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»DIE WIEDERVEREINIGUNG LIEGT IN DER LUFT«

Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 46/1966

»Der alte Stalin-Plan von 1952 ist 1966 vielleicht gar nicht so schlecht.« »Bild« am 15. Oktober 1966

Meinem Vaterland« widmet Konrad Adenauer den zweiten Teil seiner Erinnerungen, die nun bis zu seinem Besuch in Moskau reichen. Ohne sich Irgendeiner Übertreibung schuldig zu machen, kann man sagen, daß dies der wichtigste Memoirenband ist, der in Deutschland seit Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen« erschienen ist.

Adenauer hat sich selbst und uns einen enormen Dienst getan, indem er als 90jähriger die beträchtliche Mühe des Niederschreibens auf sich nahm. Aus der kunstlosen, fast niemals eitlen Diktion tritt er als ein Staatsmann hervor, der zäher Konsequenz, großzügiger Betrachtungsweise und instinktsicherer Taktik fähig ist, als ein geborener Führer (wie etwa in den Verhandlungen mit Israel über die Wiedergutmachung und mit Mendès-France über die Saar).

Gleichzeitig enthüllt er sich aber als ein Politiker, dem die gedankliche Kraft des Analysierens nahezu völlig abgeht, der keinen Zugang zu den gesellschaftlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts hat und der in seiner Außenpolitik nicht den Realitäten staatlicher Gebilde und der menschlichen Natur, sondern einer aus bürgerlichen Vorurteilen geronnenen ideologischen Fixierung verhaftet bleibt.

Von allen Aspekten der Adenauerschen Außenpolitik wird vermutlich nur einer weltweite Aufmerksamkeit bei kommenden Historikern finden, nämlich der seiner kompromißlos eindeutigen Bindung an das militärische System des Westens. Da die »Erinnerungen«, durchsättigt von dem Gefühl, es sei die richtige Politik verfolgt worden, keine Retuschen versuchen (und wenn, dann immer durchsichtig), kann aus der Sicht Adenauers dargestellt werden, welche Beweggründe ihn bei seiner erst in diesen Tagen restlos liquidierten Außenpolitik geleitet haben.

Wenn wir davon ausgehen, wie wir wohl dürfen, daß der westdeutsche Staat wesentlich auch ohne Adenauer entstanden wäre, so stellt sich als das Schlüsselproblem der besten Jahre Adenauers die Wiederbewaffnung dar, genauer gesagt, ob sie ohne Rücksicht auf »echte« oder »scheinbare« russische Initiativen zu einer vollzogenen, nicht mehr revidierbaren Tatsache gemacht werden sollte.

Adenauers Ansehen unter den westlichen Alliierten (und, so sagt er, »die Blüte unserer Wirtschaft") beruht fast ausschließlich auf seiner keinen Augenblick schwankenden Haltung in dieser für Nachkriegsdeutschland schlechthin konstituierenden Frage. Seine Stetigkeit erlaubte ihm, Dulles erst freundschaftlich zu bestärken, dann, wenn auch weniger erfolgreich, zu bremsen. So wurde er zwar nicht der »Bundeskanzler der Alliierten«, sondern, nach einem minder giftigen Spruch, »the real McCloy"*: Gegenüber den Amerikanern war er der Bundeskanzler der Federal Republic, gegenüber seinen deutschen Volksgenossen aber der amerikanische Hochkommissar.

Jede Bundesregierung in Bonn mußte, mit oder ohne Krieg in Korea, kurz oder lang dem Kreuzweg konfrontiert werden: entweder Teilnahme an der Verteidigungsorganisation der westlichen Staaten oder Versuche, durch zeitweiliges, aber langfristiges Ausscheiden aus der Machtbalance der Mächte die beiden Teile Deutschlands zusammenzufügen.

Wer es unternahm, den ersten Weg zu wählen, hatte enorme Vorteile, da er auf gleichgerichtete Bestrebungen der westlichen Mächte zählen durfte, wohingegen die Fühler zu den Sowjets in unsicheres und unerprobtes Gelände führten. Wer sich dann noch stark genug fühlte, den ersten Weg ohne Schwanken und mit Energie zu gehen, hatte das Gesetz des Handelns in einmaliger Weise für sich.

Als Grotewohl und die Sowjets in den Jahren 1950 bis 1952 auf die Wiederbewaffnungspläne der Amerikaner mit Angeboten reagierten, sah Adenauer darin mit Recht »einen Erfolg der Politik der Bundesregierung«. Aber er gedachte nicht, darauf einzugehen.

Zwar, er sah, daß Grotewohls Hinweise auf gesamtdeutsche Wahlen »auch mögliche positive Ansätze« enthielten. Zwar, Grotewohl erklärte seine Bereitschaft zu freien Wahlen. »Aber konnte man ihm glauben?«

Am 15. September 1951 bot Grotewohl »freie gesamtdeutsche Wahlen« an: »Konnte man sie ernst nehmen?« Worin Adenauer einerseits einen Erfolg seiner Regierung sah, daß nämlich die östliche Seite Westdeutschlands Beteiligung am Nato-Pakt verhindern wollte, das eben hielt er für »verdächtig«.

Bischof Dibelius, dessen Amtsbereich überwiegend in der sowjetischen Besetzungszone lag, ließ ihn wissen, eine »glatte Zurückweisung« würde in der Zone nicht verstanden. Adenauer aber, der bei den Hohen Kommissaren eine »nervöse Reaktion« beobachtet hatte, entschloß sich, so schreibt er selbst, zu einem »glatten Nein«.

In Übereinstimmung mit den Hohen Kommissaren bekam Grotewohl keine Antwort. Das Rüstungsniveau der Sowjets, meint Adenauer, »wies auf Krieg hin«. Der Westen mußte also verstärkt rüsten, unter Einschluß Westdeutschlands. So kam er mit seinem Vorschlag heraus, eine Uno-Kommission solle feststellen, ob in den beiden Teilen Deutschlands die Bedingungen für freie Wahlen gegeben seien.

Der Vorschlag wurde von den Hohen Kommissaren »wärmstens begrüßt«. Er stellte sicher, daß man mit den Sowjets nicht weiterkommen würde. Diese sahen in einer Kommission der damals von den USA dominierten Uno den Versuch, ihnen die während des Zweiten Weltkriegs errungenen Positionen auf kaltem Wege und ohne Gegenleistung wieder abzulisten.

Am 10. März 1952, in der sogenannten Stalin-Note, schlug die Sowjet-Regierung vor, Deutschland zu vereinigen, ihm nationale Streitkräfte zu bewilligen, es in die Uno aufzunehmen, ihm aber die Beteiligung an Militär-Bündnissen zu untersagen. Amerikas Außenminister Acheson erklärte dem Staatssekretär Walter Hallstein einen Tag nach Eingang der sensationellen Note, sie enthalte »nichts Neues«. Adenauer fand, sie verfolge das Ziel, »die Bundesrepublik auf den unfreien Status eines Satelliten-Staates herabzuziehen«. Die drei Westmächte kamen, ebenfalls am 11. März, mit Adenauer überein, in den Verhandlungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft »so fortzufahren, als ob es die Note nicht gäbe«.

Adenauer warnte davor, »den Sowjets die Möglichkeit langer Verhandlungen zu geben«. Die Integration Europas müsse beschleunigt werden; allerdings befürwortete er diesmal kein »hundertprozentiges Nein«.

Die Westmächte und Adenauer beharrten, die Uno-Kommission müsse erst ihre Untersuchung durchführen, Deutschland müsse sich der Nato anschließen dürfen, Diskussionen über die Bestimmungen eines Friedensvertrages, also auch über die deutschen Ostgrenzen, seien erst nach freien Wahlen möglich.

In einer zweiten Note, am 9. April 1952, schlugen die Sowjets vor, »ohne

Verzug die Frage der Durchführung gesamtdeutscher freier Wahlen zu erörtern«. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für solche Wahlen gegeben seien, könnte durch eine Kommission der vier Besatzungsmächte vorgenommen werden.

Dazu Adenauer: »Wie ich schon mehrfach betont habe, wollte auch ich Vier-Mächte-Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands, aber ich wollte sie erst dann, wenn sie tatsächlich Erfolg versprachen.« Wann versprachen sie Erfolg? Wenn die EVG Tatsache sei und von den Sowjets als vollendete Tatsache akzeptiert werde. (Adenauer: »Unabdingbare Voraussetzung").

Kurt Schumacher, der noch am 18. September 1951 vor der »Schaffung Sowjet-Deutschlands« gewarnt und der auch seinerseits Grotewohl nicht geantwortet hattet, wollte jetzt verhandeln. Die deutsche Einheit lasse sich nicht durch militärische Drohungen verwirklichen. Die Sowjets müßten sich eine Politik der vollzogenen Tatsachen nicht gefallenlassen, dazu seien sie stark genug.

Ohne Verzögerung unterzeichneten Adenauer und die drei Außenminister im Mai 1952 den »Deutschland-Vertrag« und den EVG-Vertrag. Die amerikanische Regierung, schreibt Adenauer, hielt Vierer-Besprechungen auch jetzt »nicht für opportun«. Denn: »Acheson war überzeugt, daß etwaige Verhandlungen mit Sowjet-Rußland noch keinen Zweck hätten.«

Adenauer protestierte gegen einen Vorschlag der Franzosen, eine Vierer -Konferenz auf einer möglichst niedrigen Ebene und mit zwei Themen abzuhalten: Voraussetzungen für freie Wahlen einerseits, Rechte einer gesamtdeutschen Regierung andererseits.

Dazu sagte Adenauer: »Wenn ich Russe wäre, würde ich diesen Vorschlag sofort annehmen und versuchen, die Verhandlungen auf mindestens sechs Monate auszudehnen und dadurch eine Verzögerung herbeizuführen.« Das Risiko dieser sechs Monate wollte Adenauer nicht laufen.

Eine »wohlvorbereitete« Vierer-Konferenz, so behauptete er, müsse »unter allen Umständen« stattfinden. Aber sie müsse »wirklich wenigstens in etwa Aussicht auf Erfolg bieten, und sie dürfe nicht lediglich dazu dienen, den Sowjets die Möglichkeit zu geben, die Ratifikation des europäischen Vertragswerkes zu verzögern«. Der Notenwechsel erlosch, mit einem kurzen Aufflackern nach dem Ende der EVG im Jahre 1954.

Im August 1955, nach dem Genfer »Gipfel«, nach dem offiziell verkündeten Ende sowjetischer Vereinigungs-Avancen, schrieb Außenminister Dr. Heinrich von Brentano an Adenauer, die Russen hätten »in Genf mit größerer Klarheit als je zuvor erkennen lassen, daß sie mindestens die fällige Herauslösung Gesamtdeutschlands aus der westlichen Bündnisgemeinschaft als Preis für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands fordern. Es ist sogar ungewiß, ob sie sich mit dieser Forderung begnügen würden«.

Diese Herauslösung aus der westlichen Bündnisgemeinschaft mochte Adenauer keinen Tag auch nur erwägen. Es war nicht so, daß er fürchtete, Verhandlungen mit den Sowjets würden erfolglos bleiben. Vielmehr wünschte er das, was die Sowjets zwischen 1952 und 1955 anboten, nicht zu verhandeln, weil er es gar nicht haben wollte.

Welches waren seine Beweggründe? Warum hielt er EVG und, später, Nato -Mitgliedschaft für unverzichtbare Essentals jeglicher deutschen Politik? Und wie, wenn nicht durch eine Art militärischer Neutralisierung Gesamtdeutschlands, gedachte er die mitteleuropäischen Probleme zu lösen?

Adenauer hat von Sowjet-Rußland den Eindruck einer statisch bedrohlichen Macht: »Die Landmasse Sowjet -Rußland ist so groß, daß sie automatisch die angrenzenden kleineren Länder in ihren Sog ziehen mußte.«

Deutschland sei »benachbart einem Koloß, der es versklaven und verschlingen möchte«. Neutralisierung Deutschlands bedeute in jedem Fall Sowjetisierung. »Sowjet-Rußland verhandelt nicht mit schwachen Ländern, es überrennt sie.«

Solche Feststellungen durchziehen das ganze Buch: »Sie (die Sowjets) wollen den Besitz ganz Deutschlands, allerdings nicht auf dem Wege eines Krieges, sie wollen Deutschland und die deutsche Wirtschaft unzerstört haben.« Wozu? Um weiter ausgreifen zu können, um »das deutsche, das französische und das belgische Wirtschaftspotential, und damit ein großes Kriegspotential von Eisen und Kohle, in seine Hände zu bekommen«. Der Sinn des sowjetischen Sicherheitsplans von 1954 ließ sich laut Adenauer in die Worte zusammenfassen: »Ganz Europa unter sowjetischer Herrschaft.«

Von Dulles hatte Adenauer gelernt, »daß die Russen den Nationalismus förderten, weiler die Völker in Gegensatz zueinander brächte, infolgedessen zur Aufspaltung des Westens führe und die einzelnen Völker wehrlos gegen den' Zugriff der Sowjets mache«. Die Wechselbeziehungen zwischen amerikanischem und sowjetischem Internationalismus, zwischen östlichen und westlichen Nationalismen werden in Adenauers Buch nicht erörtert.

Deutsche Kriegsgefangene erzählten ihm, »20 bis 30 Millionen Männer, Frauen und Kinder lebten in (russischen) Konzentrationslagern«. In den alten Fabriken (des Zaren) werde gute Arbeit geleistet, in den Putilow-Werken etwa, in den neuen Fabriken der Sowjets dagegen schlechte. »Man muß einmal die Gesichter des russischen Mannes auf der Straße gesehen haben, um sich wirklich ein Bild davon machen zu können, was denn nun der Segen des Kommunismus ist.«

Rußland »blieb sich nach wie vor gleich«, auch wenn viele Leute derzeit gute Seiten an Rußland entdeckten.

Die Russen taten nur so, als wandelten sie sich - um den Feind zu täuschen, offenbar. Während 1955 alle Welt glaubte, daß Rußland »eher beschwichtigend als aufstachelnd auf Rotchina einwirke«, hielt er die entgegengesetzte Auffassung für richtig. Da steht denn der Satz einigermaßen überraschend und verloren: »Die Sowjet-Union wurde nach meiner Meinung bei uns in Deutschland etwas zu sehr gefürchtet.« Dies »etwas zu sehr«, auf wessen Konto kam es?

Als Chruschtschow ihm 1955 in Moskau vorhielt, die Deutschen hätten Marx und. Engels in die Welt gebracht. »konterte« Adenauer, wie er schreibt, mit dem Hinweis auf den Bankier Pferdmenges: Der sei ein naher Verwandter von Engels, es gebe also in dieser Familie auch noch ganz andere Leute. Adenauer wollte derart andeuten, »daß Engels nicht typisch für seine Familie und auch nicht typisch für uns Deutsche sei«. Chruschtschow, so schreibt Adenauer, »ließ sich nicht beeindrucken«.

Ein typischer Deutscher kann eigentlich nicht Kommunist sein: »Wir durften und dürfen namentlich in unserer christlichen Partei niemals vergessen, daß der Kampf gegen den Kommunismus sich nicht einfach erschöpft in Bemühungen um die Wiedererlangung der uns entzogenen Teile Deutschlands, sondern daß dahinter steht der Kampf zwischen Materialismus und christlicher Überzeugung, der Gegensatz zwischen russisch-kommunistischer Diktatur und einem freien Europa.« Wenn es den freien Völkern der Welt nicht gelinge, das Gefühl für den Wert der christlich europäischen Kultur zu steigern, dann werde die Zukunft dunkel sein.

Wenn Kommunisten von Beratungen sprechen, wollen sie »entweder Diktat oder endlose Verzögerung«.

Was also tun, um gegenüber dieser kommunistisch verdorbenen großen Landmasse der aggressiven Sowjet -Union zu bestehen? »Europa, das freie Europa, mußte und muß zu einer Einheit zusammenwachsend.«

Das war nun freilich ein antikommunistisches Europa, in dem die große russische Landmasse nichts zu sagen haben sollte. Die Amerikaner hingegen sollten in diesem Europa zu sagen haben.

Europa durfte keine »dritte Kraft«, es durfte nicht neutralistisch werden (welche Absicht Dulles und Adenauer bei Eden und Mendès-France befürchteten). Die Vereinigten Staaten, in denen Nationalismus und Internationalismus ununterscheidbar ei ne Verbindung eingegangen waren, hatten sich der europäischen Einigung angenommen, um, wie Dulles in London 1954 sagte, jene Einigung zu fördern, die vor allem eine Lage beseitigen würde, die immer wieder zu Kriegen geführt habe, welche die westlichen Nationen geschwächt und ausgezehrt hätten, so daß unsere gesamte westliche Zivilisation heute wie nie zuvor in den letzten tausend Jahren gefährdet sei.«

Den Mendès-France hielt Adenauer schlechtweg für »anti-europäisch eingestellt«. Mendès stand im Verdacht, einen Ausgleich mit Rußtand und mit den Kommunisten in Indochina zu suchen. Darum fand Adenauer auch richtig, daß Dulles gegen Mendès -France »einen gewissen Druck« ausüben wollte, »am besten auf wirtschaftlichem Gebiet«.

Adenauer: »Ich stellte fest, daß Mendès-France derartige Maßnahmen selbstverständlich am besten verstehen werde, da sein erstes Ziel sei, die französische Wirtschaft zu stärken. Hierbei sei er auf Amerika angewiesen. Man müsse den Hahn etwas zudrehen, dürfe ihn jedoch nicht abstellen*.«

Würde Europa den Glauben an die Vereinigten Staaten verlieren, so müsse man damit rechnen, daß es »im Verlaufe weniger Jahre kommunistisch würde«. Würde - im Jahre 1953 - die Bundesrepublik die EVG ablehnen, so würde »ganz Deutschland ein Satelliten-Staat werden«. Würde - nach dem Scheitern der EVG - kein sichtbares Ergebnis einer Ersatzlösung vorgewiesen, so »bestehe die große Gefahr, daß Deutschland in den kommenden sechs bis zwölf Monaten nach Osten abgleite« (Adenauer zu Dulles).

Die hilflose Wut der Gegner Adenauers erklärt sich, wenn man bei ihm selbst liest, mit welchem Argumentieren er bei den deutschen Wählern Erfolg hatte. Am 3. Dezember 1952 erklärte er im Bundestag: »Wie die Dinge sich entwickelt haben, verneint derjenige, der die Europäische Verteidigungsgemeinschaft verneint, damit auch Europa. Wer Europa verneint, liefert die Völker Westeuropas, insbesondere unser deutsches Volk, der Knechtschaft durch den Bolschewismus aus. Wer Europa verneint, gibt die christlich humanistische Lebensform Europas preis, wer Europa verneint, ist der Totengräber des deutschen Volkes, weil er dem deutschen Volk die einzige Möglichkeit nimmt, sein Leben, so wie es ihm wertvoll und teuer ist, sein freies, auf christlichen Grundsätzen aufgebautes Leben, fortzuführen. Ich nehme nicht an, daß die sozialdemokratische Opposition das will. Dann soll sie aber doch, wenn es um das deutsche Volk als Ganzes geht, dieses Mal parteitaktische Erwägungen zurückstellen!«

Er hatte seine Worte, so schreibt Adenauer heute, vielleicht etwas zu scharf gewählt. Aber er meinte sie wortwörtlich so.

Ein Damm sollte gebaut werden, »gegen den ungeheuren Koloß Sowjet -Rußland«. Nun lag aber die DDR außerhalb dieses Dammes, dieses modernen Limes. Würden die Sowjets erst erkannt haben, daß sie »kein anderes Land mehr herüberziehen könnten zu sich«, wie konnte die DDR zur Bundesrepublik herübergezogen werden?

Adenauer gibt folgende Antwort: »Es muß immer wieder betont werden, daß die Wiedervereinigung ein Lebensinteresse Europas und damit der Welt ist, daß gegen den ungeheuren Koloß Sowjet-Rußland ein Damm bestehen muß. Hierzu ist die Unversehrtheit Deutschlands absolut notwendig.« Die Unversehrtheit Deutschlands ist für Europa notwendig, Europas »Weiterbestehen als politischer, wirtschaftlicher und kultureller Faktor« ist eine »absolute Notwendigkeit für die ganze Welt«.

Ob und in welcher Verfassung das »unversehrte« Deutschland für Europa absolut notwendig sei, ob und in welcher Verfassung Europa für die Welt absolut notwendig sei, darüber scheint Adenauer, wenn man seinem Buch glauben will, wenig nachgedacht zu haben.

Wenn Postulate allein ("Wir werden den Krieg, die Wahlen etc. gewinnen, weil wir ihn/sie gewinnen müssen") nicht hinreichen, welche Entwicklungen sah Adenauer, die eine neue Situation hätten schaffen können?

Die »Erinnerungen« wollen es so, als habe Adenauer schon im Jahre 1950 auf die »chinesische Gefahr« im Rücken Rußlands spekuliert. Die Sowjets, so meinte er in reichlicher Verkennung der kommunistischen Geschichte, seien nicht

in der Lage, gleichzeitig ihr Land aufzubauen und mit den USA in der Aufrüstung Schritt zu halten. Diese Alternative sah der im deutschen Freund -Feind-Absolutismus geschulte Bundeskanzler für Rußland: »Entweder Auseinandersetzung mit Westeuropa und dessen Eroberung, oder aber Auseinandersetzung mit den Chinesen.«

Es zeigt sich, daß Adenauer von den Grundprinzipien jeglicher Außenpolitik nichts begriffen hat, wenn er schreibt: »Es gleichzeitig mit diesem Europa, mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit China aufnehmen, das ist (für Rußland) unmöglich.« Außenpolitik war ihm immer eine Partie Boccia. Mit mehr als einer Kugel konnte er nicht spielen.

Daß China die USA vielleicht mehr beschäftigen könnte als den Kreml, der Gedanke kam ihm nicht Wenn Stalins Diadochen einander schwächten, so hielt er nicht für möglich, aus diesem vielleicht vorübergehenden Zustand Gewinn zu ziehen - schwer genug -, sondern er schloß befriedigt: »Die russischen Bäume würden nicht in den Himmel wachsen.«

Entspannung war ihm recht, solange nicht in Europa entspannt wurde. Die Initiative Churchills vom 11. Mai 1953, ein Ost-Locarno anzusteuern, kommentierte er abschlägig: »Meine Auffassung der Lage war, daß die Sowjetzone in der Hand Sowjet-Rußlands ein Faustpfand war und ist und daß es dieses Faustpfand nur dann freigeben wird, wenn eine allgemeine Entspannung einträte.«

Befriedigt notierte er 1954 nach der ergebnislosen Konferenz der vier Außenminister in Berlin: »Eine Einigung über asiatische Probleme, ein erster Versuch zur Weltabrüstung, zum Abschluß eines Atomabkommens - dies alles würden bedeutende Fortschritte zur Beendigung des Kalten Krieges sein. Überall, wo etwas zur Entspannung der Weltkonflikte geschah, da geschah auch etwas für Deutschland.«

Wenn Adenauer auf seinen Cauchemar zu sprechen kam, jene ominöse »Einigung auf deutsche Kosten«, so konnte man in den Klartext die Wörter »Entspannung in Europa« einfügen. Konsequent gipfelte Adenauers Politik in der Forderung, die Spannung in Europa müsse aufrechterhalten bleiben, bis die Sowjets ihre DDR nach Westen entlassen hätten, ohne daß die Bundesrepublik aus der Nato auszuscheiden hätte.

Mendès-France wollte 1954 der französischen Wirtschaft eine Atempause verschaffen. Sie sollte dadurch ermöglicht werden, daß die deutsche Wirtschaftskraft für eine Reihe von Jahren nach einer Wiedervereinigung auf die DDR abgelenkt würde. Die auf fünfzig Jahre abgeschlossene EVG wollte er nur ratifizieren, wenn alle sechs Partner das Recht bekämen, im Falle einer Vereinigung Deutschlands auszuscheiden.

Adenauer fuhr ihm erregt in die Parade: Das sei »nichts anderes als eine Einladung an Sowjet-Rußland, die Wiedervereinigung Deutschlands im Austausch gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft anzubieten«. So laut eigener Schilderung der deutsche Bundeskanzler, der für seine Regierung das Recht in Anspruch nahm, allein alle Deutschen zu vertreten.

An Mendès-France (Adenauer: »Weite Kreise in Frankreich glaubten tatsächlich an eine Ost-West-Entspannung") konnte Adenauers Politik nicht zuschanden werden, wohl aber an einem Mächtigeren: an dem amerikanischen Außenminister John Foster Dulles, der im Herbst 1952 mit seinem Präsidenten Eisenhower die Regierungsgeschäfte übernommen hatte.

Das Verhältnis zwischen dem ranghöheren, zwölf Jahre älteren Kanzler und dem vielerfahrenen, strengen Außenminister ist nicht frei von karger Poesie (Dulles: »Gerne wäre ich bei Ihnen, aber dann käme vielleicht keiner von uns beiden zur Ruhe"); und wie mit Pastellfarben deutet Adenauer seine nicht im Persönlichen wurzelnde Enttäuschung an, wenn er ziemlich zum Schluß seines Buches schreibt: »Es würde interessant sein festzustellen, ob (1955) Dulles in seiner optimistischeren Beurteilung der politischen Lage oder aber ob ich mit meiner Auffassung recht hatte, daß die Zeit für eine Ost-West -Verständigung noch nicht gekommen sei.«

Der imposante John Foster Dulles hat durch vereinfachende Etikettierung ein nachträgliches Image erfahren, das der wirklichen Figur in vielem nicht entspricht. Er war, anders als Adenauer, nicht bereit, eine unterliegende Partei anzuführen. Aber er bereitete seine Rückzüge vor, und nur im äußersten Fall wechselte der frühere Wallstreet -Anwalt die Partei noch Im Gerichtssaal.

Weit davon entfernt, sich von Adenauer leiten zu lassen, empfand er umgekehrt Adenauer als idealen Bundesgenossen. Der deutsche Kanzler sicherte ihm gleich zu Anfang ihrer Zusammenarbeit zu, »daß ich keiner Kompromißlösung zustimmen würde, die diese meine Politik aufs Spiel setzen könne«. Dulles selbst reservierte sich im stillen sehr wohl das Recht, Adenauers Politik aufs Spiel zu setzen.

Beide Männer trafen sich in einigen grundlegenden Überzeugungen. Wie Adenauer war Dulles der Meinung, daß Neutralismus gleich Kommunismus, und daß der Kommunismus eine Fehlentwicklung sei, die man rückgängig machen solle. Dulles, so schrieb er Adenauer, glaubte selbst, »Hunderte Millionen von Menschen seien durch den Kommunismus heruntergedrückt worden zu dem, was nach unseren Maßstäben Sklavenarbeit ist«. Er hatte wohl eine eigene Auffassung von Sklavenarbeit.

Man hat aber nicht das Gefühl, daß Adenauer die Untertöne bei Dulles immer richtig herausgehört hat. Zuweilen versicherte er dem Freund völlige Übereinstimmung, wenn der ihm gerade einen in Watte verpackten Knockout versetzt hatte.

Der Disput zwischen beiden entwickelte sich nach dem Abschluß des österreichischen Staatsvertrags über dem Projekt eines neutralen Gürtels in Europa. Über den Genfer »Gipfel« und den ihm entwesten »Geist von Genf« kam er zum Ausbruch.

Adenauer, der überall sonst auf der Welt entspannen wollte, fand »besorgniserregend«, daß Eden Chruschtschow und Bulganin nach England einlud. Gegen den Eden-Plan zur Vereinigung Deutschlands hegte er »stärkste Bedenken«. Er lag Eden in den Ohren, die Fortdauer der Spaltung sei gefährlich, aber Edens wohlerwogenen Plan, der die Interessen der Sowjets gar nicht hinlänglich berücksichtigte, fand er besorgniserregend.

Adenauers Urteil über den neutralen Gürtel in Europa war schnell gefaßt: »Das Ende Deutschlands und das Ende Europas.« Aber Dulles war nicht so ablehnend. Sollten die Sowjets zustimmen (wozu sie keinesfalls neigten), die Länder Osteuropas aus ihrer Kontrolle zu entlassen, so würde er wohl auch über eine Neutralisierung Deutschlands mit sich reden lassen. In dem Abschluß des österreichischen Staatsvertrags sah Dulles bereits eine Frucht seiner »Politik der Stärke«.

Aus Adenauers Erinnerungen gewinnt man nicht das Gefühl, daß Dulles gegen seinen Freund ganz ehrlich argumentierte. Er verglich den Kalten Krieg mit einem Boxkampf: »Der Gegner sei schon groggy, hinge in den Seilen und warte nur noch darauf, daß der Gong das Ende der Runde ankündige. Wir seien auch müde und wünschten ebenfalls das Ende der Runde herbei. Es sei jetzt notwendig, nicht nachzugeben und sich von der eigenen Müdigkeit nicht überwinden zu lassen. Wenn der Westen stark bleibe, halte er (Dulles) auch eine friedliche Befreiung Osteuropas für möglich.«

Natürlich hatte Dulles begriffen, daß alle Rollback-Theorien ausgeträumt seien. Eher als Kennedy und de Gaulle entwickelte er Adenauer, die westliche Politik dürfe den evolutionären Prozeß im Osten nicht aufhalten, sondern müsse ihn fördern.

In den Satelliten-Staaten müsse der Impuls nationaler Unabhängigkeit geweckt werden, sie müßten einen Status wie Finnland bekommen: »Die Russen sollten nicht in der Lage sein, diese Staaten herumzukommandieren wie Marionetten.«

Dann pries er wieder die Einigung Europas. Wenn der Westen stark bleibe - bleibe! -, könne er die Bedingungen diktieren.

Wieder zu Hause in Bonn, erfuhr Adenauer von Dulles: »Mein Eindruck ist, daß die Russen, nachdem sie den Köder der deutschen Wiedervereinigung benutzt haben, um zu versuchen, die Bundesrepublik vom Westen entfernt zu halten, und nachdem sie mit diesem Köder gescheitert sind, nicht mehr besonders interessiert sind und es vorziehen, uns diejenigen sein zu lassen, die darauf drängen, so daß sie sie als Basis zur Aushandlung anderer Dinge benutzen können, die sie wünschen.«

Den Genfer »Gipfel« beobachtete Adenauer in der Schweiz von Mürren aus. Unmittelbar nach Konferenzende warnte er den Außenminister vor den Täuschungsmanövern der Sowjets.

Dulles ("Mein lieber Herr Bundeskanzler") antwortete ihm, das größte Anliegen der Sowjets seien die politischen Folgen einer Liquidation - der DDR. »Ich erführe gern Ihre Ansicht über diese Seite der Angelegenheit.«

Beigefügt war der Bericht über eine Pressekonferenz, auf der Dulles erklärt hatte: »Die deutsche Wiedervereinigung liegt in der Luft, und ich bin überzeugt, daß sie zustande kommen wird, zwar nicht sogleich, aber mit Bestimmtheit.«

Adenauer war nicht beruhigt. Er wies Dulles darauf hin, daß die Russen ihre Welteroberungspläne noch nicht aufgegeben hätten. Sie warteten nur darauf, Deutschland, Frankreich und Italien in ihre Hände zu bekommen, um dann die endgültige Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten zu beginnen. Der Anschein der Rehabilitierung Rußlands durch die angelsächsischen Mächte hätte vermieden werden müssen.

Dulles antwortete lang und etwas streng: »Ihr Brief stellt eine Interpretation der Genfer Konferenz dar. Es mag die Interpretation sein - zweifellos ist sie es -, welche viele ihr geben. Es ist jedoch nicht die Interpretation des Präsidenten und nicht die meinige, und ich glaube nicht, daß sie die richtige Interpretation ist.«

Dulles behauptete, er glaube, »daß eine gute Chance besteht daß die Einigung zu Ihren Bedingungen Innerhalb von ein paar Jahren erreicht werden kann, wenn wir fest sind« (Adenauer: »Dulles meinte zwei bis vier Jahre").

Wieder kam Dulles auf die DDR zu sprechen, die bezeichnenderweise in seinen Briefen DDR und nicht sogenannte DDR heißt: »Ich glaube, daß die Russen sich sehr darum sorgen, was sie mit der DDR machen sollen, und fürchten, daß, wenn sie der DDR plötzlich den Teppich unter den Füßen wegziehen, sie ihre Position in ganz Osteuropa schwächen werden.« Dulles, soviel war klar, hatte jeden Gedanken daran aufgegeben, die Stellung der Russen in Osteuropa mit Hilfe der deutschen Sprengkraft zu schwächen. Dulles bewies Rücksicht für die Sorge der Sowjets, sie könnten die SED-Führer »nicht einem ungewissen Schicksal ausliefern« - eben jene SED-Führer, deren Regime seit dem März 1952 erst richtig ausgebaut worden war.

Daß Adenauer voll begriff, was vor sich gegangen war, wird aus den Memoiren nicht ersichtlich. Immerhin findet sich in ihnen folgender Adenauer-Ausspruch: »In der Politik sollte man niemals sagen, mit dem Mann setze ich mich nicht zu Verhandlungen zusammen. Wenn die Verhandlungen das Wohl des Gebietes im Auge haben, dann setze ich mich - seien Sie mir nicht böse - auch mit dem Teufel an einen Tisch!« Er meinte nicht die DDR und Ulbricht, sondern die Saar und Hoffmann.

Aber er fuhr zu Beelzebub nach Moskau »In der Frage der Wiedervereinigung hielten wir in Moskau bewußt Maß« Er erfuhr von Chruschtschow: »Es ist zu spät, die Frage der Aufhebung der Pariser Verträge zu stellen. Sie bestehen bereits.« Die Sowjet-Regierung werde alles ihr Mögliche tun, damit ein wiedervereinigtes Deutschland einem gegen sie gerichteten Bündnis nicht angehöre. Adenauer, der mit verhaltenem Stolz ("Mir zu Ehren war eine Ehrenkompanie aufgestellt worden") den protokollüblichen Empfang auf dem Flugplatz Wnukowo beschreibt, stimmte trotz der sowjetischen Entschiedenheit dem Austausch von Botschaftern zu.

Für diese »äußerst problematische« (Adenauer) Kehrtwendung, die seine engsten Mitarbeiter entsetzte und seinen Verbündeten völlig überraschend kam, hat Adenauer in seinen »Erinnerungen« die Erklärung: »Ich war nicht gewillt, die armen Menschen, die sich in russischem Gewahrsam befanden, völkerrechtlichen Erwägungen zu opfern.«

Der Entschluß, ein »einsamer« Entschluß, war gleichwohl richtig. Nur paßte er nicht in die politische Linie, die Adenauer vor und nach seinem Besuch bei den Sowjets einhielt.

Er schied aus Moskau mit dem Gefühl, und dies ist der letzte Satz seines aufschlußreichen Buches, »mit den Männern im Kreml vielleicht doch eines Tages eine Lösung unserer Probleme finden zu können«.

* Die Redewendung geht auf einen amerikanischen Preisboxer namens McCoy zurück, der sich zwecks Unterscheidung von einem ebensolchen »the real McCoy« nannte.

* Von allen irgendwie nennenswerten Stimmen verlangte in aller Öffentlichkeit nur der SPIEGEL, daß man Grotewohl antworten solle.

* Nach dieser Maxime ist auch die FDP im Jahre 1956 von Adenauers Fördergesellschaften behandelt worden. Nicht alles, was de Gaulle im Namen Frankreichs beabsichtigt, ist ohne Wurzel.

Geschichts-Schreiber Adenauer: »Sowjets bei uns etwas zu sehr gefürchtet«

China-Gegner Adenauer, Chruschtschow

»Versklaven und verschlingen«

Europäer Mendès-France, Adenauer

»Den Hohn zudrehen«

Wiedervereiniger Adenauer, Dulles »In zwei bis vier Jahren«

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