China »Die Welt in Atem halten«
Lesen hat er nie gelernt. »Wozu auch, vor zehn Jahren war ich noch Reisbauer.« Schreiben kann er auch nicht, »das macht meine Sekretärin«. Doch er hat eine Vision: »ständig größere Märkte erobern und Konkurrenten niedermachen«. Das Handeln nach dieser Devise hat ihn reich gemacht.
Shan Guoxing, 63, ist Multimillionär in Wenzhou, Chinas Experimentierstadt in Sachen Marktwirtschaft. Vor zehn Jahren stellte der frühere Bauer eine Stanzmaschine für Uhrenarmbänder, erworben mit einem Bankkredit, in seinen Hof. Jetzt malochen dort 60 Jungarbeiter zehn Stunden täglich.
Mit einem Vermögen von 10 Millionen Yuan, nach Schwarzmarktkurs 1,5 Millionen Mark, kann es sich Shan leisten, in einem sechsstöckigen Privathaus voll Kitsch und Prunk im Stadtzentrum zu residieren.
Unternehmer wie Shan, bauernschlau und von der Gier nach Reichtum getrieben, verkörpern die neue aufstrebende Klasse Chinas, die in einer sanften Wirtschaftsrevolution allmählich die Partei verdrängt.
Vorbei sind die Kraftakte der Volkskommunen, verhallt die Gewaltrufe der Kulturrevolution: 1,17 Milliarden Chinesen, ein Fünftel der Menschheit, haben zu einem neuen Großen Sprung nach vorn angesetzt. Das Ziel ist der allgemeine Wohlstand, ein goldenes Zeitalter für China, das ein halbes Jahrtausend daniederlag - und der Aufstieg zu Asiens neuer Großmacht.
Das Erwachen des Riesen könnte nach Ansicht der führenden außenpolitischen US-Zeitschrift Foreign Affairs der »wichtigste Trend« in der Weltgeschichte des nächsten Jahrhunderts sein. Setzen sich die gegenwärtigen Wachstumsraten fort, wäre die chinesische Volkswirtschaft schon in wenigen Jahrzehnten die größte der Erde.
Wird nach dem 19. Jahrhundert, dem europäischen, und dem 20., dem amerikanischen, nun das 21. Jahrhundert nicht nur zum Säkulum der Japaner, sondern überhaupt der Asiaten - vor allem aber zur Ära der Chinesen?
»Wenn in hundert Jahren die Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben wird«, mahnte unlängst Lawrence H. Summers, früherer Chefökonom der Weltbank, »dann wird sich zeigen, daß die revolutionären Ereignisse, die dieser Tage China verändern, der gesamten Welt ein neues Gesicht gegeben haben.«
Und auch der frühere Ministerpräsident von Singapur, Lee Kuan Yew, selbst ein Chinese, prophezeit eine tektonische Verschiebung der globalen Machtbalance: »Wir erleben nicht nur einfach das Auftauchen eines neuen Mitspielers. Dies ist der größte Mitspieler in der Geschichte der Menschheit.«
Gleich zwei westliche Staatsmänner erweisen dieser Tage den Pekinger Herrschern ihre Reverenz: US-Präsident Bill Clinton trifft sich in Seattle am Pazifik mit Staats- und Parteichef Jiang Zemin zum ersten amerikanischchinesischen Gipfel seiner Amtszeit. Und der deutsche Kanzler Helmut Kohl hofft auf gefüllte Auftragskörbe für die rezessionsgeschwächte deutsche Wirtschaft, wenn er diese Woche Peking, Schanghai und Kanton besucht.
Die systematische Verletzung der Menschenrechte, für die Pekings Machthaber nach dem Tiananmen-Massaker 1989 mit diplomatischer Ächtung bestraft worden waren, scheint verziehen. Wichtiger sind gute Geschäfte.
Die kann China bieten. Für 1992 meldeten seine Unternehmer einen unerhörten Durchbruch: Das Sozialprodukt war um 12,8 Prozent gewachsen, die Industrieproduktion sogar um 21 Prozent - ein Weltrekord.
Das ist erst der Anfang. Zehnmal so viele Menschen wie in Japan - anders als Nippon mit allen nötigen Rohstoffen gesegnet und an einen Bruchteil der japanischen Löhne gewöhnt - sind in ihrem langen Marsch nach vorn zum Spurt übergewechselt.
Befreit von den Fesseln der staatskapitalistischen Vormundschaft, verwandelt sich die einst totalitär gelenkte Masse in ein Heer von Unternehmern, Händlern und Konsumenten. »Von 1,1 Milliarden Chinesen«, so die Wirtschaftszeitung Jingji Ribao, »machen 900 Millionen Geschäfte.«
Sie investieren ihren hergebrachten Fleiß, ihre in Jahrtausenden erlernte Disziplin und ihre Arbeitswut in den Drang nach Reichtum. Millionen junger Bauern flüchten in der Hoffnung auf Zugewinn in die Städte, wo sich die Straßen in Märkte verwandelt haben, Polit-Spruchbänder in Neon-Reklamen und Parteibonzen in Pfeffersäcke.
»Xiahai«, sich in die Wogen - des Geschäftslebens - stürzen, lautet die neue Losung. Lehrer betreiben nebenher Garküchen, Schüler spekulieren mit Wertpapieren. Unterhaltungsserien aus Hongkong und Taiwan bestimmen das Fernsehprogramm, und natürlich der »Denver-Clan« aus den USA, gedacht als Sozialkritik und genutzt als Anleitung zum Handeln.
Gesellschaftliches Leitbild ist längst nicht mehr der brave Soldat Lei Feng, der sein Leben für andere opferte; die vom Götzen Mao ausgegebene Parole der Genügsamkeit ist überholt. Jetzt eifert jedermann den cleveren Yuppies im Seidenanzug nach, die mit tragbarem Telefon und deutscher Limousine dem Mammon nachjagen.
Das einfache Volk aber, das kaum noch die blaue Arbeitskluft trägt, übt die gewohnte Bereitschaft zum temporären Konsumverzicht - in der gesteigerten Hoffnung auf zukünftiges Glück.
Jeweils zwei der schlechtbezahlten Arbeiter des Unternehmers Shan in Wenzhou müssen sich in frühkapitalistischer Manier ein schmuddeliges Bett teilen. »Ideale? Was ist denn das?« fragt schnippisch der jüngste Sohn des Fabrikdirektors Shan, wenn es um das unsozialistische Geschäftsgebaren der Familie geht. »Wir wollen möglichst schnell soviel konsumieren können wie ihr auch - reich werden und genießen.« Sein weiteres Trachten, frei nach den Losungen des Reformarchitekten Deng Xiaoping: »China soll so stark wie der Westen werden.«
Das ist keine Illusion. Die Regierung suchte zu Jahresanfang die überhitzte Konjunktur zu bremsen, ohne Erfolg: Bis September stieg der Produktionswert um 13,3 Prozent, die Industrieproduktion sogar um 24 Prozent. Das Einkommen der Städter wuchs um 27 Prozent.
Solche Erfolge machte nur die Privatwirtschaft möglich, die schon etwa die Hälfte der Produktion erbringt: In der ländlichen Industrie stieg der Ausstoß im ersten Quartal 1993 um 77 Prozent, in Firmen mit ausländischer Beteiligung (Joint-ventures) um 63 Prozent, in genossenschaftlichen Betrieben um 42 Prozent. Derweil bilanzierten die Staatsbetriebe trotz Anstiegs der Investitionen um zwei Drittel nur ein Wachstum von 8,7 Prozent.
In Wenzhou, 400 Kilometer südlich von Schanghai, gibt es fast keine Staatsbetriebe mehr. Die Sechs-Millionen-Stadt durfte zehn Jahre lang mit Marktwirtschaft und Aktienbesitz experimentieren: Reform ohne Tabus.
Heute tuckern Privatwagen zu Tausenden vorbei an halbfertigen Hochhäusern und Baustellen, auf denen Tag und Nacht gearbeitet wird. Für chinesische Wirtschaftswissenschaftler gilt das verdreckte Wenzhou mit seinen pechschwarz schimmernden Wasserstraßen als Test für eine neue Gesellschaftsordnung: den Sozialismus mit kapitalistischem Antlitz.
Aus den Laboratorien der Sonderwirtschafts- und Entwicklungszonen ist der neue Geist längst entwichen, um sich im gesamten chinesischen Reich auszubreiten. Das Wirtschaftswundergebiet Shenzhen gleicht bereits dem benachbarten Hongkong, das in vier Jahren der Volksrepublik zufällt - und dann eher China seine Produktionsweise beibringen dürfte als umgekehrt.
Die Shandong-Halbinsel, einstmals deutsche Kolonie, tritt mit dem gegenüberliegenden Südkorea in Konkurrenz. Schanghai will wieder Finanzmetropole des Fernen Ostens werden. US-Fonds dürfen demnächst an den Börsen von Schanghai und Shenzhen investieren; Londoner China-Fonds erleben Wertsteigerungen von 70 Prozent im Jahr. Da hat auch die Deutsche Bank einen »Mandarin-Fonds« aufgelegt. Beabsichtigte Auslandsinvestitionen in China werden sich dieses Jahr voraussichtlich gegenüber 1992 verdoppeln, auf 100 Milliarden Dollar.
Eine Produzentenstreitmacht wächst heran, die den Westen bald überrennen könnte - die Nachbarn Chinas haben die Gefahr als erste wahrgenommen. Dort wächst die Furcht vor einer neuen Supermacht: dem roten kapitalistischen China.
Daß die Atommacht China, die in ihren Randgebieten Sinkiang und Mandschurei über fast alle nötigen Rohstoffe verfügt, ein hilfloses Entwicklungsland sei, gehört zu den Legenden, die Pekings Machthaber aus Eigennutz bis heute gern pflegen: Die Mär trug ihnen Präferenzen bei den internationalen Finanzinstitutionen und jüngst noch 241 Millionen Mark Entwicklungshilfe aus Bonn ein.
Voriges Jahr aber schaffte die Volksrepublik nach einer neuen Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) ein Sozialprodukt von 1,7 Billionen Dollar, einiges mehr als das vereinigte Deutschland (1,3 Billionen Dollar). Das hat der IWF festgestellt, nachdem er sich entschloß, seiner Berechnung nicht die offiziellen Wechselkurse, sondern die Kaufkraftparitäten zugrunde zu legen.
Damit rückt China in der Weltrangliste hinter den USA und Japan auf Platz drei vor, gefolgt von den Deutschen. Mit den kapitalistischen Instinkten seiner Bewohner, weitgehender Gewerbefreiheit und staatlicher Industriepolitik könnte es dem Land gelingen, auch die noch vor ihm liegenden Konkurrenten zu überrunden.
Chinas extremer Vorteil - minimale Lohnkosten - vermag die Strukturen aller Industriestaaten zu erschüttern. Eine reale Wachstumsrate von acht Prozent pro Jahr - wovon der Westen nur noch träumen kann - würde Chinas Sozialprodukt binnen 20 Jahren versechsfachen.
Verwirklicht sich mithin die Prophezeiung Napoleons, wenn China erwache, »erzittert die Welt«?
Für Experten wie den US-Professor Summers steht jedenfalls fest: China wird zur Wirtschaftssupermacht. Die passende Gesinnung ist schon da: Grundstücksspekulationen, Aktienkurse und der Preis von Markengarderobe interessieren die jahrzehntelang auf Grundbedürfnisse gestutzten Chinesen mehr als die Frage, was in ihrem seit April 1993 in der Verfassung verankerten Marktsystem der Zusatz »sozialistisch« noch bedeutet.
»Wer behauptet, in China regiere der Sozialismus«, sagt Burton Levin, Direktor der Hongkonger Asia Society und früherer US-Botschafter in Burma, »der redet Unsinn. Es ist der blanke Kapitalismus.«
Ideologische Schranken gibt es nicht mehr, die Bosse in Wenzhou oder in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen denken genauso wie die in Taipeh oder Hongkong. Es geht nur um den Profit.
So wollte es der Altkommunist Deng Xiaoping, dem schon zu Mao-Zeiten egal war, ob eine Katze schwarz oder weiß ist - »Hauptsache, sie fängt Mäuse«, was hieß: Entscheidend ist wirtschaftliches Wachstum. Das sichert die Macht der Kommunistischen Partei ab und hält das Riesenreich ruhig.
Früher hatte diese Partei das Land geeinigt, eine Schwerindustrie und die Anfänge eines Bildungssystems für die Massen aufgebaut, aber die Energien des Volkes gefesselt. Der »Große Sprung nach vorn« in den fünfziger Jahren und die Kulturrevolution des wirren Mao von 1966 bis 1976 kosteten China 207 Milliarden Mark, soviel wie die Summe aller Industrieinvestitionen in den ersten 30 Jahren der Volksrepublik. »Wir stehen vor dem Abgrund«, konstatierte nach Maos Tod das Politbüromitglied Li Xiannian.
300 Millionen Chinesen lebten damals nach offiziellen Angaben in »absoluter Armut« - sie vegetierten zwischen Unterernährung und Hungertod.
Der Aderlaß war ungeheuer. Maos Volkskommunen-Experiment von 1958 hatte 18,8 Millionen Menschen das Leben gekostet. 10 Millionen fielen der Kulturrevolution zum Opfer. Ungezählte Millionen starben in Arbeitslagern.
Als der Große Steuermann abgetreten und der Pragmatiker Deng in die Führung zurückgekehrt war, nahmen sich 1978 die Bauern ihr verstaatlichtes Land wieder. Deng erlaubte ihnen die »Eigenverantwortlichkeit« bei der Bebauung des Bodens sowie die Pacht auf Lebenszeit.
Das Ergebnis war ein wirtschaftliches Weltwunder - Lebensmittel in Fülle. Heute ernährt China auf sieben Prozent der weltweiten Ackerfläche 21 Prozent der Erdbevölkerung.
Deng, der Wundertäter, verordnete der siechen Volksrepublik 1978 zugleich »Wirtschaftsreform und Westöffnung«. Die sozialistischen Katzen sollten Mäuse fangen.
Seiner Idee haben im Pekinger Vorort Fengtai findige Unternehmer schon ein Denkmal gesetzt: Anstatt Wohlstand verheißende Steinlöwen, wie in China üblich, stehen nun zwei Katzen vor dem Fabriktor.
Die Privatisierung der Landwirtschaft setzte Energien und unterbeschäftigte Erwerbstätige frei. Die widmeten sich nun Handwerk und Kleinhandel - Chinas Bürger werden von der ländlichen Industrie heute mit allen Gütern des täglichen Bedarfs versorgt. Kräftige Ersparnisse der Produzenten und Zuwendungen von der Verwandtschaft im Ausland erlaubten eine private Kapitalbildung, die Manufakturen und Industriebetrieben zugute kam.
Heute produzieren private und genossenschaftliche Betriebe mehr als die Hälfte aller Güter des Landes. Nur noch von den Schlüsselindustrien bleiben sie ausgeschlossen.
Dengs Vorbild für den Marsch in die Zukunft war das Modell der Schwellenländer Taiwan, Südkorea und Singapur: Politische Unterdrückung bei gleichzeitigem Laisser-faire in der Wirtschaft.
Zum Schlüsselerlebnis wurde der Massenprotest auf dem Tiananmen-Platz vor vier Jahren. Aus dem Massaker bei der Niederschlagung der Revolte vom 4. Juni 1989 und aus dem Zusammenbruch des Ostblocks zogen die Parteiherren die Lehre: Überleben können wir nur, wenn das Land reich wird.
Dengs Auftrag an die Genossen ("Vom Kapitalismus lernen") wurde im Frühjahr 1992 als Geheimdokument Nr. 2 Handlungsmaxime für das ganze Land (SPIEGEL 14/1992). Fortan durfte mit Immobilien spekuliert werden, Staatsunternehmen konnten an den Börsen in Schanghai und Shenzhen handeln, ausländisches Kapital floß in großem Stil herein.
Vor allem die 82 Millionen Auslandschinesen beteiligen sich finanziell am Aufstieg der alten Heimat, vorneweg die Experten aus dem kleinen Musterstaat Taiwan. Die Insel hat nach einer Bodenreform, mit der Marktwirtschaft und unter einer Einheitspartei einen grandiosen Aufstieg vollbracht und den zweitgrößten Devisenschatz aller Handelsnationen gehortet.
War dem Patrioten Deng das Wohlergehen seines Landes wichtiger als der Kommunismus? Fürchtete er, China könne das gleiche Schicksal wie die mächtige Sowjetunion erleiden? Oder ersann er doch nur eine paradoxe Überlebensstrategie für seine Kommunistische Partei?
Heute essen Chinas Bürger zweieinhalbmal mehr Schweinefleisch als 1978. Stand damals, statistisch gesehen, noch nicht mal in einem Prozent der städtischen Haushalte ein Farbfernsehgerät, so liegt die Vergleichszahl heute bei 70 Prozent.
Nach Schätzungen der Weltbank wird die volkschinesische Wirtschaft im Jahre 2002 achtmal größer sein als im Wendejahr 1978. Wie werden es Ostasien und die Welt verkraften, wenn China ins nächste Jahrtausend galoppiert?
Die New York Times meint aus amerikanischer Sicht: »Es wird ein bißchen wie der Aufstieg Japans sein, mit dem Unterschied, daß China Atomwaffen besitzt und seine Bevölkerung zehnmal größer ist.« Präsident Clintons Außenminister Warren Christopher stimmte die europäischen Verbündeten schon auf eine veränderte Rangliste ein: »Westeuropa ist nicht mehr die dominierende Region der Welt«, warnte er vor »eurozentrischem« Hochmut. Für die US-Außenpolitik sei der aufstrebende Wirtschaftsraum Ostasien wichtiger.
Die Weltbank sekundiert: »Selbst wenn der Boom nur mit der halben Geschwindigkeit der letzten Jahre fortschreitet, ist China noch vor dem Jahre 2020 die führende Wirtschaftsmacht der Erde« - demnach schon in der nächsten Generation. 30 Jahre mehr errechnet ein Nobelpreisträger taiwan-chinesischen Ursprungs, der Physiker Yang Chen Ning aus den USA: »Nach fünf Jahrhunderten Selbstisolation wird China im Jahre 2050 wieder Weltspitze in Technik und Wissenschaft sein.«
Dabei hilft den Chinesen die konfuzianische Tugend des Bildungshungers. Von 420 000 ausländischen Studenten in den USA kommen 50 Prozent aus Asien; China führt die Liste mit etwa 43 000 an, gefolgt von Taiwan auf Platz drei und Hongkong auf Platz sieben. Die drei chinesischen Staaten plus Singapur entsenden 95 000 Lernbegierige an Eliteschulen wie Harvard und Yale. Die Europäer bringen es gerade mal auf 20 000.
Schon jetzt hat das Land, das sich selbst Reich der Mitte nennt, auf der Liste der Welthandelsnationen den elften Platz (hinter Hongkong) erklommen. Taiwan und Hongkong mitgerechnet, rangiert dieses Großchina bereits auf Platz vier hinter den USA, Deutschland und Japan. Als Textilproduzent steht die Volksrepublik an erster Stelle.
»Ein Tiger ist aufgewacht«, triumphiert die Hongkonger Zeitung Wen Wei Po. »Es steht zu befürchten, daß es ein ganzes Rudel wild gewordener aggressiver Tiger ist«, sagt Bo Yang, Autor des Buchs »Häßliche Chinesen": »Sie werden die Welt in Atem halten, keinem Gesetz und keiner Regel folgen.« Seine Warnung: »Nehmt euch bloß in acht. Solch einen rücksichtslosen Machtkampf habt ihr noch nicht erlebt.«
Schon kontrollieren Chinesen die Volkswirtschaft fast ganz Südostasiens. Auf den Philippinen beherrschen Auslandschinesen 67 der 100 größten Firmen; in Thailand sind es gar 90 Prozent, in Indonesien drei Viertel des privaten Sektors.
Wenn Hongkong 1997 nach 146 Jahren britischer Herrschaft ins Mutterland heimkehrt, erbt die Regierung in Peking nicht nur den weltgrößten Containerhafen, sondern einen der bedeutendsten Finanzplätze der Welt.
Ein Anschluß Taiwans gar würde Festland-China auf einen Streich das noch fehlende Know-how moderner Technologie und weltweiter Handelsbeziehungen bescheren. Die einst feindlichen Brüder, die beide den Alleinvertretungsanspruch für ganz China aufrechterhalten, nähern sich einander an. Erstmals seit dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs im Jahre 1949 trafen sich Vertreter Taiwans und Festland-Chinas unlängst in Singapur zu halboffiziellen Gesprächen.
Noch weigert sich Taiwans Präsident Li Teng-hui, über Wiedervereinigung zu verhandeln. Doch für Geschäftsleute ist sie schon längst Realität geworden. »Gesamtchina ist auf dem Vormarsch«, sagt Yu Tschung-hsien, der Präsident des staatlichen Wirtschaftsforschungsinstituts Tschunghua in Taipeh.
In der volkschinesischen Sonderwirtschaftszone Shenzhen bei Hongkong soll bald mit einem Grundkapital von zwei Milliarden Yuan (etwa 400 Millionen Mark) eine halbstaatliche Stiftung gegründet werden, die eine baldige Wiedervereinigung vorbereiten soll. Selbst Pekinger Dissidenten wurden gefragt, ob sie mitwirken möchten.
»Deng Xiaoping will nichts unversucht lassen, als der Politiker in die Geschichte einzugehen, der China wieder vereinigte«, berichtet einer der Organisatoren. Der KP-Patriarch erwägt derzeit, ob er Taiwan mit einer »chinesischen Konföderation« ködern kann - mit mehr Zugeständnissen als im Hongkong-Modell »Ein Land, zwei Systeme.« Die Kronkolonie darf 50 Jahre lang ihre staatliche Ordnung behalten.
Taiwans größter Lebensmittelkonzern »President Food« hat die Wiedervereinigung schon vorweggenommen. Über Niederlassungen in den USA und Hongkong gründete der Gemischtwarenkonzern 1992 sechs Fabriken zwischen Peking und Kanton. Die Kuomintang-Regierung ("Keine Kontakte, keine Verhandlungen, kein Kompromiß") erlaubt keine Direktinvestitionen beim Feind.
Doch was heißt das schon für einen Multi? »Kein Markt ist größer auf der Welt«, begeistert sich Konzernchef Kao Tsching-yüan. »Sie sprechen unsere Sprache. Wir machen das Geschäft.« Sein Zimmer schmückt ein Tuschgemälde mit den Schluchten des Jangtse. »China ist unsere Heimat«, sagt der geborene Taiwaner.
Für Taiwan und Hongkong hat der Boom in Chinas Küstenregionen einen Markt der Zukunft geschaffen, gespeist vom Strom der Armen aus den Inlandsprovinzen, der sich an die Küste ergießt. Mehrere hundert Millionen Billigarbeitskräfte sehnen sich, für Löhne unter 40 Mark im Monat ihr karges Dasein zu verbessern. Noch immer hat eine Minderheit der Chinesen, 80 Millionen nach offiziellen Angaben (die Uno schätzt gar doppelt so viele), nicht genug zu essen. »Ein besseres Druckmittel, um die Löhne niedrig zu halten«, so ein Hongkonger Banker, »gibt es nirgendwo auf der Welt.«
Alle wollen besser leben, »die zweite Konsumrevolution hat China überrollt«, frohlockte Chinas erste Boulevardzeitung Xinmin Wanbao. »In den siebziger Jahren waren die Armbanduhr, das Fahrrad und die Nähmaschine das Ziel. Jetzt sind Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine die drei neuen Statussymbole. Und am Ende des 20. Jahrhunderts werden es Auto, Wohnung plus Videokamera sein.«
Als der amerikanische Sportschuh-Hersteller Nike vergangenes Jahr im Gedränge der Schanghaier Shopping-Meile Nanjing-Straße eine Dependance eröffnete, waren innerhalb von drei Stunden Waren im Wert von 10 000 Mark verkauft.
Schanghai, das frühere »Paris des Ostens«, haben sich Chinas Gerontokraten zum Zentrum der neuen Wohlstandszone Ostasiens erkoren. Eine Börse gibt es schon. Ein Shanghai Pacific Technology Venture Fund mit amerikanischen Partnern will in Firmen für Computersoftware, Telekommunikation, Kabelfernsehen und Pharmaproduktion investieren.
Auf der Halbinsel Pudong, gegenüber den Kolonialbauten der Uferpromenade »Bund«, sollen sich in drei Jahren 105 Wolkenkratzer 30 Stockwerke hoch in den Smoghimmel recken: Chinas Wall Street aus Marmor, Glas und Chrom. Die Regierung hat als Chefplaner für das Projekt den britischen Topbaumeister Richard Rogers beauftragt. Doch befallen den Meister zuweilen Zweifel: »In China wird etwas zu chaotisch und zu schnell geplant.«
Der deutsche Architekt Norbert Schwarzer hält Chinas explodierenden Bausektor für ein Spiegelbild der gesamten Wirtschaftsentwicklung. »Es wird zu schnell hochgezogen, aber ohne Fachwissen, Kreativität und Kooperation. Außen hui, innen pfui.«
Die Entwicklung der Infrastruktur kann nicht mithalten. Beim Hongkonger Kaufhauskonzern Sincere ist deshalb der erste Rausch verflogen: »Nur dreimal die Woche gibt es Strom für Heizung und Klimaanlage«, sagt die Personalchefin Doretha Du in der Schanghaier Konsumpagode. »Das Wasser fehlt tagelang. Monate nach der Eröffnung funktioniert der Fahrstuhl noch nicht.«
Da zeigt sich die Kehrseite des Wirtschaftsaufschwungs: Energie und Verkehrswesen folgen dem Boom nicht. In vielen Industriezentren ist aus Strommangel die Kapazität nur zur Hälfte ausgelastet; lediglich zwei Drittel der Kohle, noch immer Hauptenergielieferant, gelangen pünktlich zum Empfänger. Mehr Transporte verkraftet das desolate Eisenbahnnetz nicht. »China hat einen schlechteren Energienutzungsgrad als Indien in den sechziger Jahren«, gab das Ministerium für Ressourcen zu.
Ein zweites schwerwiegendes Handikap ist die Bereicherungslust der Bürokraten. Die Umfrage eines Hongkonger Wirtschaftsberatungsbüros unter Bankern und Geschäftsleuten ergab, daß China mittlerweile hinter Indonesien als das korrupteste Land Asiens gilt. »Fünf bis zehn Prozent Abschlagszahlungen auf ein Hongkonger Privatkonto sind bei jedem Geschäftsabschluß üblich«, berichtet ein deutscher Bankier in der britischen Kronkolonie. »Längst agiert die KP wie die Mafia in Italien.«
Für die Zulassung eines »Dageda«, eines tragbaren Telefons, müssen in der Sonderwirtschaftszone Hainan derzeit mehr als 8000 Mark an die Behörden entrichtet werden. Für eine Kfz-Zulassung zahlen Einheimische knapp 16 000 Mark. Die Erschließungsgesellschaften, die in Schanghai Grundstücke zum Sonderpreis erhalten, um sie später mit Riesenprofiten zu verkaufen, werden allesamt von ehemaligen KP-Kommissaren geleitet. »Ein guter Beamter nimmt unser Bestechungsgeld und tut etwas dafür«, sagt ein Geschäftsmann. »Ein schlechter nimmt's und tut nichts.«
Über 55 Millionen Funktionäre beschäftigt Chinas KP im Staatsdienst. Ein Drittel soll binnen fünf Jahren umgesetzt werden - eintauchen in den Strom der Ökonomie, Xiahai. Die Kader müssen schwimmen lernen. »Mitunter kann man dabei auch ertrinken«, warnte das KP-Organ Volkszeitung.
»Gebt uns unser Geld zurück!« riefen Hunderte Betrogener vor dem Pekinger Sitz der Maschinen- und Elektronikfirma »Große Mauer«, die eine Milliarde Yuan veruntreut hatte. Ein Teil davon war 130 höheren und 2000 mittleren Staatsfunktionären als Bestechung zugeflossen. Beamte in Chuzhou (420 000 Einwohner) lenkten öffentliche Mittel im Wert von 8,5 Millionen Dollar in die eigenen Taschen, vornehmlich für eine teure Ausbildung ihrer Kinder.
»Xiahai« (ins Meer springen): Der Begriff bezeichnete im alten China auch ein schönes junges Mädchen, das sich der Prostitution ergab. Die dritte Bürde des Übergangs vom Staats- zum Privatkapitalismus ist der Verfall der Sitten. Nachts stehen junge Mädchen an den Fernstraßen und, so die chinesische Umschreibung, »verkaufen ihren Frühling«. In den Business-Hotels des Südens sind die süßen Stimmen, die ihren Liebesdienst per Telefon anbieten, zur Plage geworden.
Der Präsident des Obersten Gerichts meldete als Folgen der Reform »Diebstahl, Handel mit Frauen und Kindern, Zuhälterei, Räuber, die Eisenbahnlinien und Straßen terrorisieren«. Marodeure überfallen regelmäßig Nachtzüge in den Provinzen. 50 Kilometer nordwestlich von Peking, auf der Landstraße in die Mongolei, versperren häufig quergestellte Lastwagen bei Dunkelheit die Weiterfahrt, Banditen rauben die Autofahrer aus.
»In der Kulturrevolution hat die KP Millionen Kinder zu Mördern gemacht«, meditiert der Autor Bo Yang, der in Taiwan zehn Jahre im Gefängnis saß. »Jetzt macht sie die armen Hunde zu Wölfen im aggressivsten Kapitalismus der Welt.«
Und da die Regierung auf ihre Art am Beutezug teilnimmt, befällt eine vierte Plage Volkswirtschaft und Volk: die Inflation. Die überhitzte Wirtschaft hat die Lebenshaltungskosten in den großen Städten in diesem Jahr um mehr als 20 Prozent steigen lassen, in Shenzhen gar um 35 Prozent. Mit 50 Milliarden Yuan (10 Milliarden Mark) subventioniert der Staat seine Großbetriebe. Die meisten schreiben rote Zahlen, müßten geschlossen werden und viele Millionen Arbeiter auf die Straße setzen. 10 Millionen Werktätige sind heute in den großen Kombinaten überflüssig.
Im Bergwerk Jixi in der Mandschurei wurde den 240 000 Arbeitnehmern 10 Monate kein Lohn gezahlt. Immer wieder verprügeln Arbeiter ihre Chefs, die Polizei muß eingreifen.
Auch Chinas Bankensystem ist für den Marsch in den Kapitalismus noch nicht gerüstet. Geldanweisungen per Computer sind selten möglich. Unsummen verschwinden auf Privatkonten im Ausland. Noch werden ausländische Geldinstitute nur zögerlich ins Land gelassen.
Außerdem ist kein Privateigentum an Baugrund möglich - eines der letzten sozialistischen Tabus. Nutzungsrechte gelten nur auf 70 Jahre.
Da reiche Südprovinzen nur noch unwillig Steuern an die Zentrale entrichten, droht dort der finanzielle Kollaps. Seit fünf Jahren bezahlt die Regierung die Reisernten nur selten mit Bargeld, sondern meistens mit Schuldscheinen, die - trotz Wertverlusts - kaum eingelöst werden können. Das Realeinkommen der Bauern sinkt, während sich die Düngerpreise verdoppelten. Lokalbehörden verordnen willkürlich Steuern und Gebühren - 37 verschiedene Abgaben hat die Regierung im Sommer gestrichen.
In 9 Provinzen brachen an die hundert Aufstände aus; in 15 Landkreisen versuchten die Bauern, die Verwaltung zu stürmen. Im Januar 1993 etwa blockierten 10 000 Landleute die Behörden im Kreis Renshou: Sie wehrten sich gegen Anliegerbeiträge für eine Autobahn. Anfang Juni sperrten Demonstranten zehn Stunden lang eine Landstraße, steckten fünf Autos in Brand und befreiten einen Inhaftierten.
Bauernrevolten gelten in China traditionell als Signal, daß das Mandat eines Regimes abgelaufen ist. Es war die Wachstumskrise des Jahres 1988 mit 30 Prozent Inflation und Panikkäufen, die in den demokratischen Aufruhr vom Frühjahr 1989 umschlug.
»Ich will nicht sagen, daß es demnächst einen neuen Tiananmen-Zwischenfall gibt«, meint Taiwans Ökonomiepapst Hsüeh Tschi, »doch die gesellschaftliche Krise ist unvermeidbar.«
Sie wird um so wuchtiger ausbrechen, je länger der Wandel des politischen Überbaus verzögert wird. Bisher hat sich die Dynamik der Wirtschaft nicht in der Partei fortgesetzt. Von der politischen Klasse, einer verfilzten und arroganten Führungsschicht, ist keine politische Innovation zu erwarten. Sie fürchtet den Verlust von Macht und Privilegien. Noch immer behandelt die Staatspartei ihre Untertanen wie Unmündige.
Tausende politische Gefangene stecken im Gefängnis. Es wird gefoltert, Gerichtsurteile stehen vor der Verhandlung fest. Amnesty International hat im vorigen Jahr 1079 Hinrichtungen gezählt, die Leichname werden oft für Organspenden benutzt.
Das Unterfangen, wirtschaftliche Freiheit ohne politische Reform zu erreichen, hat für das System schwer beherrschbare Kräfte geweckt - eine neue Schicht aufgeklärter, selbstbewußter Unternehmer, die mehr von der Welt und der Wirklichkeit wissen als die Fossilien des Parteiapparats.
Sie empfangen über Satellitenantennen Fernsehprogramme von BBC-Asia und CNN, obwohl das verboten ist. Aus Übersee zurückgekehrte Studenten haben sich die Standards des Westens zu eigen gemacht. Die Chinesen, die den wirtschaftlichen Sprung bewirken, verfügen über Auto, Mobiltelefon, Fax und eigene Firma - aber über keine Wählerstimme. Sie fordern Mitentscheidung in den öffentlichen Angelegenheiten.
»Das Streben nach Reichtum ist ein gesunder Trend«, meint Wang Dan, ein Sprecher der Demokratiebewegung von 1989. »Es wird unvermeidlich eine demokratische Politik forcieren. Die Flut der Marktwirtschaft hat die politische Kontrolle überschwemmt.«
Die Genossen in der Führung fürchten, daß nach dem Tod des Patriarchen Deng alle Dämme brechen könnten. Hektisch versuchen sie, den Übergang zur Marktwirtschaft in geordnete Bahnen zu lenken.
Am Mittwoch voriger Woche versammelte sich das Zentralkomitee der Partei zu einer Plenarsitzung - womöglich der letzten unter dem alten Deng -, um ein ganzes Paket von Reformbeschlüssen zu verabschieden. Die Maßnahmen sollen die schwindende Macht Pekings über die Provinzen und die makro-ökonomische Politik wieder stärken, ohne Dengs Parole zu gefährden: »Nur schnelles Wachstum ist Sozialismus.«
Ob die Gratwanderung gelingt, ist fraglich. »Erst wenn Deng stirbt, wird über die Zukunft der Reform entschieden«, meint der prominente Dissident Zhou Duo. »Es wird zu einem heftigen Machtkampf in der KP kommen.« In solchen Situationen hat in der Vergangenheit stets eine Fraktion die Volksmassen zur Demonstration auf die Straße geschickt.
Die Pekinger Zeitung Chinesische Jugend wagte es in dieser Zeit des Umbruchs, Chinas Zukunft zu deuten: Streiks und Unruhen von nationalem Ausmaß seien »sehr wahrscheinlich«. Es gelte, kühlen Kopf zu behalten und die absolute Macht des Parteiführers durch einen Rechtsstaat zu ersetzen - durch Demokratie. Und zwar binnen zehn Jahren.
Vielleicht geht es auch schneller. Machthaber Deng wird in kaum 10 Monaten 90 Jahre alt. Y
Eine Streitmacht, die den Westen bald überrennen könnte
Die sozialistischen Katzen sollen Mäuse fangen
Überleben kann die Partei nur, wenn das Land reich wird
»Im Jahr 2050 Weltspitze in Technik und Wissenschaft«
»Die KP agiert wie die Mafia in Italien«
In neun Provinzen brachen Aufstände der Bauern aus
»Streben nach Reichtum forciert eine demokratische Politik«
[Grafiktext]
_179_ China: Reale Zuwächse des Bruttosozialproduktes
_182_ China auf dem Weltmarkt: Exportzuwächse in Prozent
_190_ Direktinvestitionen in China 1992
[GrafiktextEnde]