andere Qualität, weil es hier um eine Entsorgung geht, also um eine Beseitigung von gefährlichen Abfällen. Auch hier gilt: Sicherheit hat Vorrang vor allen anderen Interessen. Wir müssen auch hier bereit sein, uns Argumenten zu stellen. Dies ist in Hannover in der letzten Woche geschehen.
SPIEGEL: Den Argumenten der Bürger?
BAUM: Erst einmal den Argumenten der Sachverständigen. Und wenn Sie sagen Bürger, so bin ich der Meinung, daß diese. umstrittenen Technolegien, die so viele Ängste anrühren, nicht gegen die Bürger durchsetzbar sind, sondern nur, wenn man einen sehr offenen Dialog mit den Bürgern führt, der jetzt nach Harrisburg stärker als bisher ein Dialog über die Risiken sein muß.
SPIEGEL: Aber die Fachleute. haben einen Ablauf wie in Harrisburg für so unwahrscheinlich gehalten, daß sie die Kraftwerke. nicht für einen solchen Ablauf eingerichtet haben. BAUM; So ist es.
SPIEGEL: Können Sie sich noch auf den Rat von Experten verlassen?
BAUM: Das ist nicht Anlaß, den Sachverständigen einen Vorwurf zu machen, mit denen ich in den letzten Tagen besonders vertrauensvoll zusammengearbeitet habe. Auch das Erkenntnisvermögen von Sachverständigen ist nicht unbegrenzt. Auch sie stellen sich bereits neue Fragen.
SPIEGEL: Das hätte schon vorher geschehen können.
BAUM: Ich halte in dieser Situation nichts von Besserwissen und im übrigen auch nichts von politischem Opportunismus.
SPiEGEL: Harrisburg hat Sie gelehrt, daß die Expertenweisheit nichts taugt, wonach so ein Unfall nur einmal in einer Million Reaktorjahre vorkommt. Die Katastrophe kann morgen eintreten. Ist unter dieser Erkenntnis aus dem Atom-Saulus ein Antikernkraft-Paulus geworden?
BAUM: Nein, ich bin nicht zu einem Kernkraftgegner geworden. Ich bin nur zu einem Mann geworden, der nach Harrisburg besonders kritische Fragen stellt und offen ist für ein neues Urteil.
SPIEGEL: Sie haben vorgeschlagen, eine unabhängige Persönlichkeit mit allen Informationen über die Sicherheit unserer Kernkraftwerke auszustatten, und dann um ein Urteil zur Kernenergie zu ersuchen. Wenn dieser Mann Ihnen rät, die Finger von der Kernenergie zu lassen, was machen Sie dann?
BAUM. Es geht um eine Instanz zwischen technischem Sachverstand und der politischen Entscheidung. Ich würde diesen Rat ernst nehmen und politisch entscheiden.
SPIEGEL: Unabhängig, wer was Ihnen rät -- entscheiden müssen letztlich Sie und Ihre Kollegen im Kabinett.
BAUM: Vor diesem Dilemma stehen wir immer; schon heute steht fest, daß gewisse Risiken in Kauf genommen werden müssen, wenn man die Kernenergie weiter nutzen will. Auch andere Energiearten bergen Risiken in sich.
SPIEGEL: Das Kabinett hat darauf verzichtet, in seiner Harrisburg-Erklärung die Möglichkeit zu erwähnen, notfalls auf Kernenergie zu verzichten. Konnten Sie sich damit nicht durchsetzen?
BAUM. Das Kabinett hat auf meinen Antrag beschlossen, die Reaktoren der Bundesrepublik einer umfassenden kritischen Bestandsaufnahme im Hinblick auf die Sicherheitsvorkehrungen zu unterziehen. Dies kann glaubwürdig nur geschehen, wenn ohne Tabu und Vorbehalt geprüft wird und auch diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist. Es geht darum, auf die Fragen zu antworten, die Bürger stellen, nicht irgendwelche Randgruppen, sondern ganz normale Bürger. Mein Posteingang, mein Telegrammeingang zeigt, daß die Bürger jetzt sehr viele Fragen haben, die sich noch nicht alle beantworten lassen.
SPIEGEL: Sie müssen schon bald eine Antwort geben. In diesem Jahr steht eine ganze Reihe Teilerrichtungsgenehmigungen für bundesdeutsche Kernkraftwerke an.
BAUM: ... es sind laufend Teilerrichtungsgenehmigungen zu erteilen für Kraftwerke, an denen noch gebaut wird. Aber zur Zeit ist keine Betriebsgenehmigung und keine Baugenehmigung zu erteilen. Wenn jetzt diese anstünden, würde ich nicht zustimmen.
SPIEGEL: Aber die Industrie kann damit rechnen, daß die jetzt anstehenden Anschlußgenehmigungen, etwa für die Reaktoren Krümmel in Schleswig-Holstein oder Gundremmingen II in Bayern erteilt werden?
BAUM: Sie werden im Lichte der aktuellen Erfahrungen geprüft und beurteilt werden müssen. Um einen spektakulären Stopp von Teilerrichtungsgenehmigungen geht es nicht.
SPIEGEL: Als über den Schnellen Brüter abgestimmt wurde, wollten sechs FDP-Abgeordnete nicht mitmachen und Ihr Parteivorsitzender, Vizekanzler Genscher, stellte die Vertrauensfrage.
BAUM:... und ich auch ... SPIEGEL ... Sie auch. Kann man eigentlich diesen Knüppel nochmal aus dem Sack holen, denn es ist ja durchaus denkbar, daß schon bei den eben von Ihnen angekündigten künftigen Genehmigungen Proteste aus den Reihen der Koalitionsfraktionen kommen?
BAUM. Ich meine, daß man eine solche Situation nicht oft wiederholen kann, unabhängig vom Gegenstand. Sie wird sich auch nicht ohne weiteres wiederholen.
SPIEGEL: Die Entscheidungen über die Reaktion der Bundesregierung auf Harrisburg fiel zu einer Zeit, in der Bundeskanzler Schmidt auf Reisen war, Ihr Parteivorsitzender Genscher kurte und der für nukleare Risikoforschung zuständige SPD-Forschungsminister Hauff auf Urlaub war. Haben Sie sich allein gefühlt?
BAUM. Ich gehe davon aus, daß die Ressorts und auch die Ressortchefs auch der Kanzler ständig informiert worden sind. Ich habe selber mit dem FDP-Vorsitzenden gesprochen. Graf Lambsdorff, der aus seiner Zuständigkeit vor allem die energiepolitischen Konsequenzen vertreten muß, trägt die sicherheitspolitischen Folgerungen mit.