SPIEGEL Gespräch »Die wissen genau, wie sehr sie bedroht sind«
SPIEGEL: Herr Biermann, etwa drei Millionen ehemalige DDR-Bürger leben in der Bundesrepublik, sie kamen freiwillig, viele illegal und mit hohem persönlichen Risiko. Fast jeder hatte weniger Ärger mit der DDR als Sie. Sie aber wollten in der DDR bleiben. Warum?
BIERMANN: Der Ärger, den ich mit der DDR hatte, hatte zum Teil zwar ähnliche Ursachen, gesellschaftliche Ursachen. Aber, was meine Haltung betrifft, sehr entgegengesetzte Konsequenzen. Ich kritisiere die Verhältnisse in der DDR von einem linken Standpunkt aus. Sie wissen: Man kann sie auch von rechts kritisieren. Diese beiden Haltungen werden von den Leuten, die weder rechts noch links stehen, oft verwechselt.
SPIEGEL: War die kritische Auseinandersetzung mit der DDR für Sie eine Art Lebenselixier, das Ihnen nun verlorenzugehen droht?
BIERMANN: Ich glaube, das ist stark untertrieben. »Lebenselixier« klingt mir zu sehr nach Apotheker. Sie wissen, daß ich seit 1953 in der DDR lebe, also den weitaus größten Teil meines Lebens. Und es war die Zeit, in der ich mich politisch gebildet und entwickelt habe -- also mein sogenanntes Erwachsenenleben. Ich bin mit meinen ganzen Interessen, Leidenschaften und auch Fähigkeiten auf die DDR kapriziert ...
SPIEGEL: ... und fixiert.
BIERMANN: Ja, fixiert auch, und das hat zur Folge, daß ich mich jetzt in mehrfachem Sinne in einem fremden Land befinde.
SPIEGEL: Also im Exil.
BIERMANN: Ja, das ist das normale Wort dafür. Ich würde mich weniger im Exil befinden, wenn ich zum Beispiel mit Gewalt nach Moskau verfrachtet worden wäre. Dort hätte ich zwar das Problem der Sprache, aber ich würde die Gesellschaft besser verstehen.
SPIEGEL: Sie haben oft gesagt, Ihre größte Furcht sei, aus dieser DDR rausgeworfen zu werden. War es unter diesen Umständen dann nicht leichtsinnig, dieser Einladung nach Westdeutschland zu folgen? Oder gab es Anzeichen, die Ihnen die Gewißheit gaben, zurückkehren zu dürfen?
BIERMANN: Wenn man weiß, was passiert ist, dann fällt es leicht, im nachhinein dieses oder jenes Phänomen
* Mit Redakteuren Jörg R. Mettke, Hellmuth Karasek. Karlheinz Vater.
im Sinne der dann eingetretenen Entwicklung zu interpretieren.
SPIEGEL: Sie fühlten sich also sicher, wieder heimkehren zu können?
BIERMANN: Logo, sonst wäre ich nicht gefahren.
SPIEGEL: Kamen Ihnen während der Konzerte keine Zweifel? Sie mußten doch damit rechnen, daß Ihnen die SED, wie dann geschehen, vorwirft, Sie betrieben vor westdeutschem Publikum Anti-DDR-Propaganda, verleumdeten Ihren Staat.
BIERMANN: Ich war mir vor meinem Auftritt nicht sicher, ob meine Nägel beim Gitarrenspiel abbrechen würden, ob ich heiser würde, ob ich ein so langes Konzert nach so langen Jahren durchstehen könnte, in denen ich nicht auftreten durfte. Ich hatte Angst, diesen oder jenen Text vielleicht nicht parat zu haben. Aber ich hatte überhaupt keine Angst, daß ich nicht in die DDR zurückkehren könnte. Nach dem Kölner Abend war ich ganz und gar sicher, daß die Parteiführung, die natürlich jedes Wort, das ich dort gesagt und gesungen habe, zur Kenntnis nimmt, eigentlich erleichtert sein müßte: Ich habe auch dort Partei für die DDR und für den Versuch ergriffen, den Sozialismus aufzubauen. Es ist in Köln nichts passiert, was mich im nachhinein gequält hätte.
SPIEGEL: Und hat das Publikum Sie auch so verstanden?
BIERMANN: Die Reaktionen waren vorzüglich. Ich habe es genossen, daß die miteinander sehr verfeindeten Genossen der Linken sich dort artikulieren konnten. Das war für mich ein politisches und künstlerisches Vergnügen ersten Ranges, wie es schöner und richtiger -- in meinem politischen Sinne -- gar nicht sein konnte.
SPIEGEL: Nun hat die SED Ihnen den Versuch, Partei für die DDR zu ergreifen, ja nicht gedankt. Das »Neue Deutschland« schreibt: »Er verschwindet in der dunklen Masse antikommunistischer Krakeeler.«
BIERMANN: Das ist Wunschdenken und keine Beschreibung der Wirklichkeit.
SPIEGEL: Was hat die DDR veranlaßt, Sie vor die Tür zu setzen?
BIERMANN: Ich bin inzwischen zu der festen Überzeugung gekommen, daß diese ganze Reise von vornherein mit der Absicht gestattet wurde, mich nicht wieder reinkommen zu lassen, daß die DDR-Führung -- oder korrekter gesagt: Teile der DDR-Führung -- diesen verständlichen und reaktionären Wunsch hat, war mir bekannt. Ich hatte aber nicht wissen können und nicht glauben mögen, daß es denen, die diese Entscheidung getroffen haben, so dreckig geht, daß sie sich in einer so erbärmlichen und ängstlichen Lage befinden, die sie zu einer solchen Maßnahme zwingt.
SPIEGEL: Sie haben Wirkung in der DDR ohnehin seit Jahren nur auf dem Umweg über den Westen erzielen können. Hat Ihr Auftritt hier Sie nicht vollends in eine Solschenizyn-Rolle gedrängt?
BIERMANN: Ich halte diesen Vergleich für falsch. Ich halte ihn für so falsch, daß ich das, aus hygienischen Gründen, nicht näher erläutern möchte. Solschenizyn kritisiert die Sowjet-Gesellschaft und den Versuch, den Sozialismus aufzubauen, aus der Position, die man mit dem Schlagwort Humanismus bezeichnet. Alles, was Solschenizyn geschrieben hat, ist meiner Meinung, meiner Erfahrung nach und nach den Berichten meiner Genossen in der Sowjet-Union, die 20 Jahre lang in den stalinistischen KZs vegetierten, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Das Problem ist nur, daß man mit traurigen Wahrheiten über die Gesellschaften, die sich »sozialistische« nennen, gefährliche Lügen über die einzige Chance verbreiten kann, die die Menschheit hat, nämlich über den Sozialismus.
SPIEGEL: Gilt das nicht auch für den Ort, an dem man die Wahrheiten verbreitet?
BIERMANN: Richtig! Es ist ein Unterschied, ob man sich in der DDR befindet und sich von dort aus kritisch zu DDR-Problemen äußert oder ob man sich im kapitalistischen -- von mir aus gesehen also reaktionären -- Westen befindet. Ich wäre ein schlechter politischer Künstler, wenn ich das nicht berücksichtigte. Es wird den sogenannten Fachleuten sicher aufgefallen sein, daß meine hiesigen politischen Äußerungen zum DDR-Sozialismus sich von dem unterscheiden, was ich bisher in Interviews und Veröffentlichungen gesagt habe. Ich habe bisher niemals mit solcher Deutlichkeit, mit Argumenten und Leidenschaft unterstrichen, wie kostbar und wichtig der Versuch ist, den die DDR darstellt. Kostbar und wichtig für ganz Deutschland und für die Arbeiterbewegung in Deutschland.
SPIEGEL: Aber kann jemand etwas rühmen, was ihn ausspeit?
BIERMANN: Ich rühme nicht die reaktionären stalinistischen Bonzen, die um ihre Macht zittern, und zwar mit gutem Grund. Die wissen ganz genau, wie sehr sie bedroht sind, weil sie ja den Staatssicherheitsapparat haben, der ihnen alles zuträgt, was das Volk denkt. Denen geht es viel schlechter, als ich es mir in meinen schlimmsten Träumen vorstellen kann. Das, was ich nur ahne. wissen die schwarz auf weiß.
SPIEGEL: Was ahnen Sie?
BIERMANN: Ich sehe, daß in der letzten Zeit, ganz besonders im letzten Jahr, eine bemerkenswerte und erfreuliche Veränderung vor sich gegangen ist. Sie hängt nicht so sehr, wie Sie hier im Westen immer vermuten, mit dem KSZE-Abkommen von Helsinki zusammen, sondern, wie ich meine, mit der Berliner Konferenz der Arbeiterparteien vom Juni 76, also mit der Tatsache, daß die KPs Frankreichs, Spaniens, Italiens und anderer Länder einen deutlichen Schritt in Richtung »sozialistische Demokratie« gemacht haben. Das ist eine gravierende Veränderung, die deswegen auf die DDR-Wirklichkeit und auf die Menschen in der DDR tiefe Wirkung hat. Das ist die Dialektik auch dieses geschichtlichen Prozesses, daß die stalinistische Fraktion der DDR den Sozialismus aufbaut und verhindert -- beides zugleich! Sie provoziert sozialistische Hoffnungen und löst sie dann nicht ein.
SPIEGEL: Ihre Ausbürgerung wäre dann eine Schwächung der inneren Opposition in der DDR, die mehr demokratischen Sozialismus fordert? BIERMANN: Meiner Meinung nach ist sie ein Indiz für eine enorme Schwäche der führenden Leute in der Partei, ein Beweis dafür, daß es mit dem Sozialismus in der DDR vorangeht. Der Beweis wird allerdings auf eine Weise geliefert, der für mich persönlich eher schmerzhaft und teuer ist.
SPIEGEL: Und wahrscheinlich auch für Ihre Freunde.
BIERMANN: Für die noch viel schmerzhafter und gefährlicher; denn ich sitze jetzt hier im Westen, zwar isoliert, aber im Grunde doch auch eingebettet in die Solidarität der sehr verschiedenen linken Leute, die es hier gibt, während meine Freunde -- unter ihnen wieder die ganz und gar nicht berühmten, nicht bekannten Leute -- ziemlich hilflos der Rache einiger Herrschaften ausgeliefert sind, die jetzt, dem Gesetz der Panik gehorchend, ihre Dummheiten noch vergrößern müssen.
SPIEGEL: Hat es denn niemand unter Ihren Freunden gegeben, der diese Situation schon vor Ihrer Abreise realistisch eingeschätzt hat und der deshalb zu Ihnen gesagt hat: Bleib hier, die lassen dich nicht wieder rein!
BIERMANN: Nein, es gab niemanden, der mich davor gewarnt hat, weil keiner von den Leuten sich vorstellen konnte, daß die DDR sich auf eine so klägliche Weise meiner entledigen würde. Es kann sich doch jeder ausrechnen, daß eine solche Maßnahme den Kalten Krieg schlimm befördert und daß sie andererseits meinen Liedern und Gedichten zu einer so ungeheuren Verbreitung verhilft, wie das vorher nie der Fall war.
SPIEGEL: Waren Sie nicht mißtrauisch, daß Sie diesmal so schnell ein Visum bekommen haben?
BIERMANN: Sollte ich mich sozusagen als Kreml-Astrologe betätigen und überlegen, wie das zustande kommt? Denn es gibt für diese wirklich gespenstische Leichtigkeit, mit der mir dieses Visum gegeben wurde, auch eine ganz harmlose Begründung. Jedes Kind in der DDR weiß: Wenn das Politbüro einmal beschlossen hat, daß dieser Mann fährt, dann ist jede Behörde, die darunter steht, im Stile der größten Devotion bereit, alles zu tun.
SPIEGEL: Sie schildern Behörden, die sich vor Eifer überschlagen, wenn das Politbüro entschieden hat.
BIERMANN: Richtig.
SPIEGEL: Sie haben erlebt, wie Ihnen der Staatssicherheitsdienst Tag für Tag auf den Fersen war ...
BIERMANN: Und nun wollen Sie fortfahren: Wie kommt es, daß Sie dann dieses Land so schön finden und nach dorthin wieder zurück wollen?
SPIEGEL: Das wollten wir fragen.
BIERMANN: Weil diese Gesellschaft mit ihren Geschwüren meine Gesellschaft ist, in der ich lebe, die ich kenne, in deren Prozeß ich mich einmische, die zudem einen Versuch macht, den man mit dem Schlagwort »Sozialismus« bezeichnet, einen Versuch, der meiner Meinung nach der ganzen Menschheit bevorsteht, wenn sie nicht in Barbarei untergehen will.
SPIEGEL: Aber dafür können Sie notfalls auch in der Bundesrepublik kämpfen.
BIERMANN: Sie müssen es einmal von meiner persönlichen Lage her sehen. Ich bin jetzt 40 Jahre alt. Ich bin, was die Entwicklung meiner politischen und künstlerischen Tätigkeiten betrifft, schon ziemlich fest. Ich kann mich zum Beispiel nicht mehr mit der Erschütterung des Gemütes über die Zustände in den kapitalistischen Ländern erregen, die nötig ist, um mich überhaupt zu der für mich großen Anstrengung zu treiben, etwas zu schreiben. Das fällt mir nämlich sehr schwer. Was mich dazu treibt, das ist mein heftiges, schmerzhaftes, wie ich hoffe: intelligentes, empörtes Interesse an der Gesellschaft, die sich sozialistisch nennt, von der ich auch mehr verstehe. Ich kenne ja Ihre Gesellschaft auch nur sehr oberflächlich und bin jetzt leider gezwungen, sie etwas genauer kennenzulernen.
SPIEGEL: Und dennoch werden Sie sich in dieser Gesellschaft einrichten müssen.
BIERMANN: Nein, ich werde es nicht müssen, und ich werde es auch nicht tun.
SPIEGEL: Heinrich Böll hat es auf die Formel gebracht, Sie seien -Heimatvertriebener.
BIERMANN. Das Wort ist mir peinlich, weil ich da immer an die Heimatvertriebenen denken muß, mit denen die Reaktion, die Rechten in Deutschland so viel Schindluder getrieben haben. Aber auf jeden Fall kennzeichnet das Wort »Exil« meine momentane Lage exakt.
SPIEGEL: Böll hat auch gesagt, Sie würden in den linken Gruppen hier keine neue Heimat finden.
BIERMANN: Logisch, das stimmt, auch wenn diese linken Gruppen in dem besseren Zustand wären, den ich ihnen wünsche, also nicht in dem Zustand dieser hoffnungslosen Zersplitterung, der jetzt ist und nicht bleiben muß. Und ich bin froh, daß mein Auftritt in Köln offensichtlich eher integrierend gewirkt hat -- wie integrierend, das wird sich jetzt erst zeigen.
SPIEGEL: Könnte das eine neue Aufgabe für Sie sein?
BIERMANN: Zumindest ist es für mich eine erfreuliche Nebenerscheinung.
SPIEGEL: Sie sagen, Sie finden sich mit dem Exil nicht ab. Was können und was wollen Sie dagegen unternehmen?
BIERMANN: ich weiß es nicht. Mein Wunsch, so bald wie möglich wieder in mein Land zurückzukehren, ist zu groß, als daß ich darüber im Moment vernünftige Überlegungen anstellen könnte.
SPIEGEL: Von wem erwarten Sie Hilfe?
BIERMANN: Die wichtigste Unterstützung, die ich mir nicht erhoffen muß, weit ich schon längst gemerkt habe, daß sie existiert, ist die Unterstützung der kommunistischen Parteien Frankreichs, Italiens, Spaniens und, was das erfreulichste ist, auch vieler Kommunisten der DKP hier in der Bundesrepublik; von den Leuten, die in unserem östlichen Jargon immer fortschrittliche humanistische Kräfte genannt werden, gar nicht zu retten.
SPIEGEL: Wen meinen Sie damit?
BIERMANN: Leute wie Heinrich Böll.
SPIEGEL: Was sagen denn Ihre kommunistischen Liedermacher-Kollegen in der Bundesrepublik, die bisher kühle Distanz zu Ihnen gehalten haben? Was sagt Dieter Süverkrüp, was sagt Franz Josef Degenhardt?
BIERMANN: Das weiß ich noch nicht, darauf bin ich sehr gespannt. Was jetzt passiert ist, bedeutet eine günstige Gelegenheit für diese »Kollegen, ihre frühere Position nochmals zu überdenken.
SPIEGEL: Nun gibt es aber Kommunisten, die wie Sie negative Erscheinungen in der DDR deutlich sehen, sie aber damit erklären, daß sie beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus unvermeidlich seien. Teilen Sie diese Ansieht?
BIERMANN: Nein, dann wäre ich ja fast so etwas wie ein Menschenfeind, wenn ich das den anderen Völkern auf den Hals wünschen und es ihnen sogar noch in Form eines allgemeinen gesellschaftlichen Gesetzes andrehen würde. Aber wenn die Linken in der Bundesrepublik nur die Gnade haben wollten, zu erkennen, zu begreifen, zur Kenntnis zu nehmen, was für schmerzhafte und kostbare Erfahrungen in dieser Hinsicht in der DDR gemacht werden! Dann könnten sie vielleicht als die Spätergekommenen, die immer etwas schlauer sind, unter Ausnutzung der Tat-Mache, daß sie in einem sehr reichen Land leben mit einer großen Arbeiterklasse, diesen Weg weniger kompliziert und unter weniger schweren Bedingungen gehen als die DDR, mit weniger notwendigen und auch nicht notwendigen Fehlern. Darin sehe ich auch die unmittelbare Funktion meiner Lieder für die Bundesrepublik.
SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, daß das, was man bei Ihnen zu Hause Sozialismus nennt, sich immer mehr zu einer Behinderung für sozialistische Bewegungen in West-Europa entwickelt?
BIERMANN: Das halte ich nicht nur für möglich, das ist längst so. Was die linke Bewegung, abgesehen von eigenen Dummheiten, gerade in der Bundesrepublik so ungeheuer erschwert, das ist so dicht vor der Nase das abschreckende Beispiel einer bürokratisch deformierten Gesellschaft, die sich sozialistisch nennt. Die westdeutsche Arbeiterklasse, der größte Teil der Bevölkerung, bildet sich ihr Urteil über die Chance einer sozialistischen Veränderung der eigenen Gesellschaft nicht aus dem Studium irgendwelcher theoretischen Schriften, sondern aus der Beobachtung der Wirklichkeit, wie sie sich ihr darstellt und in den Massenmedien dargestellt wird. Da haben natürlich die Leute nicht irgendwelche utopischen sozialistischen Modelle im Auge, sondern das sehr reale Modell des DDR-Sozialismus.
Sie sehen, daß dort die Menschen weniger Freiheit haben, sich zu äußern, als in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie sehen, daß dort die Gesetzlichkeit gegenüber der einzelnen Person immer wieder in der brutalsten Weise verletzt wird. Sie sehen, daß diese Gesellschaft im Grunde sehr ähnliche Zielvorstellungen hat und durchsetzt wie die bürgerlichen Wohlstandsgesellschaften. Sie sagen dann natürlich, wie auch viele DDR-Bürger übrigens: Dann wollen wir lieber das Original und nicht die klägliche Kopie.
SPIEGEL: Bei dieser mangelnden Gesetzlichkeit ist Ihre Ausbürgerung da nicht ein vergleichsweise milder Akt? Man hätte Sie ja auch eine Weile einsperren können.
BIERMANN: Das ist stark untertrieben; denn geniessen an dem, was ich die letzten Jahre getan habe, hätte ich schon längst auf Nimmerwiedersehen im Zuchthaus Cottbus verschwinden müssen. Ich habe mich ja genügend oft darüber geäußert, daß ich für dieselben Gedichte, für die andere Leute in der DDR eingesperrt wurden und werden, sogar Geld bekommen habe, nämlich auf dem Umwege der Tantiemen, die die DDR in Valuta-Mark für meine Werke hier kassiert hat. Andere Leute hat sie dafür aber eingesperrt. (Siehe Faksimiles.)
SPIEGEL: Ihr Fall ist der erste einer Ausbürgerung unter so spektakulären Umständen. Halten Sie es für möglich, daß Sie nur der erste einer Reihe sind?
BIERMANN: Das will ich der DDR und mir nicht wünschen. Aber diese ganze schlimme Lawine von Leuten, die die DDR jetzt verlassen wollen, die sogenannten Ausweiser, ist natürlich durch die DDR-Behörden selber vielleicht unfreiwillig -- ins Rutschen gebracht worden, weil sie allzu schnell dabei waren, eine Reihe unliebsamer querulatorischer Leute loswerden zu wollen. Das hat natürlich wieder viele andere ermuntert, diesen Schritt auch zu gehen, und zwar viel mehr, als nun wiederum der DDR-Führung lieb sein kann.
Noch vor kurzem wurde ein Ingenieur, der einen Ausreiseantrag stellte, sofort fristlos entlassen, und er mußte als Hilfsarbeiter in die Produktion gehen. tu der letzten Zeit behält er seinen Posten, aber nicht etwa, weil die Leute, die ihn früher entlassen hätten, inzwischen gnädiger gestimmt sind, sondern weil zu viele wie er weg wollen.
SPIEGEL: Aus Ihrer Ausbürgerung ergibt sieh doch aber auch, daß Leute, die ausgebürgert werden möchten, sieh auf Ihren Fall berufen können.
BIERMANN: Das ist zu bürgerlich gedacht. Die bürgerliche Gesellschaft unterdrückt ihre Leute durch strikte Einhaltung der Gesetze. Der Feudal-Sozialismus, wie wir ihn in der DDR haben und den ich so nenne, weil er eben in seiner Herrschaftsform eigentlich wenig Bürgerliches und sehr viel Feudales hat, schert sieh einen Dreck um den Buchstaben des Gesetzes. Die fröhlich unverfrorene Zweckmäßigkeit kommt hier mehr zum Zuge als juristische Pingeligkeit.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
BIERMANN: Sehen Sie, wenn Leute sich auf Paragraphen berufen, was passiert dann? Junge Arbeiter aus Halle, die mich in Berlin besuchten, berichteten mir folgendes: In Halle wurde 1973 ein Mann auf der Straße verhaftet, der cn Pappschild trug, das er sieh gemalt hatte und auf dem stand: »Ich habe für die Freiheit von Angela Davis gekämpft, wer kämpft für meine?« Er hat dafür vier Jahre Zuchthaus gekriegt.
Im November 1974 wurde das Ehepaar Müller verhaftet. Die Frau Rita Müller war als Erzieherin entlassen worden, nachdem sie mit ihrem Mann den Antrag gestellt hatte, die DDR verlassen zu dürfen. Diese Eheleute sind mit ihren Kindern -- fünf und acht Jahre alt -- in der Nähe des Alexanderplatzes in den Rathauspassagen mit einem Schild herumgelaufen, allerdings nur eine halbe Minute lang, auf dem stand: »Wir fordern die Einhaltung der UNO-Charta, Artikel 13.«
SPIEGEL: Das ist der Artikel, der Freizügigkeit garantiert.
BIERMANN: Dieser Satz war in Englisch, Französisch und Deutsch geschrieben. Der Mann wurde zu vier Jahren verurteilt. Der Staatsanwalt ging in die Berufung und setzte durch, daß der Mann fünf Jahre kriegte. Die Frau kriegte zweieinhalb Jahre. Sie sitzt jetzt in Hoheneck und er in Cottbus. In Halle hat jemand ein weißes Handtuch aus dem Fenster gehängt, auf dem stand:« Freiheit für Luis Corvalán und für mich.« Was mit dem Mann passiert ist, können Sie sich, da Sie von n auf n+1 schließen können, leicht vorstellen.
SPIEGEL: Sie haben immer gesagt, Sie wollten nicht in die Situation dessen kommen, der im Westen sitzt und von dort aus die DDR kritisiert.
BIERMANN: Richtig.
SPIEGEL: Unterstellt, Sie müßten länger hier leben, würden Sie aufhören, die DDR zu kritisieren?
BIERMANN: Natürlich. Jetzt bin ich noch ein Stück DDR, und das wird wohl auch noch eine lange Zeit so sein. Sie können sicher sein, daß ich diese traurigen Tatsachen in der geeigneten Form auch öffentlich gemacht hätte, wenn ich in der DDR geblieben wäre.
SPIEGEL: Trotzdem haben Sie Ihren Freund Reiner Kunze, den Autor der »Wunderbaren Jahre«, bei aller Solidarität wegen seiner pessimistischen DDR-Sicht kritisiert.
BIERMANN: Kunze schreibt in seinem letzten Buch das, was ist. Aber mir als Kommunisten genügt das nicht, weil ich der Meinung bin, daß alles im historischen Kontext und in der historischen Perspektive gezeigt werden muß, auf die sich alles zubewegt und zubewegen muß und auch wird.
SPIEGEL: Und wie wollen Sie von hier aus der DDR Ihre Perspektiven vermitteln?
BIERMANN: Ich bin sehr glücklich darüber, daß die Bevölkerung der DDR -- jedenfalls ihr größter Teil -- in den letzten Tagen Gelegenheit hatte, sich von dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu überzeugen. Denn mein Auftritt in Köln, auf den sich die DDR-Erklärung meiner Ausbürgerung beruft, ist vom West-Fernsehen gesendet worden, damit alle Leute sich wirklich über das, worum es gebt, ein Urteil bilden konnten.
SPIEGEL: Das offizielle Urteil ist aber längst gesprochen.
BIERMANN: Daraus geht meiner Meinung nach hervor, daß die für die Ausbürgerung verantwortlichen Funktionäre offenbar das Schicksal des Sozialismus in der DDR mal wieder in kindischer Weise mit ihrem persönlichen Schicksal verwechseln, mit ihrer persönlichen Macht, um die sie allen Grund haben zu zittern.
SPIEGEL: Überschätzen Sie da nicht den Einfluß jener linken DDR-Opposition, die Sie mit Ihren Liedern vertreten?
BIERMANN: Meine schändliche Ausweisung ist ein schlagender Gegenbeweis. Ich habe eigentlich immer geahnt und gewußt, daß man mich eines Tages einsperren oder aussperren wird, nämlich dann, wenn die politischen Kräfte, die in der DDR auf eine sozialistische Demokratisierung hinwirken, innerhalb der DDR selbst so stark werden und wenn die Ideen, die auch ich in Liedern ausdrücke, so zur materiellen Gewalt werden, wie ich es mir nur wünschen kann.
SPIEGEL: Vorher waren Sie für die offizielle DDR zehn Jahre lang weniger gefährlich?
BIERMANN: In der Zeit, wo die Ideen, die meine Genossen und ich in der DDR vertreten, in der Bevölkerung noch schwach waren, war es möglich, uns einfach am Rande der Gesellschaft dahinleben zu lassen -- in Gottes Namen, in Honeckers Namen. Jetzt tritt ein Zustand ein, wo es die Herrschenden nicht mehr ertragen können, uns so leben zu lassen. Das ist doch keine schwindsüchtige Wunschkonstruktion von mir, das ist einfach das Gesetz politischer Zweckmäßigkeit in einer Gesellschaft. Früher wäre es zu teuer gewesen, mich ein- oder auszusperren. Jetzt ist es offenbar schon so weit vorangegangen, daß es zu teuer wäre, mich nicht ein- oder auszusperren.
SPIEGEL: Sie hat man ausgesperrt. Andere, die Ihre Lieder singen und verbreiten, kann man einsperren. Können Sie Ihren Leuten in der DDR dieses Risiko noch zumuten?
BIERMANN: Das mutet sich jeder selbst zu, und das tut er nicht für Herrn Biermann, sondern für die Ideen, die er hat und die er in der DDR und nicht durch Abhau"n verwirklichen will. Das ist eine neue Haltung, und es ist eine Haltung, die kostbar ist. Sie wird für die DDR im politischen Sinne fruchtbar sein, je mehr sie sich verbreitet. Es ist ja, wie der polnische Dichter Jerzy Lee sagte, mit der Freiheit anders als mit den normalen Waren im Kapitalismus. Die Freiheit ist die einzige Ware, bei der der Preis sinkt, wenn die Nachfrage steigt.
SPIEGEL: Herr Biermann, wann holen Sie sich einen westdeutschen Ausweis?
BIERMANN: Hier ist mein Reisepaß, er hat noch drei Jahre Gültigkeit, bis 1979. Das ist die Frist, in der die DDR die Chance hat, ihre Maßnahme rückgängig zu machen.
SPIEGEL: Mindestens so lange werden Sie sich als DDR-Bürger fühlen?
BIERMANN: Mindestens bis dahin.
SPIEGEL: Herr Biermann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.