»Die Wahrheit sagen«
SPIEGEL: Herr Biedenkopf, haben Sie den Widerstand der Bergleute gegen den Abbau der Kohlesubventionen für berechtigt gehalten?
BIEDENKOPF: Ich hielt ihn für überzogen. Allerdings glaube ich, daß durch rechtzeitige Aufklärung eine sanftere Landung möglich gewesen wäre.
SPIEGEL: Sie haben also Verständnis für die Wut der Bergarbeiter?
BIEDENKOPF: Wer die schlechte Botschaft so vermittelt, muß mit einer heftigen Gegenreaktion rechnen. Die Sonderbehandlung der Kumpels ist nicht zu rechtfertigen, aber das hätte den Betroffenen früher und klarer gesagt werden müssen.
SPIEGEL: Das hat auch die CDU nicht gemacht.
BIEDENKOPF: Richtig. Als Norbert Blüm 1987 den CDU-Vorsitz in Nordrhein-Westfalen übernahm, wurde ihm eine Grubenlampe und der Handschuh eines Stahlwerkers überreicht. Er hätte einen Computer bekommen müssen. Das wäre ein Zeichen für die Zukunft gewesen.
SPIEGEL: Vergangene Woche hat der Bundeskanzler versprochen, daß der Bergbau, wenn auch in kleinerem Umfang, auf Dauer erhalten bleiben soll.
BIEDENKOPF: Eine Verringerung der Belegschaftszahlen wäre schon mal ein wichtiger Schritt. Alles andere läßt sich bei uns in Ostdeutschland auch gar nicht vermitteln. In Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind seit 1992 über 100 000 Bergbau-Jobs abgebaut worden - mehr Arbeitsplätze, als es derzeit im gesamten Steinkohlebergbau noch gibt.
SPIEGEL: Die Sozialdemokraten haben ihr Wahlkampfthema gefunden: die soziale Kälte der Kohl-Regierung. Was folgt daraus für die Union ?
BIEDENKOPF: Oskar Lafontaine spielt doch nur mit der Angst der Menschen. Etwa 75 bis 80 Prozent bezeichnen ihre eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse als gut bis voll befriedigend, nur die gesamtwirtschaftliche Situation als schlecht. Mit ihren Attacken entfernt sich die SPD von der Realität.
SPIEGEL: Diese Realität besteht aber aus fast fünf Millionen Arbeitslosen und Hunderttausenden, die um ihren Job fürchten.
BIEDENKOPF: Die Verstärkung von Ängsten ist keine Politik, sondern Populismus. Entscheidend ist doch, was wir tun. Erzeugen wir die Illusion, auf dem bisherigen Wege könne man das Ziel, den Abbau der Arbeitslosigkeit, immer noch erreichen? Oder sagen wir den Menschen schonungslos, was wirklich los ist?
SPIEGEL: Bonn hat eine ganze Menge versprochen: die Halbierung der Arbeitslosigkeit, niedrige Lohnnebenkosten und einen stabilen Euro - bisher ohne jeden erkennbaren Erfolg.
BIEDENKOPF: Richtig. Das bedaure ich auch.
SPIEGEL: Woran liegt es denn, daß die Politik sich ständig im Wirrwarr der Interessen verheddert - zum Beispiel bei der Steuerreform, für die ein diskutables Konzept vorlag?
BIEDENKOPF: Erst wurde vieles aufgeschoben, und jetzt kommt alles auf einmal. Man kann den Menschen zum Beispiel durchaus erklären, warum die Besteuerung von Renten prinzipiell sinnvoll wäre, zumal sie nur für eine kleine Zahl von Rentnern wirksam würde. Nur darf man beim ersten Widerstand nicht gleich korrigieren und zurückstecken, sonst gerät auch ein noch so geschlossenes Konzept ins Rutschen.
SPIEGEL: Offensichtlich glauben viele Menschen den Politikern inzwischen nicht mehr, daß die abverlangten Opfer wirklich nötig sind.
BIEDENKOPF: Meine Erfahrung aus Ostdeutschland lehrt mich, daß das nicht so sein muß. Ich habe meinen ersten Wahlkampf in Sachsen auch mit der Aussage bestritten: Wir werden bis zu 40 Prozent Arbeitslosigkeit bekommen, aber in fünf Jahren werdet ihr stolz sein auf das, was ihr gemacht habt ...
SPIEGEL: ... das mag in Ausnahmesituationen funktionieren.
BIEDENKOPF: Aber ganz Deutschland ist jetzt in einer Ausnahmesituation. Wir haben die Währungsunion vor uns, Europa öffnet sich nach Osten, und wir müssen mit der Globalisierung der Märkte fertig werden. Wenn wir das alles mit den geburtenstarken Jahrgängen, die jetzt auf dem Arbeitsmarkt sind, nicht schaffen, werden wir es überhaupt nicht mehr bewältigen.
SPIEGEL: Vielleicht ist ja das System Kohl überfordert. Lassen sich die großen Probleme nur mit einer Großen Koalition lösen?
BIEDENKOPF: Das glaube ich nicht. Es kommt darauf an, die Probleme zu benennen und anzupacken. Ich habe jedenfalls nicht die geringsten Schwierigkeiten, jedem beliebigen Auditorium zu erklären, was zum Beispiel bei der Rente getan werden muß.
SPIEGEL: Aber schon seit zwölf Jahren fordern Sie einen radikalen Systemwechsel in der Rentenpolitik. Auf dem kleinen Parteitag der CDU in dieser Woche werden Sie ein weiteres Mal Ihre Idee einer steuerfinanzierten Grundrente präsentieren - und wahrscheinlich wiederum scheitern. Ist die deutsche Wohlstandsgesellschaft - oder zumindest die CDU - reformunfähig?
BIEDENKOPF: Das läßt sich erst am Ende der Debatte beantworten. Fest steht nur, daß die Rentenreform heute viel dringlicher ist als vor zwölf Jahren. Deshalb ist die Unterstützung in der CDU auch gewachsen.
SPIEGEL: Mit welchen Argumenten wollen Sie Ihre Parteifreunde überzeugen?
BIEDENKOPF: Erstens wachsen die heute 30- bis 40jährigen bereits in ein System hinein, das die alten Versprechen der Alterssicherung nicht einlösen wird. Zweitens wirkt die bisherige Sozialpolitik verheerend auf den Arbeitsmarkt. Mit den gegenwärtigen Lohnnebenkosten werden wir den Aufbau Ost nicht schaffen. Der dritte Grund ist Europa: In der Währungsunion wird es flexiblere Arbeitsmärkte geben. Dann mindern die hohen Lohnnebenkosten die Chance deutscher Arbeitnehmer ganz enorm.
SPIEGEL: Warum hat sich Ihr Rentenkonzept, das fast allen nur Vorteile verspricht und außerdem noch billiger sein soll, nicht schon längst durchgesetzt?
BIEDENKOPF: Wir haben es derzeit noch mit einem System zu tun, das lange Zeit außerordentlich erfolgreich war. Wer als Lediger 1930 seine Arbeit aufnahm und nach durchschnittlichem Verdienst 1975 in Rente ging, hat für jede eingezahlte Mark 2,06 Mark herausbekommen. Das entspricht einer Realverzinsung von 4,7 Prozent. Wer aber ab 1970 Beiträge gezahlt hat und im Jahre 2014 ausscheidet, bekommt für jede eingezahlte Rentenmark nur noch 98 Pfennig. Das widerspricht jeder ökonomischen Vernunft.
SPIEGEL: Seriöse Berechnungen, etwa vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, kommen zu einem ganz anderen Ergebnis, nämlich zu einer positiven Rendite.
BIEDENKOPF: Diese Rechnungen kenne ich nicht.
SPIEGEL: Noch haben aber auch Sie keine genauen Zahlen für Ihr Modell vorgelegt.
BIEDENKOPF: Wir haben schon viele Zahlen vorgelegt, das gesamte Rechenwerk wird folgen. Es ist unstrittig, daß die Renditen in der Rentenversicherung schlechter werden. Nach den neuen Vorschlägen von Blüm fallen die Leistungen aus der Rentenkasse im übrigen noch geringer aus, und die Beiträge sinken trotzdem nicht.
SPIEGEL: Seit Jahrzehnten prophezeien viele kluge Leute den Untergang des Rentensystems. Trotzdem funktioniert es immer noch.
BIEDENKOPF: Das beeindruckt mich nicht, weil die wichtigsten Voraussetzungen für das System entfallen: erstens eine normale Bevölkerungsstruktur mit ausreichend Nachkommen und zweitens ein klassischer Arbeitsmarkt. In Zukunft werden Rentner immer häufiger auf die Sozialhilfe zurückgreifen müssen. Wer lange arbeitslos war, wegen kleiner Kinder zu Hause geblieben ist oder immer nur Teilzeitjobs hatte, wird weniger Geld aus der gesetzlichen Rentenversicherung bekommen, als die Sozialhilfe zahlt.
SPIEGEL: Trotz aller dramatischen Prognosen sind heute weniger als zwei Prozent der Rentner Sozialhilfeempfänger.
BIEDENKOPF: Die Zahlen von Herrn Blüm halte ich für wenig seriös. Wir wissen sehr wenig über die wahre Altersarmut. Wenn heute eine Witwe eine Rente unter Sozialhilfeniveau bekommt und zum Sozialamt geht, muß sie damit rechnen, daß ihre Kinder zur Kasse gebeten werden. Davor schrecken viele alte Menschen zurück. Mit der Bürgerrente ginge es gerade den sozial Schwachen besser.
SPIEGEL: Liegt denn diese Rente soviel höher als die Sozialhilfe?
BIEDENKOPF: Für das Jahr 1997 würde sie immerhin 1540 Mark pro Monat betragen.
SPIEGEL: Nach Abzug der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung und der Zusatzlast durch höhere Konsumsteuern bleibt nicht viel mehr übrig als bei der Sozialhilfe.
BIEDENKOPF: Die Bürgerrente ist höher und gewährt ein menschenwürdiges Dasein.
SPIEGEL: Mehr Teilzeitjobs und mehr Arbeitslosigkeit wirken sich nicht nur auf die Rentenversicherung, sondern auch auf das Steueraufkommen aus, aus dem Ihre Grundrente finanziert wird. Warum sollte Ihr System mit dem Strukturwandel besser fertig werden?
BIEDENKOPF: Die Höhe der Bürgerrente hängt vom gesamten Volkseinkommen ab, nicht nur vom Einkommen aus unselbständiger Arbeit. Das Volkseinkommen umfaßt auch Erträge aus Kapitalvermögen oder selbständiger Arbeit. Sie nehmen zu, der Anteil der unselbständigen Arbeit am Volkseinkommen geht dagegen zurück.
SPIEGEL: Darüber läßt sich streiten. Die sogenannte Lohnquote, die genau diesen Anteil mißt, ist heute in Deutschland fast genauso hoch wie in den siebziger Jahren, nämlich 69,8 Prozent. Und in anderen Industrieländern wie der Schweiz und den USA ist diese Quote jahrelang gestiegen.
BIEDENKOPF: Die Situation in diesen Ländern ist nicht vergleichbar. Die Arbeitsplätze sind in den USA weniger kapitalintensiv, es gibt mehr Niedriglohnjobs. Ich rechne jedenfalls mit einer fallenden Quote. Allein die Tatsache, daß man über diesen Trend streiten kann, sollte uns zwingen, eine sichere Basis aller Berechnungen zu suchen. Und das ist das Volkseinkommen.
SPIEGEL: Aber auch Ihr Modell kommt in Schwierigkeiten, wenn wenig junge Menschen für viele Alte sorgen müssen.
BIEDENKOPF: Jetzt sind wir beim Kern des Problems - der Frage, was wir unter Solidarität verstehen. Lassen Sie mich das an einem Bild von Johann Peter Hebel deutlich machen, der Geschichte von dem Bauern mit drei Broten, den der Wanderer fragt: Wozu brauchst du drei Brote? Der Bauer sagt: Ich brauche ein Brot für meine Frau und mich, eins für meine Eltern, und ein Brot für meine Kinder. Wenn dieser Bauer eine schlechte Ernte einfährt, muß er kleine Brote backen - für sich, seine Eltern und seine Kinder. Und keiner wird sagen, das sei unsolidarisch.
SPIEGEL: Wo ist da der große Unterschied zum bestehenden System? Auch Norbert Blüm sagt den alten Menschen, daß ihre Renten kaum mehr steigen werden.
BIEDENKOPF: Norbert Blüm stützt die Last der Alterssicherung nur auf die Arbeit. Das entläßt alle Leute, die Vermögen bilden und sich selbständig machen, aus der Solidarität. Wenn wir dieses System behalten, wird die Zahl derer noch kräftig steigen, die sich selbständig machen, um aus der Rentenversicherung ganz aussteigen zu können.
SPIEGEL: Deswegen muß man ja nicht gleich das System wechseln.
BIEDENKOPF: Doch, um die Basis der Solidarität zu verbreitern. Es geht letztlich um eine viel tiefer gehende Frage: Wollen wir an der Illusion festhalten, daß die überwältigende Mehrheit der Bürger unfähig ist, für sich selbst zu sorgen? Müssen wir die Menschen in ein System der Vollversorgung zwängen, das immer weiter um sich greift? Ich jedenfalls bin strikt dagegen.
SPIEGEL: Die steuerfinanzierte Rente ist doch auch ein Zwangssystem.
BIEDENKOPF: Aber wir bezahlen dann im Ergebnis aus dem gesamten Volkseinkommen zehn Prozent für die alten Menschen. Das ist keine überwältigende Solidarleistung, finde ich. Und wir finanzieren nicht die Sicherung eines besonderen Lebensstandards - dafür soll und kann in Zukunft jeder selber sorgen.
SPIEGEL: Den Sozialpolitikern in ihrer eigenen Partei ist das offenkundig zu wenig.
BIEDENKOPF: Der Widerstand der Sozialpolitiker ist heute genauso stark wie vor drei, fünf oder zehn Jahren. Die wollen einfach das Risiko nicht eingehen, daß die Bevölkerung stärker als bisher Vorsorge treffen muß.
SPIEGEL: Sie behaupten, daß die Bundesregierung die heutige Rentnergeneration auf Kosten der Jüngeren fördert. Warum sollte eigentlich die Union diese treue und an Bedeutung von Jahr zu Jahr gewinnende Wählerklientel durch einen Kurswechsel verärgern?
BIEDENKOPF: Die Union wird keine Zukunft haben, wenn sie die unter 48jährigen verliert. Schon heute wird diese Gruppe benachteiligt, und immer mehr Betroffene merken das auch.
SPIEGEL: Herr Biedenkopf, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Grundrente für alle? Befürworter nach Alter und nach Einkommen
Versicherungsfremde Leistungen der Rentenversicherung 1995
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Grundrente für alle? Befürworter nach Alter und nach Einkommen
Versicherungsfremde Leistungen der Rentenversicherung 1995
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Das Gespräch führten die Redakteure Winfried Didzoleit,Martin Doerry und Elisabeth Niejahr.