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POLEN-RÜCKWIRKUNGEN Die Wirtschaft wankt

aus DER SPIEGEL 44/1956

Mit der Verwirrung alter Sklaven, die

fassungslos zusehen, wie sich andere

Sklaven aus den Fesseln ihres gestrengen Herrn befreien, ohne daß sie von diesem Herrn kurzerhand totgeschlagen werden, starrten die Spitzenfunktionäre der Sowjetzone in den letzten Wochen auf Polen und Ungarn. Nur ein einziger faßte sich rasch genug: der Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung von Groß-Berlin, Alfred Neumann, 47. Als einziger SED-Funktionär entbot er Polens neuem KP-Chef Gomulka zu einer Zeit einen Gruß aus der Sowjetzone, als die übrigen Mitglieder des SED-Zentralkomitees in einer Dauersitzung im »Haus der Einheit« noch auf ein drastisches Einschreiten Moskaus in Warschau warteten.

Die zwielichtige Situation, aus der Neumann mit diesem Telegramm-Alleingang vorgestoßen war, hatte die SEDFührung in den Oktobertagen zu lähmen begonnen, als sich in Warschau jener Wille zu nationaler Eigenständigkeit regte, der den deutschen Kommunisten unbekannt ist. Die einzige Tat, zu der sich die SEDZentrale aufraffte, und zwar am 19. Oktober, war der Entschluß, eine Vorzensur über alle Nachrichten aus der polnischen Hauptstadt zu verhängen.

Die Vorzensur führte dazu, daß Mitteldeutschland tagelang ausschließlich durch westdeutsche und Westberliner Rundfunkmeldungen über die Vorgänge in Polen unterrichtet wurde. In einer internen Sprachregelung vom 20. Oktober gab der neuernannte Chefredakteur des SED-Zentralorgans »Neues Deutschland«, Hermann Axen, 40, der nach dem 17. Juni 1953 von der Agitationsleitung in die Berliner Bezirksleitung abgeschoben worden war, den Ostberliner Chefredakteuren auf:

- Bis auf Widerruf kein Nachrichtenmaterial polnischer Quelle zu verwenden,

- die Berichte ihrer Warschauer Korrespondenten zentral vorzensieren zu lassen und

- Kommentare zur Lage in Polen nur

der sowjetischen Nachrichtenagentur »Tass« zu entnehmen.

Eine Gruppe polnischer Wirtschaftsfunktionäre, die am selben Tag vom Ostberliner Flugplatz Schönefeld nach Warschau zurückflog, versuchte vergeblich, am Zeitungsstand des Flughafens polnische Zeitungen zu bekommen. Polnische Eisenbahner, die zur selben Zeit Frankfurt an der Oder zu einem »Freundschaftstreffen« besuchten, wurden Augenzeugen von »Alarmübungen«, in deren Verlauf Einheiten der »Nationalen Volksarmee« das westliche Oder-Ufer besetzten. Am selben Tag war das erweiterte Zentralkomitee der SED einberufen worden, um über die Tagesordnung einer auf den 24. Oktober angesetzten Volkskammersitzung zu beraten. Auf der Tagesordnung standen auch Koordinierungsprobleme der polnisch-mitteldeutschen Schwer- und Montanindustrie. Als Sensation wirkte daher die von einem Extraboten der Sowjetzonen-Nachrichtenagentur ADN überbrachte Rede Gomulkas, in der Polens neuer Parteichef unter dem Druck der Versorgungsverhältnisse von einer Revision der Wirtschaftsplanung sprach.

Die Folgen, die eine solche Umstellung der sorgfältig ausgetüftelten Großraumwirtschaft des Ostblocks für die Ostberliner Planung hat, waren dem SEDZentralkomitee offensichtlich:

- Der laufende Fünfjahresplan der Sowjetzone ist mit dem Polens verschachtelt (SPIEGEL 23/1956). Wenn Warschau seinen Plan umwirft, gerät der Ostberliner Plan in Unordnung.

- Gomulkas angekündigte »Verbesserung

der Lebensbedingungen und Änderung einiger Exportpläne« stellt polnische Lebensmittellieferungen in Frage, die zur Aufhebung der sowjetzonalen Nahrungsmittelrationierung im Frühjahr nächsten Jahres bereits eingeplant waren (SPIEGEL 43/1956).

- Durch eine Umstellung der polnischen

Produktionsprogramme werden die Militärverhandlungen zwischen Warschau und Pankow über Lieferungen an Marine und Luftwaffe der Sowjetzone berührt, die seit Mitte September im Gange sind.

Der Zufall wollte es nun, daß sich gerade in diesen Tagen verschiedene Delegationen der SED zu Reisen nach Warschau, Budapest und Belgrad anschickten, um an den Jubelfeiern zum 20. Jahrestag der Aufstellung der internationalen Spanien-Brigaden teilzunehmen.

Als habe man das Gewitter vorausgeahnt, war für Warschau in letzter Minute der ursprünglich für Belgrad bestimmte Ulbricht-Rivale Franz Dahlem, 64, nominiert worden. Dahlem, der im Zeichen des Stalinismus fast drei Jahre lang von allen Parteiämtern verbannte ehemalige Kader-Chef - er ist heute stellvertretender Staatssekretär für das Hochschulwesen -, erschien dem SED-Politbüro angesichts der neuen polnischen Atmosphäre als akkurat angemessener Repräsentant. Als aus Warschau die ersten bedenklichen Nachrichten kamen, erhielt Franz Dahlem den Auftrag, dort unter der Schutzmarke seiner eigenen stalinistischen Ächtung die Lage zu peilen.

Die wegen ihrer Unselbständigkeit nicht nur von Tito, sondern auch von den Polen und Russen gleichermaßen über die Achsel angesehene SED-Führung glaubte zu diesem Zeitpunkt noch, Chruschtschew würde die polnische Bruderpartei durch massive Drohungen zwingen, Gomulka fallenzulassen. Dahlems Berichte brachten dieses Konzept aber bald durcheinander und stürzten Zentralkomitee und Politbüro in das peinliche Gefühl, den Anschluß an die neueste Entwicklung des Nachstalinismus verpaßt zu haben, auch wenn bisher in ihrer »am weitesten an den kapitalistischen Westen vorgeschobenen Bastion des Sozialismus« alles ruhig geblieben war.

Während seine Parteifreunde noch diese schwierige Lage berieten, ergriff der Ostberliner SED-Sekretär Alfred Neumann eine fortschrittliche Initiative. In einem Telegramm entbot er Gomulka als dem »hervorragenden Führer der polnischen Werktätigen« brüderliche Kampfesgrüße. Nicht genug damit: Er ließ den Text dieser Depesche den Partei-Organisationen der größten Ostberliner Staatsbetriebe zugehen, damit sie ebenfalls Grußadressen an die polnische Bruderpartei schicken sollten.

Schließlich und endlich ermunterte er noch seinen ehemaligen Mitarbeiter Osmund Schwab, den politischen Redakteur des Ostberliner Boulevardblattes »BZ am Abend«, entgegen allen Anweisungen Hermann Axens als erste und einzige Zeitung der Zone ein Bild Gomulkas und Auszüge aus dessen Rede zu veröffentlichen.

So kam es, daß die politisch belanglose Abendzeitung das befohlene, schon vier Tage andauernde Schweigen über die Ereignisse in Polen durchbrach und die erste Meldung über die Machtergreifung des Titoisten Gomulka brachte. Ostberlins Presselenkung, die von den Zusammenhängen nicht unterrichtet war, ließ in einer Kurzschlußreaktion 20 000 Exemplare des Blattes, die noch auf der Straße greifbar waren, einziehen, gab sie jedoch am späten Abend dieses 22. Oktober wieder frei. Einen Tag später blies wiederum Alfred Neumann als Sprecher des Politbüros den Parteipropagandisten die neue Marschrichtung:

- Die Ereignisse in Polen seien als interne innenpolitische Vorgänge anzusehen, Polens neues Zentralkomitee bleibe auf dem Wege brüderlicher Freundschaft mit der Sowjet-Union und der »DDR«.

- Die SED-Presse habe über die Änderungen in Warschau nur geschwiegen, um den Gegnern Volkspolens keine Hinweise auf die tatsächliche Lage zu geben.

- Die Gerüchte westlicher Agenturen über Sicherungsmaßnahmen und militärische Aktionen an der östlichen Grenze beträfen harmlose Manöver der Volksarmee. Allerdings bestehe Anweisung, »flüchtenden Agenten« den Rückweg aus Polen abzuschneiden.

- Eine für den nächsten Tag angesetzte

Volkskammersitzung werde verschoben, bis die Beratungen über den neuen polnischen Fünfjahresplan in Warschau abgeschlossen seien.

Allein, das Unglück wollte es, daß die SED mit dem viel schwereren Budapester Aufstand konfrontiert wurde, als sie gerade glaubte, sich mit einigem Anstand aus der polnischen Affäre gezogen zu haben. Der stellvertretende Innenminister Herbert Grünstein, 44, Schwiegersohn der rumänischen Stalin-Freundin Anna Pauker, der wegen seiner Verdienste im spanischen Bürgerkrieg zu den Erinnerungsfeiern in die ungarische Hauptstadt delegiert worden war, sah sich unversehens vor eine neue Bürgerkriegskulisse gestellt, in der diesmal seine Parteifreunde die Rolle der »Konterrevolutionäre« spielten. Hält sich der Ulbricht-Clan?

Nachdem die törichte Vertuschungstaktik der SED im Fall Gomulka selbst in der Sowjet-Botschaft Ostberlins auf Kritik gestoßen war, sorgte die Parteileitung diesmal dafür, daß die Parteiredakteure eine ideologisch desinfizierte Kurzdarstellung der blutigen Ereignisse an der mittleren Donau gaben.

Hinter der Fassade dieser strammen Haltung kam es unter den Spitzenfunktionären der SED jedoch zu Gesprächen darüber, ob die osteuropäische Entstalinisierungs-Lawine nicht auch ihre mitteldeutsche Plantage bedrohen könne, die ja bereits 1953 am 17. Juni die erste Anti-Stalin-Explosion erlebt hatte. Unter der Hand wurde beraten, ob man ähnlichen politischen Stauungen wie in Polen und Ungarn rechtzeitig zuvorkommen könnte, indem man sich auf annehmbare Weise von Walter Ulbricht als der Inkarnation des deutschen Stalinismus trennt.

Dabei bildeten sich in der SED-Spitze zwei Gruppen:

- Befürworter einer vorsichtigen Ausbootung Ulbrichts raten, den Parteisekretär längere Zeit auf Urlaub zu schicken und einen kommissarischen Stellvertreter einzusetzen, bis im Frühjahr ein neues Politbüro gewählt werden kann.

- »Konservative« befürchten dagegen, ein

Führungswechsel in diesem Augenblick könne auch in Deutschland zu Unruhen führen, weil selbst ein kaschierter Rücktritt Ulbrichts als ein Schwächezeichen ausgelegt werden würde. Wortführer dieser »Konservativen« sind der Kader-Chef Hermann Matern, 63, der geistig in den Anfängen seiner Parteikarriere steckengeblieben ist, und der Parteiorganisator Karl Schirdewan, 49, der lange Zeit als potentieller Nachfolger Ulbrichts galt.

Die Sprecher der ersten Gruppe, die den Parteisekretär Ulbricht zugunsten einer elastischen Innenpolitik ausbooten möchte, sind Fred Oelssner, 53, der schon vor Jahresfrist vom Chefideologen zum Staatskommissar für die Versorgung der Zivilbevölkerung gemacht wurde, und der klügste und versierteste Altkommunist in der SED, Heinrich Rau, 57; diese Gruppe befürwortet insgeheim einen Ersten Parteisekretär, der nicht so stark wie Ulbricht werden kann und dadurch Chruschtschews Prinzipien der »kollektiven Führung« größeren Spielraum gibt.

Der Ulbricht-Kreis kann sich jedoch diesen Tendenzen gegenüber noch behaupten. Er malt das Gespenst von Krawallen in Mitteldeutschland an die Wand, falls die Parteiführung auch nur ein Zeichen von Schwäche zeige.

Der Ulbricht-Clan hat auch prompt während des Budapester Aufstandes die Hälfte aller bewaffneten SED-Betriebskampfgruppen in Daueralarm gesetzt. Die Ostberliner Kampfgruppen wurden zu Demonstrationsmärschen durch den Sowjetsektor der Stadt aufgeboten. Ulbricht, Matern und Schirdewan diskutierten am Freitag letzter Woche mit Kader-Funktionären aus Ostberliner Großbetrieben, und der Berliner SED-Chef Neumann mußte vor dem Parteiaktiv der Humboldt-Universität eine Rede halten, um etwaige Meutereien unter den Studenten zu verhüten.

Berliner SED-Chef Neumann: Grüße an Gomulka

Pankower Warschau-Besucher Dahlem

Polen gefährdet die Zonen-Wirtschaft

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