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Artikel 42 / 81

»DIE WÄCHTER SCHÄMEN SICH«

Der sibirische Bauarbeiter Anatolij T. Martschenko wurde 1960 wegen des Versuchs einer Flucht aus der UdSSR zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haft begegnete er dem amerikanischen U-2-Piloten Francis Gary Powers und dem sowjetischen Schriftsteller Julij Daneel. Martschenko verfaßte einen Bericht über seine Erlebnisse in den sowjetischen Straflagern, der als illegales Pamphlet ("Samisdat") in der UdSSR kursiert. Ein Exemplar, aus dem der SPIEGEL Auszüge veröffentlicht, wurde in den Westen geschmuggelt**. Martschenko erhielt nach seiner Entlassung 1966 ein Aufenthaltsverbot für die Stadt Moskau, das er aber nicht beachtete. Aus diesem Grunde wurde er im Sommer 1968 erneut festgenommen und zu einem Jahr Haft verurteilt. Kurz vor Ablauf dieser Strafzeit wurde Martschenko, 31, wegen einer Sympathie-Erklärung für die Tschechoslowakei wiederum ein Prozeß gemacht, der innerhalb der Lagerzone der Strafanstalt Perm stattfand. Häftling Martschenko erhielt zwei weitere Jahre Freiheitsentzug.
aus DER SPIEGEL 43/1969

Ich heiße Anatolij Martschenko. Ich bin 1937 in Barabinsk (Sibirien) geboren. Mein Vater hat zeit seines Lebens bei der Eisenbahn gearbeitet. Meine Mutter war Reinmachefrau auf dem Bahnhof. Beide waren Analphabeten.

Ich bin acht Jahre lang zur Schule gegangen, dann bediente ich eine Bohrmaschine auf der Baustelle eines Wasserkraftwerkes. Ich arbeitete auch in Bergwerken und mit Geologen bei der Erzsuche. Meine letzte Baustelle war in Karaganda in Kasachstan. Nach einer Schlägerei mit Tschetschenen, die aus dem Kaukasus dorthin umgesiedelt worden waren, kam ich 1960 zum erstenmal in Haft.

Nach meiner Entlassung beschloß ich, ins Ausland zu flüchten. Ich sah keinen anderen Ausweg für mich und brach mit einem jungen Burschen namens Budrowski auf. Wir wollten nach Persien gehen. Aber am 29. Oktober 1960 wurden wir 40 Meter vor der Grenze festgenommen. Am 3. März des folgenden Jahres verurteilte man mich wegen »Landesverrats« zu sechs Jahren Gefängnis. Ich war 23 Jahre alt.

Als ich auf dem Bahnhof von Aschchabad den Waggon für die Gefangenen bestieg, ahnte ich nicht im entferntesten, daß aus meiner Reise eine wahre Odyssee werden sollte, die nahezu drei Monate lang von Gefängnis zu Gefängnis und schließlich bis in die entfernten Lager Mordwiniens führen würde.

Das Gefängnis von Alma-Ata unterscheidet sich von dem in Taschkent vor allem durch die Zahl der Wanzen. Es gibt dort so viele, daß die Wände rot erscheinen.

Im Gefängnis von Nowosibirsk geben die Ratten den Ton an. Sie laufen zwischen den Füßen durch und klettern auf die am Boden liegenden Häftlinge. Dort wurde ich in eine Zelle mit christlichen Sektierern gesteckt. Sie waren verhaftet, unter Ausschluß der Öffentlichkeit verurteilt und als »Parasiten« in die Verbannung geschickt worden, weil sie sich geweigert hatten, an den Wahlen teilzunehmen. Sie befanden sich im Hungerstreik, und auf jeder Zwischenstation flößte man ihnen unter Zwang eine Nährflüssigkeit ein, bevor sie weitertransportiert wurden, immer weiter in Richtung Sibirien.

Ende Mai 1961 erreichten wir die Lager Mordwiniens. Ich wurde in das Lager Nummer 10 eingewiesen. Von dort aus kam ich alsbald in das »Sonderlager«. Das ist sozusagen das Gefängnis der Gefangenen. Dorthin schickt man diejenigen, die innerhalb des allgemeinen Lagers ein Verbrechen begangen, die Arbeit verweigert, einen Ausbruchversuch unternommen, die Arbeitsnorm nicht erreicht oder den Wachposten Widerstand geleistet haben.

Es ist ziemlich einfach, im Lager wegen »Banditentums« oder »Rowdytums« angeklagt zu werden. Es reicht, wenn man einen Sinn für die Menschenwürde behält. In der Praxis findet man in den »Sonderlagern« all diejenigen, die den Behörden mißfallen haben, weil sie lästig, unabhängig

* Das Photo des Lagers Kargopol wurde von einem Wachposten aufgenommen und an einen Häftling verkauft.

** Der vollständige Text erscheint als Buch im S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main. Anatolij T. Martschenko: »Meine Aussagen«; 408 Seiten; 24 Mark.

oder einfach bei den anderen Gefangenen beliebt waren.

Selbstmorde sind in den Sonderlagern nicht selten. Eines Tages beschlossen drei Gefangene, sich umzubringen. Aus der Ziegelei, in der wir arbeiteten, nahmen sie drei Bretter und fertigten daraus eine Art Leiter, die sie unter den Blicken eines Wachpostens gegen die Absperrung stellten.

»Runter oder ich schieße!« ruft der Wachposten. »Erweise uns die Gnade!« antwortet einer der Gefangenen,

Er klettert weiter. Eine Feuergarbe legt ihn um. Der zweite Gefangene steigt hoch und wird ebenfalls getötet. Dann klettert der dritte hoch und fällt am Fuße der Absperrung auf die Leichen seiner Gefährten, niedergemäht durch eine letzte Feuersalve.

Ein Wachposten, der einen Flüchtenden tötet, erhält Zusatzurlaub; man muß jedoch sagen, daß die Soldaten sich oft der Arbeit schämen, die sie ausführen müssen. Eines Tages im Herbst 1963 tötete ein Wachposten einen Flüchtling im Sperrgebiet und hatte Anspruch auf Urlaub. Er trat ihn jedoch mit vielen blauen Flecken an: Seine Kameraden hatten ihn in der Nacht bestraft.

Bei den professionellen Gefangenenaufsehern liegen die Dinge anders. Sie sind bestechlich. Die unbeschränkte Macht, die sie über die Gefangenen haben, korrumpiert sie. Über sie wird in den Lagern ein intensiver Handel organisiert, und die Wächter bereichern sich an den Gefangenen und deren Familien.

Die Soldaten schreiben nicht nach Hause, daß sie Landsleute bewachen müssen, und manchmal gestehen sie bei Diskussionen am Stacheldrahtverhau, was sie von den Lagern denken:

»In einem Jahr ist mein Dienst zu Ende, und dann zum Teufel mit dieser widerlichen Arbeit!«

»Aber dennoch würdest du auf mich schießen, wenn man es dir befiehlt!«

»Nun ja! Was soll man tun? Ich habe keine Lust, an deiner Stelle ins Lager zu gehen.«

Ich habe von Selbstmordversuchen gesprochen. Die Verzweiflung treibt die Menschen aber zu noch seltsameren Dingen, zum Beispiel zu Tätowierungen. Ich habe einen gesehen, auf dessen Stirn die beiden Sätze »Die Kommunisten sind Henker« und »Die Kommunisten saugen dem Volk das Blut aus« eintätowiert waren.

Als ich Nikolaj Schtscherbakow zum erstenmal begegnete, hätte ich mich beinahe hingesetzt. Sein Gesicht war völlig mit Tätowierungen bedeckt. Auf der einen Wange stand: »Lenin ist ein Henker.« Auf der anderen die Fortsetzung: »Durch ihn leiden Millionen.« Auf den Backenknochen war zu lesen: »Chruschtschow, Breschnew, Woroschilow sind Henker.«

Wie gelingt es den Gefangenen, sich in einem Lager zu tätowieren? Man muß sich Nadeln und Farbe besorgen. Man zieht einen Nagel aus dem Schuh, oder man nimmt ein Stück Draht. Der Gegenstand wird mit einem Stein angespitzt, und schon ist die Nadel fertig. Zur Herstellung der Tinktur verbrennt man ein Stück Gummi und verdünnt die daraus gewonnene Asche mit Urin.

Mich hat vor allem das Prinzip der Gesichtstätowierung überrascht: Warum macht man aus seinem Gesicht eine Maske, die sich nicht beseitigen läßt? Warum entstellt man sich für immer? Dann ertappte ich mich in Augenblicken der Verzweiflung und der Ohnmacht bei dem Gedanken: »Wenn ich ihnen meine Verachtung und meine Wut sagen könnte, wenn ich ihnen ein Stück meines Körpers ins Gesicht werfen könnte!« Und dann begriff ich: Diese Tätowierungen waren ein Mittel dauernden, unauslöschlichen Protests.

Ich hatte mich mit Nikolaj Schtscherbakow angefreundet. An einem Dezembertag 1961, als wir unseren Rundgang machten, fragte er mich von fern durch Gesten, ob ich eine scharfe Klinge besäße. Ich hatte drei im Schirm meiner Mütze versteckt. Vom Posten unbemerkt, nahm ich eine heraus und steckte sie in den Spalt eines Holzpfostens. Nikolaj hatte mir von weitem zugesehen, und wenig später holte er die Klinge ab.

Ich wußte nicht, was er damit machen wollte. Unter Gefangenen hilft man sich, ohne Fragen zu stellen. Gegen Abend ging ein Gerücht von Zelle zu Zelle: Schtscherbakow hatte sich ein Ohr abgeschnitten.

Anschließend erfuhr ich die Einzelheiten. Nikolaj hatte sich zuerst auf sein rechtes Ohr den Spruch »Geschenk für den 22. Parteitag der KPdSU« tätowieren lassen. Dann hatte er mit einer präzisen Handbewegung dieses Ohr abgeschnitten. Anschließend klopfte er so lange an die Tür der Zelle, bis der Wachposten kam, dann warf er das blutige Stück Fleisch mit der Widmung durch das Gitter. Schtscherbakow wurde in das Krankenhaus eingeliefert. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.

Nach einem dreimonatigen Aufenthalt in dem Sonderlager wurde ich in das Gefängnis von Wladimir geschickt. In Wladimir galt folgende Hausordnung: Vom Wecken (6 Uhr) bis zum Löschen des Lichts (22 Uhr) war es verboten, sich hinzulegen. Zuwiderhandlungen wurden mit einer bis zwei Wochen scharfem Arrest bestraft.

Man konnte sich setzen, herumgehen, halb schlummernd stehenbleiben, aber es war verboten, sich auf der Pritsche auszustrecken. Unter Androhung von Arrest war es auch verboten, vor dem Fenster stehenzubleiben.

Was kann man unter solchen Bedingungen 16 Stunden lang am Tag machen? Lesen oder schreiben. Man hat ein Recht auf zwei Bücher für zehn Tage, und man kann in der Kantine Hefte mit zwölf Seiten kaufen. Jedes Heft muß für zwei Wochen ausreichen, und alles, was man schreibt, wird von dem Aufsseher kontrolliert.

Ein Gefangener In Wladimir erhält folgende Verpflegung: pro Tag 500 Gramm Schwarzbrot, 15 Gramm Zucker, morgens eine kleine Schüssel Suppe mit einem Becher kochendem Wasser und einige Sardellen, die oft verdorben sind. Mittags gibt es 350 Gramm »Schtschi« (ein russischer Eintopf), der vor allem aus heißem Wasser und verkochtem Kohl besteht. Die Abendration besteht aus 100 bis 150 Gramm wäßrigem Kartoffelpüree.

Das ist die »Normalkost«. Als »strenge Diät« gibt es dagegen 400 Gramm Brot, keinen Zucker und mittags und abends nur klare Suppe.

Einmal im Jahr darf man ein Paket empfangen: fünf Kilo Lebensmittel.

Manchmal treten die Gefangenen in einen Hungerstreik. In unserer Zelle beschlossen Andrej Nowokizki und Nikolaj Schorochow zu fasten, um gegen ihr unter Ausschluß der Öffentlichkeit ergangenes Urteil zu protestieren, gegen die Tatsache, daß man ihnen ihr Urteil überhaupt nicht offiziell mitgeteilt hatte, und gegen die unmenschlichen Bedingungen, denen politische Gefangene ausgesetzt sind.

Die Wächter rührte das kaum. Man ließ Andrej und Nikolaj bei uns. Man gestattete ihnen lediglich, auf ihren Pritschen liegenzubleiben. Wie soll man aber in einer Zelle, in der die anderen Gefangenen weiterhin ihre Rationen essen, einen Hungerstreik durchstehen? Die meisten geben nach zwei oder drei Tagen auf.

Nowokizki und Schorochow gaben nicht auf. Sie blieben liegen, schweigend mit dem Gesicht zur Wand gekehrt. Jeden Morgen brachte der Wächter die Rationen und fragte die Streikenden, ob sie ihren Anteil wollten. Wenn sie nein sagten, nahm der Wächter die Rationen mit, die er ihnen unter die Nase gehalten hatte. Mittags und abends war es genauso. So mußte der Streikende dreimal täglich seine Nahrung ablehnen.

Vom vierten Tag an stand Andrej überhaupt nicht mehr auf. Am zehnten Tag hörte er auf zu sprechen. Schorochow konnte bis zum achten Tag aufstehen. Der Arzt suchte sie in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal auf.

Am elften Tag betraten mehrere Aufseher unsere Zelle. Andrejs Gesicht sah aus wie das einer Leiche. Der Chef befahl uns, seine Sachen zusammenzusuchen, und sie sperrten ihn allein in eine leere Zelle. Am nächsten Tag wurde Schorochow ebenfalls in eine leere Zelle abgeführt.

Eine Woche später tauchte Andrej wieder bei uns auf. Sein Anblick läßt sich nicht beschreiben. Man hätte ihn für ein Gespenst halten können. Er erzählte uns, der Abteilungschef habe ihn in seiner Einzelzelle aufgesucht und ihm gesagt: »Was soll der Streik? Wir sind keine Unmenschen. Wenn du etwas vorbringen möchtest, dann reiche eine Beschwerde ein, schreibe, du hast das Recht dazu!«

Andrej schrieb, und nach einiger Zeit erhielt er eine Antwort: »Sie sind völlig zu Recht verurteilt. Hinsichtlich der Haftbedingungen wird an Ort und Stelle eine Untersuchung durchgeführt werden.«

Gegenüber meiner Zelle, in Nummer 79, befand sich der Gefangene Stepan, den ich sehr gern mochte. Er war Professor für Geographie in der Ukraine gewesen. Man hatte ihn zu 25 Jahren verurteilt, und er befand sich bereits 14 Jahre in Haft.

Bei einem Routinebesuch kam eines Tages der Staatsanwalt in die Zelle und fragte: »Hat jemand Reklamationen vorzubringen?«

Dann sieht der Staatsanwalt plötzlich Stepan und ist verwirrt: »Sie, Sie sind immer noch in Haft?«

»Wie Sie sehen!« sagt Stepan. Nach einem peinlichen Schweigen verließ der Staatsanwalt die Zelle. Stepan und er kannten sich gut. Zwei Jahre lang hatten sie in diesem Gefängnis dieselbe Zelle geteilt. Dann hatte man 1956 den Staatsanwalt rehabilitiert und ihm seinen Posten zurückgegeben. Stepan war geblieben.

Am schwersten zu ertragen ist die dicke Mauer des Schweigens, dieses Gefühl des völligen Verlassenseins. Daher begeht von Zeit zu Zeit so manch einer Selbstmord. Daher bedecken andere ihr Gesicht mit beleidigenden und provokatorischen Tätowierungen. Daher nehmen schließlich manche freiwillig grausame Verstümmelungen an sich vor. Folgendes habe ich im Frühjahr 1963 im Gefängnis von Wladimir mit eigenen Augen gesehen: Sergej K., der sich am Rande der Verzweiflung befand, beschloß, sich auf spektakuläre Art und Weise zu verstümmeln. Aus einem kleinen Stück Draht machte er einen Haken. Aus dem Garn von einem Paar Socken flocht er eine lange Schnur. Er besorgte sich auch zwei Nägel. Zuerst schlug er vorsichtig mit seinem Napf einen der Nägel in die Schalterklappe der Tür« um nicht die Aufmerksamkeit des Aufsehers zu erregen. Anschließend befestigte er die Schnur an dem Nagel. Dann band er den Haken an das andere Ende der Schnur.

Wir anderen, seine Zellengenossen, betrachten sein Vorhaben schweigend. Es ist nicht üblich, sich in solche Dinge einzumischen.

Sergej näherte sich

dem Tisch, der in der Mitte der Zelle stand, zog sich nackt aus, setzte sich auf eine der Bänke ... und verschluckte seinen Haken. Wir blieben wie angewurzelt stehen: Wenn der Aufseher jetzt die Tür öffnen würde (oder einfach auch nur das kleine Fenster), würde er Sergej wie einen Karpfen aus dem Teich ziehen.

Aber für Sergej war das noch nicht ausreichend. Er sagte sich, wenn man an der Schnur zöge, so würde er nicht umhin können, der Bewegung zu folgen. Er würde sich unwillkürlich der Tür nähern und es wäre dann möglich, durch das halbgeöffnete Schalterfenster die Schnur durchzuschneiden.

Um sicher zu sein, daß er sich nicht bewegen könnte, tat Sergej K. folgen-

* Die Tafel (l.) verzeichnet die Soll-Erfüllung und verkündet »Schande den Bummelanten«. Auf dem Transparent (r. oben) heißt es: »Durch unsere ehrliche Arbeit erhalten wir das Recht auf bedingte, vorfristige Freilassung.«

des: Er nahm den anderen Nagel und nagelte seine Hoden an die Bank, auf der er saß.

Jetzt klopfte Sergej stark auf den Nagel. Er kümmerte sich nicht mehr um den Lärm. Bald kam der Aufseher angelaufen und hielt sein Auge ans Guckloch, um zu sehen, was in dieser Zelle vor sich ging. Zunächst begriff er nur eines: Ein Häftling hatte einen Nagel, er schlug einen Nagel ein. Seine erste Reaktion war natürlich, ihm den Nagel wegzunehmen, und er begann, am Schloß zu hantieren.

Da sagte ihm Sergej mit lauter Stimme, er möge, bevor er öffne, erst einmal überlegen. In gesetztem Tonfall erklärte er ihm die Situation im einzelnen: Wenn der Wächter die Tür öffne, werde er ihm im gleichen Augenblick den Magen herausreißen.

Alsbald versammelten sich vor der Tür eine Menge Aufseher. Nacheinander blickten sie durch das Guckloch und riefen Sergej zu, er solle die Schnur durchschneiden. Als sie begriffen hatten, daß Sergej nicht gehorchte, befahlen sie uns, es an seiner Stelle zu tun. Wir saßen auf unseren Pritschen und antworteten nicht.

Dann kam die Stunde der Essenausgabe. Man hörte auf dem Korridor das Klappen der Schalterfenster und das Klirren der Eßgeschirre. Einer von uns hielt es nicht mehr aus und schnitt die Schnur durch. Sogleich drangen die Aufseher in die Zelle und stürzten sich auf Sergej. Aber was konnten sie machen? Sergej war immer noch splitternackt an seine Bank genagelt. Schließlich ließ man uns unsere Sachen zusammensuchen und siedelte uns in eine andere Zelle um.

Ich weiß nicht, was aus Sergej K. geworden ist. Ich frage mich, wie man ihn wieder losgelöst hat und wie man den Haken aus seinem Magen gezogen hat. In dem Gefängniskrankenhaus, das schon voller selbstverstümmelter Häftlinge war, wird er wohl kaum durchgekommen sein.

Dort findet man diejenigen, die alle möglichen Gegenstände verschluckt haben, Löffel, Zahnbürsten und Drähte. Dort findet man diejenigen, die sich Augenhöhlen mit zerstampftem Glas gefüllt haben. Diejenigen, die so lange Puderzucker eingeatmet haben, bis sich an den Lungen ein Abszeß bildet. Diejenigen, die ihre Wunden mit Nähgarn zusammennähen. Diejenigen, die sich unmittelbar an die Haut Knöpfe nähen. Der Chirurg des Gefängniskrankenhauses verbringt die meiste Zeit damit, die Mägen zu öffnen.

Eine weitere Aufgabe des Chirurgen besteht darin, die bereits erwähnten Tätowierungen zu beseitigen. Vielleicht haben sich die Dinge inzwischen geändert, aber als ich dort in den Jahren 1961 bis 1963 war, wurde die Operation auf äußerst primitive Weise durchgeführt: Man schnitt einfach die tätowierte Haut ab, dann nähte man die auseinanderklaffende Haut wieder zusammen.

Ich erinnere mich an einen Häftling, der auf diese Art und Weise dreimal operiert wurde. Das erste Mal schnitt man von seiner Stirn einen Streifen mit der klassischen Inschrift: »Sklave Chruschtschows«. Kaum war die Wunde vernarbt, mußte man von neuem beginnen, um eine weitere Inschrift zu beseitigen: »Sklave der UdSSR«. Schließlich: »Sklave der KPdSU«. Nach dieser letzten Operation war die Haut auf seiner Stirn so sehr gespannt, daß er die Augen nicht mehr schließen konnte.

Wer jemals in Wladimir war, hat von echten Fällen der Anthropophagie gehört. In einer Zelle trug sich beispielsweise folgendes zu: Die Gefangenen besorgten sich eine Klinge, dann schnitten sie sich jeweils vom eigenen Körper ein Stück Fleisch aus der Hüfte oder vom Bauch ... Sie fingen das Blut von allen in einem einzigen Napf auf, warfen das Menschenfleisch hinein und entzündeten ein Feuer mit Papier, das sie mehrere Tage heimlich gesammelt hatten.

Als die Aufseher bemerkten, was da vor sich ging, war das Ragout noch nicht ganz gar, aber die Gefangenen, die sich schlugen und sich verbrannten, griffen nach den Fleischstückchen und stopften sie in den Mund, bevor man sie daran hindern konnte. Später gestanden sogar die Aufseher, dieser Vorfall habe einen schrecklichen Anblick geboten.

Ich weiß, daß es schwerfällt, solche Geschichten zu glauben, aber ich habe später einige Teilnehmer dieses schaurigen Festmahls getroffen. Ich habe Jurij Panow gesehen: Sein Körper war eine einzige Narbe. Er wurde immer wieder rückfällig: Er hatte mehrmals ein Stück Fleisch von seinem Körper abgeschnitten und es durch die kleine Schiebetür den Wächtern ins Gesicht geworfen. Er hatte sich den Bauch aufgeschlitzt und seine Eingeweide ausgebreitet. Er hatte sich die Adern der Handgelenke geöffnet. Er hatte alle möglichen Gegenstände verschluckt.

Und dennoch verließ er das Gefängnis von Wladimir lebend und wurde in das Lager Nummer 2 eingewiesen ...

Eines Tages wurde im Radio bekanntgegeben, der amerikanische U-2-Pilot Francis Gary Powers sei aufgrund seiner aufrichtigen Reue und guter Führung begnadigt worden.

Diese Nachricht interessierte uns um so mehr, da Powers unser Nachbar war. Er war hier in Wladimir interniert. Wir wußten, daß er im Gästehaus im zweiten Stock eine Doppelzelle bewohnte.

In allen Zellen unterhielt man sich über seine Freilassung. Powers hatte nicht einmal den vierten Teil seiner Zeit verbüßt, und er wurde begnadigt. An Bord eines Spionageflugzeuges hatte er, im Solde der Kapitalisten stehend, die Sowjet-Union überflogen und photographiert -- und er wurde begnadigt.

Über Powers entwickelte sich eine lebhafte Diskussion. Man wußte, daß man ihm aus wohlüberlegten Gründen einen Mitgefangenen, einen Esten, zugesellt hatte. Es war ein gebildeter Mann, der gut Englisch sprach. Er sollte sein möglichstes tun, um vor Powers die wirklichen Haftbedingungen in den sowjetischen Gefängnissen zu verbergen. Er sollte die Amerikaner glauben machen, daß die relativ komfortablen Bedingungen, unter denen er lebte, für alle Gefangenen von Wladimir galten. Er sollte alle peinlichen Fragen vermeiden, vor allem aber über Sport und Kino sprechen.

Powers trug seine eigene Kleidung. Er war immer frisch rasiert. Man hatte ihm nicht den Kopf kahlgeschoren. Während seiner Haftzeit in Wladimir ahnte er überhaupt nicht, welches Leben ein Gefangener wirklich führt ...

Im Herbst 1964 standen die Leiter des Lagers Nummer 2 (und ich glaube, die Leiter aller Lager Mordwiniens und der ganzen Sowjet-Union) vor einem sonderbaren Problem. Nikita Chruschtschow war abgesetzt worden, und man hatte Anweisung erteilt, alle Spuren des Personenkults der Chruschtschow-Ära zu beseitigen.

Frühmorgens wurde einer der Gefangenen, ein Maler und Dekorateur, zur Lagerleitung geführt. Die gesamte Direktion war versammelt, und auch die Vertreter des KGB (Staatssicherheitsdienst) waren da. Der Maler erhielt einen einfachen Auftrag: Er sollte an allen Wänden den Namen Chruschtschow beseitigen, alle Plakate abnehmen und alle Spruchbänder, Porträts und Losungen, die Nikita gewidmet waren, verschwinden lassen. Der Name Chruschtschow durfte nirgends mehr zu lesen sein, wenn die anderen Gefangenen aus ihren Baracken treten würden.

Viele der Inhaftierten verdankten ihre Strafe Chruschtschow. Daher versammelten sich in einem Lager Mordwiniens alle mit ihren Sachen und begaben sich zum Wachposten.

»Wir sind verurteilt worden, weil wir Chruschtschow kritisiert haben, und jetzt gibt man uns recht. Öffnen Sie also das Tor. Wir sind frei.«

Man schickte sie natürlich sofort in ihre Baracken zurück. Um die Gemüter zu beruhigen, rief die Lagerleitung die Chruschtschow-Gegner unter den Gefangenen einzeln zum KGB: »Schreiben Sie an das Präsidium des Obersten Sowjet, und beantragen Sie Ihre Begnadigung. Sie werden sicherlich freigelassen werden.«

Warum Begnadigung? Logischerweise hätte jetzt die Rehabilitierung einsetzen müssen. Dennoch schrieben sehr viele, aber ich habe nie etwas von einer Rehabilitierung gehört.

Meinen Freund Sascha hatte man als aktiven Komsomolzen (Mitglied des Staatsjugendverbandes) und überzeugten Leninisten verurteilt, weil er gegen Chruschtschow Propaganda getrieben hatte. Die Geheimdienstagenten vom KGB hatten Ihm während seiner Haftzeit mehrmals gesagt: »Veröffentliche doch einen Artikel, in dem du deine Reue zum Ausdruck bringst, in dem du erklärst, daß du Chruschtschow verleumdet hast, und wir lassen dich frei.«

Er hatte jedesmal abgelehnt. Er geriet daher in heftigen Zorn, als dieselben KGB-Männer ihm sagten, er könne ein Gnadengesuch einreichen.

»Was?« brüllte er. »Vor kurzem war ich im Unrecht, heute bin ich im Recht, und dennoch soll ich meine Begnadigung beantragen? Leben wir denn in einem Irrenhaus?« -- »Was kann dir das schon anhaben, wenn du freigelassen wirst«, antwortete man ihm.

Er bestand jedoch darauf, nicht seine Begnadigung zu beantragen. Und heute verbüßt Sascha Potapow, ein Chruschtschow-Gegner, immer noch seine Strafe im Lager Nummer 2.

Im Februar 1966 wurde der Prozeß gegen die Schriftsteller Sinjawski und Daniel in allen Lagern Mordwiniens diskutiert. Anfangs war jedermann davon überzeugt, die beiden seien Provokateure, Feiglinge, die jammern, bereuen und gestehen würden, sie hätten sich für Dollar verkauft. Wir erwarteten einen klassischen Schauprozeß, in dem jeder eine vorbereitete Rolle spielt, einschließlich der gehorsamen Angeklagten.

Aber dann erreichten uns die ersten Zeitungsartikel: Die Angeklagten bestritten ihre Schuld. Sie diskutierten mit dem Gericht und verteidigten ihr Recht auf Meinungsfreiheit. Es war das erste Mal, daß der KGB nicht einen Prozeß gegen gebrochene Männer führte.

Sinjawski wurde zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt, Daniel zu fünf Jahren. Ganz gleich, wie das Urteil lautete, wir meinten dennoch, der KGB habe eine vernichtende Niederlage erlitten. Nun würde die ganze Welt erfahren, daß es entgegen den verlogenen Behauptungen von Chruschtschow in der UdSSR doch politische Gefangene gab.

Eines Tages, als ich von der Arbeit zurückkam, rief mir Pjotr Iljitsch Isotow zu: »Man hat ihn hergebracht! Den Schriftsteller! Man hat ihn in deine Brigade eingeteilt.«

Als ich mich umziehe, sehe ich einen Mann zwischen 35 und 40 Jahren eintreffen. Er ist mit einer Steppjacke, Stiefeln und einer Pelzmütze bekleidet. Unter der Jacke trägt er einen dicken Pullover. Er wirkt ein wenig verloren. Es ist Julij Daniel, der Schriftsteller. Wir reichen uns die Hand. Weitere Gefangene der Brigade kommen hinzu. Auch aus den anderen Baracken treten Gefangene heraus, um Daniel zu sehen. Eine Berühmtheit!

Während wir ihn über den Prozeßverlauf befragten, ging Hauptmann Ussow durch den Raum. Ohne stehenzubleiben, sagte er: »Ein Neuer? Dieser Pullover und dieser Hut müssen im Magazin abgegeben werden. Es ist verboten, so etwas hier zu tragen!«

Bereits am nächsten Morgen wurde Daniel zur Arbeit geschickt. Traditionsgemäß teilte ihm die Direktion eine harte Arbeit zu. Wir wußten, daß sein rechter Arm nach einer Verwundung nur sehr schlecht geheilt war. Wie würde er mit seinem verkrüppelten Arm Holzscheite zusammentragen und Kohlen schaufeln? Die Direktion rechnete damit, er würde es nicht aushalten und um eine leichtere Arbeit bitten. Man brauchte dann nur zuzugreifen. Man würde ihn dann für die Lagerzeitung schreiben lassen, ihn im Rundfunk sprechen lassen und würde ihn zum Bibliothekar ernennen. Kurzum, man würde ihn dazu bringen, seiner Reue Ausdruck zu verleihen -- was er während des Prozesses nicht getan hatte.

Daß Daniel Jude war, wußten wir bereits aus den Zeitungen. Es war betrüblich festzustellen, wie sich sogar hier in diesen Lagern, in denen die jüdischen Häftlinge ebenso unerbittlich wie die anderen behandelt wurden, der schlimmste Antisemitismus entfaltete.

Dennoch änderte Julij Daniel bereits in den ersten Tagen durch seine bloße Persönlichkeit die Haltung derjenigen, die feindlich gesinnt waren. Bald litt Daniel an Schmerzen in der Schulter, an der Stelle, an der er einmal verwundet worden war. Dennoch weigerte er sich, um eine Strafmilderung nachzusuchen. Nun versuchten alle Häftlinge, ihm von Zeit zu Zeit zu helfen und seine Aufgabe zu erleichtern. Oft konnte man sehen, wie die »Starken« Futman, Jussupow und Walerij zu Julij gingen und ihm halfen, seine Arbeit zu beenden, nachdem sie ihren Anteil Kohle bereits abgeladen hatten.

Sie wurden zum KGB gerufen: »Wer hilft Daniel?« -- »Jedermann hilft ihm!« -- »Warum? Kann er nicht selbst arbeiten? Braucht er Diener?«

»Entschuldigung!« warf ein Häftling mit einem sehr schnellen Mundwerk ein. »Wie heißt es doch in eurem Moralkodex? Brüderliche Hilfe. Der Mensch ist der Freund des Menschen. Hat sich der Moralkodex geändert?«

Da sich die KGB-Leute in einer Sackgasse befanden, suchten sie einen anderen Ausweg. Sie brachten Daniel aus unserer Brigade in die Maschinenwerkstatt. Sie behaupteten, sie würden ihm wegen seines beschädigten Armes einen Dienst erweisen, aber in Wirklichkeit war es schlimmer: In der Maschinenwerkstatt herrschte ein solcher Lärm, daß sogar einem sehr widerstandsfähigen Mann der Kopf platzen würde.

Daniel hatte aber ein Ohrenleiden, was die Direktion sehr wohl wußte. Die Folge ist, daß Daniel, der schon mit einer beginnenden Schwerhörigkeit in das Lager gekommen war, heute fast völlig taub ist. Ich selbst habe das Lager fast völlig taub verlassen.

Julij Daniel gehörte zu denen, die fast bis zu meiner Abreise bei mir blieben. Er gab mir ein Buch, es gehörte zu jenen Büchern, die er mir geliehen hatte und die mir gefielen. Als Widmung schrieb er hinein:

Alles In allem ist es gar nicht so schlimm, welch ein seltsames Geschickl Hier bist du taub geworden. hier bist du reifer geworden,

sei stolz auf einen ungewöhnlichen Erfolg, nicht alle, die Augen haben, sehen.

Bei der Durchsuchung bemächtigte sich Major Postnikow, der Chef des KGB, des Buches und las die Widmung. Sogleich befahl er einem seiner Mitarbeiter: »Schneiden Sie diese Seite heraus und fertigen Sie ein Protokoll an.« Ich fragte nach dem Grund dieser Beschlagnahme.

»Sehen Sie«, sagte der Major zu mir »meiner Ansicht nach bringt Julij Daniel in diesem Vers seine Meinung zum Ausdruck.«

Es war der 2. November 1966, fünf Tage vor dem 49. Jahrestag der Machtübernahme durch die Sowjets.

Ich erinnere mich, wie eines Tages der Chef unseres Kommandos, Hauptmann Ussow, während meiner Haftzeit zu mir gesagt hatte:

»Sie, Martschenko, sind mit allem unzufrieden, alles mißfällt Ihnen, Sie kritisieren alles. Aber was haben Sie denn selbst getan, um die Dinge zu verbessern? Sie haben versucht, ins Ausland zu fliehen. Das ist alles!«

Gut, diesmal bin ich nicht geflohen. Ich habe lediglich durch diese Aufzeichnungen Zeugnis abgelegt. Wenn ich aufgrund dieser Aussagen wieder unter die Aufsicht von Hauptmann Ussow gelange, dann werde ich ihm antworten können:

»Ich habe versucht, die Dinge zu verbessern; diesmal habe ich alles getan, was ich konnte. Und nun stehe ich wieder vor Ihnen.«

Anatolij Marischenko

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