DIE ZEIT DER KÜSSE IST VORBEI
Einen Heizofen zur Rechten, François -Poncet zur Linken - so mußte Konrad Adenauer auf die höchste Gunst, die ihm Frankreich bisher erwies, eine ganze Weile warten. Die Garde, die ihn mit Trommelwirbel und blanken Säbeln durch einen Nebeneingang in das Palais Mazarin geleitet hatte, war an den Haupteingang geworfen worden, um dort dem General de Gaulle die Ehre zu erweisen. Und François -Poncet nutzte die protokollarische Stille, dem alten Vertrauten hinsichtlich seines ungeduldigen Freundes im Elysée -Palast Trost zu spenden.
»Das sind eben Schwankungen«, meditierte er, den schwarzen Zweispitz der Unsterblichen auf seinen Knien balancierend, »die ein Politiker mit großer parlamentarischer Erfahrung gewohnt ist. Aber ein Mann wie er ... ist wie auf dem Drahtseil.«
Adenauer nickte schwach, das unbewegte, dank Höhensonne zu milder Cadenabbia-Bräune aufgefrischte Gesicht der weißen Steingestalt des Kardinals Mazarin zugewandt, die sich in einer Nische des barocken Institut -Tempels, die Hand auf dem Herzen und die Insignien politischer Macht einem Engel überlassend, aus der Porphyrschwärze eines Sarkophags in unpolitische Sphären zu erheben scheint.
»Er ist der eigentliche Gründer von unserem Institut«, belehrte François -Poncet gesprächig seinen wortkargen Nachbarn, als dürfe man annehmen, daß er sich mit der ruhmreichen Geschichte des Institut de France, dessen Akademie für Geistes- und Politische Wissenschaften ihn nun, nach Churchill und Eisenhower, in ihre Reihen aufnehmen wolle, nicht weiter befaßt habe.
Adenauer drehte den Zylinder zwischen seinen schweren, vom Alter gezeichneten Händen. Immer noch schien er dem unerbittlichen Tischgespräch im Elysee-Palast nachzuspinnen, dessen Schlußpunkt darin bestanden hatte, daß der General die ihm auf Wunsch der Photographen entgegengestreckte Hand des Freundes nicht ergriff, sondern mißvergnügt spaßte: »Nicht nötig ...«
Indessen spann, unter dem leisen Rauschen des Heizgerätes, François -Poncet mit sonorer Flüsterstimme seine Gedanken zur Lage weiter: »Die westliche Allianz wird geschädigt ...« Er verhehlte nicht, wen er dafür verantwortlich mache.
Der Schweigen gebietende Preßluftton der Clairons begleitete den Auftritt des Generals, der nun, sehr stolz und elend aussehend, unter der Kuppel des Palais Mazarin auf einem ihm vorangetragenen Sessel einen Herrscherplatz einnahm, hoch das Kinn, und durch die rastlose fahrige Unruhe seiner Augen, Hände und Knie den Eindruck eines Mannes erweckend, der sich übermenschlichem Druck ausgesetzt sieht. Einer der Honoratioren der Akademie, altersschwach auf den Arm eines Dieners gestützt, holt den Kandidaten Adenauer aus seiner Warteposition hinter dem Ofen.
Hochgereckt, als habe es für ihn niemals einen Abschied von der Macht gegeben, steigt der 88jährige in die amphitheatralische Sitzordnung unter der Kuppel herab, wo ihn 13 Mitglieder seiner Sippe und die 40 uralten Unsterblichen der Académie Francaise in ihren ordensgepanzerten, über und über mit gelbem und grünem Laubmuster bestikkten Fräcken erwarten. Eine Gesellschaft von weißhaarigen, gichtgebeugten, mit vielerlei Hörhilfen versehenen Urgroßvätern des geistigen Frankreich, farbenprächtig anzusehen wie eine Ansammlung von Feuersalamandern - und so verblüffend, daß sich Adenauers zurückhaltender Schwiegersohn Hermann Josef Werhahn zu der Bemerkung anregen läßt: »Als mein Schwiegervater hereinkam, sank das Durchschnittsalter der Akademie.«
Ein dienstfertig gebückter Lakai versucht die lederne Sitzfläche hinter Adenauers Rücken nach vorne zu klappen, doch der Gast stößt unter dem Eindruck der allgemeinen Hinfälligkeit das Polster demonstrativ mit dem Fuß zurück und steht eine Weile, Aug' in Auge mit dem General, der den kurzsichtigen Blick nervös über ihn hinweggehen läßt.
Es ist das erstemal seit 1865, daß die Akademie einen Deutschen aufnimmt **. Es ist das erstemal, daß die Aufnahme sich nicht zwischen den Bücherwällen der Bibliothek vollzieht, wie man es selbst bei der Erwählung von Churchill oder Eisenhower noch für ausreichend erachtete, sondern unter der großen Kuppel am linken Seine-Ufer.
Als gelte es jetzt, die - wie er glauben muß - letzte Chance für ein beschwichtigendes Wort an den bewunderten Alleinherrscher wahrzunehmen, weicht Konrad Adenauer plötzlich ab von der unverbindlich höflichen Form der Festrede, der er niemals etwas abzugewinnen verstand, und pocht noch einmal an das Thema ihres Tischgesprächs. Eines Gespräches, über dem wie Pulverdampf die Nachwirkungen der Kritik lagen, die Gerhard Schröder termingerecht zur Reise seines Widersachers in der Mainzer »Allgemeinen Zeitung« an de Gaulle geäußert hatte.
»Von mancher Seite«, Adenauer erhebt Stimme und Zeigefinger, »wurde festgestellt, die Zusammenarbeit sei noch nicht so, wie sie sein sollte. Das mag richtig sein.« Doch der Vertrag sei »auf lange Frist angelegt«.
Der General vermag sich der steinernen Maske von Verdrossenheit nicht zu entledigen. Für den Moment eines Blitzlichtes nur reicht er dem geehrten Gast Frankreichs, dem draußen auf der Straße die Menschen zujubeln, die Hand, dann wendet er sich auf dem Absatz und stürmt in den blauen November-Nachmittag hinaus, von Hornsignalen begleitet. Die Zeit der Küsse ist vorbei.
Im Gedränge der Ehrengäste, die zum Ausgang streben, kann sich für ein paar Sekunden ein hochgewachsener Mann im grauen Flanell vor Konrad Adenauer halten. »Monsieur Reichskanzler«, ruft er, glücklich seine lückenhaften Zähne entblößend, »ich bin der General Koenig!«
In Adenauers Physiognomie wetterleuchtet das ferne Lächeln des Wiedererkennens. »Isch erinnere serr gut die Zeit, wo wir in Frankfurt zusammen waren.« Konrad Adenauer sagt nicht, ob auch er sich erinnert. Das Gedränge erspart es ihm, sich weiter auf den General Koenig besinnen zu müssen.
Ein Vertreter des Bundespresseamtes kann seinem Alt-Kanzler endlich den genauen Wortlaut des ärgerniserregenden Schröder-Interviews vorlegen, als die Familie geschlossen in das bei 29 Paris-Reisen bevorzugte Adenauer -Quartier im siebten Stock des Hotels »Bristol« zurückkehrt. Aber der alte Herr will das jetzt nicht mehr sehen.
»Ich bin jetzt beim Kaffeetrinken, Herr Schulze«, beklagt er sich über die erneute Erinnerung an eine Sache, die schon am frühen Morgen zu erregten Telephongesprächen mit Bonn geführt hatte. »Dat können Sie mir doch nicht zumuten, daß ich dat jetzt noch lese, wat der Herr Schröder jesagt hat.«
Noch vor Mitternacht unternimmt er erneut den Versuch, seine aller Kunstfertigkeit abholde Rhetorik als Kitt einer auch noch in seiner Gegenwart wackelnden Allianz anzuwenden. Die »Association France-Allemagne« gibt ihm zu Ehren ein spartanisches Essen im barocken Pavillon Dauphine, und lebhaft wie vom ersten Augenblick dieser 29. Reise an (die er gelegentlich als die 30. bezeichnet) springt er hinter der von Soßenflecken und Brotkrumen, bereits gezeichneten Tafel auf, den General in den Himmel zu heben. Er nennt ihn jetzt nur noch »unseren Präsidenten«, als stehe der Wahl eines Herrn über Europa nichts im Wege. »Wir alle«, ruft er, »wir Deutsche und Europäer und auch die Nicht-Europäer können Gott danken, daß dieser Mann uns gegeben ist ... Ich kann mir gar nicht vorstellen, was aus uns jeworden wäre, wenn es ihn nicht jäbe.«
Zwischendurch befällt ihn ironische Resignation: »Meine verehrten Freunde, der Mensch ist ja im Grunde genommen ein komisches Wesen.« Burin des Roziers, der Generalsekretär des Elysée-Palastes, hat ihm um diese Zeit bereits für den kommenden Morgen die Einladung zu einem zweiten Treffen mit de Gaulle übermittelt.
Wie immer schnallt Konrad Adenauer sich an, wenn er die hundert Meter vom »Bristol« zum Elysée-Palast hinüberfährt. Der Fahrer breitet ihm auf dem Fondsitz des alten Mercedes 300 das Kamelhaar-Plaid über die Knie, das hundert Meter weiter wieder von den Knien genommen wird. Wie immer erscheint, keine Sekunde zu früh, der Präsident der Republik oben auf der Freitreppe.
Vor dem Louvre, wo man mit Minister Malraux verabredet ist, um Vater Konrads Liebe zu den alten Niederländern Rechnung zu tragen, holt sich die Sippe Adenauer im November-Wind rote Ohren. So ausgiebig entwickelt sich dieses zweite Gespräch, in dem der alte Kanzler überraschend nun doch auch im Auftrag des neuen Kanzlers sprechen darf. Ludwig Erhard hat sich, so verbreitet sich mit Windeseile im »Bristol«, telephonisch von Schröders Äußerungen gegen de Gaulle distanziert und den Vorgänger ermächtigt, sich als Beauftragter Bonns zu fühlen.
Der hat im Louvre Mühe, sich nach den 55 Minuten mit de Gaulle auf einen Bilder-Diskurs zu konzentrieren, den André Malraux und der Museumsdirektor neben ihm entfachen. Versonnen blickt er auf die nackte Bathseba von Rembrandt, ein Gemälde, unter dessen Farbe sich, wie eine Röntgenspezialistin beweist, ein völlig anderes zweites Bild verbirgt.
Damit bereitet sie dem Gast kein Vergnügen, wie er offen zugibt. Bilder will er bewahrt sehen, wie er sie aus seiner Erinnerung kennt hier wie in der Politik. »In Amsterdam«, erzählt er, während seine Tochter Libet murrt, diese Führungen mit Vater seien für die Familie - schwer durchzustehen, »in Amsterdam, da hatten sie die 'Nachtwache' bearbeitet. Aber man hat mir jesagt, trösten Sie sich, nach zwei Jahren ist se wieder wie früher.« Die euphorische Zufriedenheit über ein Gespräch, in dem der mitgeschickte Bundesminister Krone nichts anderes als einen bemühten Meinungsaustausch erkennen wollte, trieb Konrad Adenauer beim darauffolgenden Essen im »Cercle Franco-Allemand« sogar schon wieder zu verschmitzten Anspielungen gegen England, dem er das einstige Desinteresse an der Montanunion vorhielt, darüber hinaus sogar zu ausgesprochenen Schäkereien.
Die Herrengesellschaft des »Cercle« sprach er mit »Meine Damen und Herren« an. Er denke, erklärte er diesen Zungenfehler, eben immer auch an die Frauen, und, der Dolmetscher übersetzte: Er habe immer die Frauen im Kopf.
»Ich gehe zufrieden nach Hause«, sagte Konrad Adenauer, während man auf den Champs-Elysées schon die Vorbereitungen für die Parade zum Gedenken an den
Sieg über Deutschland im November
1918 traf, »man wird die Folgen dieses Gespräches in wenigen Monaten sehen.« Etwas abseits stand Heinrich Krone, milden Spott im guten Onkel-Gesicht, und riet den Journalisten: »Nehmen Sie's nicht so wörtlich, nicht so mathematisch.«
Frisch wie in seinen jüngsten Kanzler-Tagen empfahl sich der alte Herr. So schnell werde er nicht mehr nach Paris kommen, ließ er durchblicken. »Die Vernunft setzt sich durch«, versicherte er dem Düsseldorfer Bank-Gesellschafter Franz Etzel, seinem früheren Finanzminister, den er beim Abschied zufällig im Foyer des »Bristol« traf. »Ich meine jetzt nich die Franzosen«, sagte er und winkte noch einmal zurück, »ich meine jewisse Deutsche.«
Etzel, einst von Adenauer als Kronprinz ins Auge gefaßt, zuckte verlegen mit den Schultern: »Er glaubt offenbar, ich gehöre zu seiner Partie.«
** Damals war der Berliner Philosoph und Aristotelesforscher Friedrich Adolf Trendelenburg (1802 bis 1872) zum Mitglied der Akademie ernannt worden.
Ehrengast Adenauer (links, stehend), applaudierender de Gaulle (Mitte, sitzend)*: »Das sind eben Schwankungen«
Adenauer, François -Poncet*: Der Freund ließ warten
* Im Kuppelsaal des Palais Mazarin; schräg hinter Adenauer, mit verschränkten Händen: SPIEGEL-Reporter Peter Brügge.
* Im Hintergrund eine Wache der Garde républicaine.