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Die Zeit, die mir bleibt ...

aus DER SPIEGEL 28/1977

Wenn der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel auf dem West-Berliner Flughafen Tegel die obligatorische Ausweiskontrolle passiert und seinen DDR-Paß vorlegt, wissen die Sicherheitsbeamten stets, wohin die Reise geht: Vogel besteigt eine planmäßige »British Airways«-Maschine nach Bonn. Dort nimmt er ein Taxi und läßt sich zum Weißdornweg 124 auf dem Bonner Heiderhof chauffieren.

In dem bescheidenen Reihen-Bungalow erwartet ihn der Hausherr: Herbert Wehner, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, der seit vielen Jahren im geheimen, auf eigene Faust und ohne offiziellen Auftrag, einen intensiven Dialog mit der SED-Spitze führt.

Anlaß der Vogel-Visiten ist fast stets jenes von beiden Seiten im Halbdunkel betriebene zwischendeutsche Geschäft, hei dem die Bundesrepublik mit harter West-Mark Ost-Berlin Ausreise-Genehmigungen für DDR-Bürger abkauft. Vor allem bei besonders heiklen Fällen, wie zuletzt beim Tausch des chilenischen Kommunisten Jorge Montes gegen elf DDR-Häftlinge, bedient sich der mit allen Vollmachten seiner Regierung ausgerüstete SED-Anwalt gern der direkten Vermittlerdienste des Bonner Fraktionsführers, der wie kein anderer Sozialdemokrat schon immer versucht hat, die »Last« zu mindern, die im Osten Deutschlands »den Menschen auferlegt wird« (Wehner).

Häufig genug hat der Ost-Berliner Kurier aber auch andere Post im Gepäck: Vogels Auftraggeber nutzen die Bonn-Reisen des Honecker-Vertrauten, um mit Herbert Wehner diskrete Botschaften über Themen auszutauschen, die zu heikel sind, als daß beide Seiten sie den Routine-Gesprächen der Regierungsvertreter überlassen möchten.

So suchte Vogel, der jederzeit direkten Zugang zu Staats- und Parteichef Erich Honecker hat, im August 1976 seinen West-Partner auf, um einen freundlichen Ukas des SED-Generalsekretärs zu überbringen: Honecker ließ wenige Tage vor dem 15. Jahrestag des Mauerbaus mitteilen, die SED werde das Jubiläum nicht zum Vorwand nehmen, das zwischendeutsche Verhältnis durch spektakuläre Aktionen zu belasten. Wehner möge dies doch bitte Kanzler Helmut Schmidt übermitteln.

Auch für das erste Treffen zwischen einem westdeutschen Regierungschef und dem obersten Einheitssozialisten leistete der SPD-Mann Vorarbeit. Über seine Ost-Drähte nahmen Schmidt und Honecker Fühlung auf, ehe sie, im Sommer 1975 bei der KSZE-Schlußrunde in Helsinki, ihr gesamtdeutsches Gipfelgespräch führten.

Daß ausgerechnet Herbert Wehner im geheimen Ost-West-Dialog eine Schlüsselrolle spielt, kommt nicht von ungefähr. Seine Kontakte zu Spitzenleuten der DDR lassen sich nur erklären, wenn man weiß, daß die jungen Kommunisten Herbert Wehner und Erich Honecker schon 1934 an der Saar miteinander gegen Hitler-Deutschland kämpften; wenn man zudem weiß, daß der SPD-Bundestagsabgeordnete Wehner schon in den frühen fünfziger Jahren Informationsgespräche in Ost-Berlin führte -- zu einer Zeit, als Verbindungen zu den Mächtigen jenseits der Zonengrenze auch für Sozialdemokraten noch tabu waren.

Von Wehners Kontakten, in denen der SPD-Politiker schon früh sein offensives Deutschlandkonzept vorbereitete, wußten Gesichertes nur wenige. Erst heute -- mit Hilfe von Zeugen, die früher eisern schwiegen, anhand von vertraulichen Papieren und geheimen Akten, die bisher unter Verschluß lagen -- hellen sich die Motive hinter den oft widersprüchlich scheinenden Aktionen des Mannes auf, der wie kein zweiter westdeutscher Politiker der Bonner Deutschlandpolitik Richtung und Inhalt gegeben hat.

Jetzt auch läßt sich darstellen, wie der frühere KPD-Spitzenfunktionär gleich nach dem Kriege den Weg zur SPD fand, in den engsten Kreis um den damaligen Parteivorsitzenden Kurt Schumacher gelangen konnte und weshalb der erklärte Anti-Kommunist Schumacher dem Neuling bestimmenden Einfluß auf die Wiedervereinigungspolitik der SPD einräumte.

Nach 35 Jahren förderte der SPIEGEL aus den Kellern schwedischer Archive jene geheimnisvollen Dokumentenbände zutage, aus denen sieh erstmals der umstrittenste Abschnitt im wechselvollen Leben Herbert Wehners präzise nachzeichnen läßt -- sein Tun und Lassen als Illegaler in Schweden während des Krieges.

In diesen Akten findet sich die präzise Antwort auf den härtesten Vorwurf politischer Gegner von rechts und links, Wehner habe in seinem Stockholmer Spionageprozeß 1942 seine damaligen Genossen verraten und damit an Hitlers Gestapo ausgeliefert.

Die bislang unbekannten Fakten aus der Lebensgeschichte fügen sich mit neuen Details seiner politischen Karriere zu einer klaren Auskunft auf die Frage, was den Politiker Wehner von Jugend auf angetrieben hat und warum ihn auch heute noch die deutsche Frage nicht losläßt. Warum er, scheinbar wider alle Vernunft, Fäden ins andere Deutschland nicht abreißen lassen will. üble Nachrede von rechts.

Bei seiner besonderen deutsch-deutschen Geheimdiplomatie ist der Bonner Spitzengenosse nicht allein auf Anwalt Vogel angewiesen. Er kann sich für solch diffizilen Verkehr ältere Beziehungen zunutze machen, Bekanntschaften, die bis in hohe Ränge der SED-Hierarchie reichen.

Am 23. April dieses Jahres verstarb in Ost-Berlin, 73jährig, der SED-Funktionär Erich Glückauf, Altkommunist aus Wittlich an der Mosel, ein hierzulande nur Eingeweihten bekannter Mann, der seiner Partei bis zum Tode als Spezialist für West-Arbeit diente -- unauffällig, aber einflußreich. Nach Aufbau-Aufgaben in der DDR-Provinz übernahm der Partei-Journalist Glückauf 1958 die Leitung der West-Abteilung im Zentralkomitee der SED. Nebenher saß er zwischen 1961 und 1969 im Politbüro der Exil-KPD in Ost-Berlin und blieb auch nach seiner Pensionierung als ZK-Abteilungschef als Mitarbeiter des ZK-Instituts für Marxismus-Leninismus seinem West-Metier treu. Nicht zufällig sprach den Parteinachruf Heinz Geggel, der als Sekretär der West-Kommission beim SED-Politbüro mit Deutschland-Fragen befaßt war.

Diesem »treuen und unermüdlichen Kämpfer für Frieden und Sozialismus« (ZK-Kranzschleife) war Herbert Wehner schon früh begegnet: in Berlin Anfang der dreißiger Jahre. Die jungen Männer, beide noch keine 30, dienten damals in verschiedenen Funktionen dem KP-Führer Ernst Thälmann -- Glückauf als Sekretär der KPD-Reichstagsfraktion, Wehner als Technischer Sekretär des Thälmannschen Politbüros im Karl-Liebknecht-Haus am Berliner Bülowplatz.

Sie trafen sich wieder nach dem Verbot der KPD 1934 im Saargebiet. Das ZK der Exilpartei hatte Wehner dorthin entsandt, um bei den Saar-Kommunisten eine Parteidirektive durchzusetzen: Sie sollten -- entgegen ihren früheren Plänen -- bei der Volksabstimmung Anfang 1935 gemeinsam mit der SPD gegen den Anschluß ans Reich kämpfen. Helfer bei der schwierigen Aufgabe, den widerstrebenden Genossen den abrupten Kurswechsel zur Volksfront mit den bis dahin erbittert bekämpften Sozialdemokraten plausibel zu machen, war Erich Glückauf, damals nach eigenem Zeugnis Chefredakteur der kommunistischen »Arbeiterzeitung« in Saarbrücken.

Sechs Jahre später begegneten sich die beiden in Schweden wieder: Glückauf, nach Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg über Norwegen in das neutrale Land ausgewichen, redigierte das Emigrantenblatt »Politische Information«; Wehner, aus Moskau nach Stockholm entsandt, bereitete den Wiederaufbau einer neuen illegalen KPD-Leitung für Deutschland vor.

Nach Kriegsende trennten sich die Wege: Glückauf ging in die Sowjetzone und machte SED-Karriere, Wehner, noch in Schweden aus der KPD ausgeschlossen, trat im Westen der SPD bei und stieg rasch auf.

Gleich 1949 im ersten Bundestag übernahm er den Vorsitz des Ausschusses für gesamtdeutsche Fragen, in jener von der Hoffnung auf baldige Wiedervereinigung bestimmten Zeit eines der wichtigsten Parlamentsgremien. Sozialdemokratische Ausschußmitglieder erinnern sich, daß ihr Vorsitzender schon in den fünfziger Jahren Sitzungen in West-Berlin zu Abstechern in den Ostsektor nutzte. Neugierigen Fragern beschied er einsilbig, er wolle sich bei »polnischen Journalisten« informieren. Mehr verriet er nicht.

Als dann in den sechziger Jahren die SPD-Führung, dem Drängen Wehners folgend, dem direkten Gespräch mit der SED nicht länger auswich, saß Glückauf als Westdeutschland-Spezialist im Ost-Berliner Apparat.

Zwar scheiterten 1966 noch die Verhandlungen über einen Redneraustausch zwischen SPD und SED. Aber das Unberührbarkeits-Tabu, unter dem die Einheitssozialisten bis dahin standen, war abgebaut. Neben der fortdauernden öffentlichen Konfrontation entwickelte sich zwischen SED und SPD ein nichtöffentlicher Meinungsaustausch mit Hilfe von Vertrauensleuten beider Seiten. Solche verdeckten Beziehungen wurden um so wichtiger, je mehr sich nach dem Regierungseintritt der SPD 1966 und dem Beginn der neuen Bonner Ostpolitik auch das zwischendeutsche Verhältnis zu entkrampfen begann.

Nun kamen Wehners alte Bekanntschaften erstmals auch der offiziellen Bonner Politik zustatten. Gelegenheit zu vertraulichen Begegnungen bot sieh in West-Berlin, wo der schwedische Generalkonsul Sven Backlund, heute Botschafter in Bonn, und sein Landsmann, der frühere Opernsänger Carl Gustaf Swingel, offene Häuser für Ost-West-Séancen führten. Als Sendbote diente Wehner gelegentlich auch der heutige SPD-Schatzmeister Wilhelm Dröscher, der mehrmals in die DDR reiste.

Bisweilen setzte Herbert Wehner sogar Stieftochter Greta Burmester, seine engste Mitarbeiterin, in Marsch. Mit dem Familien-Auto fuhr sie als Kurier ins andere Deutschland. Bis heute gelang es Wehner zu verschleiern, wem Greta die vertraulichen Botschaften zu überbringen hatte: Erich Glückauf, dem alten Bekannten aus Berlin, Saarbrücken und Stockholm.

Selbst engsten Parteifreunden blieb verborgen, daß Glückauf einer der wichtigsten Mittelsmänner war, über die ihr Spitzengenosse seine deutschdeutschen Fern-Gespräche mit den SED-Oberen führte.

Auch Wehners bislang spektakulärste gesamtdeutsche Aktion, seine Begegnung mit dem SED-Chef Erich Honecker Ende Mai 1973 in der Schorfheide bei Ost-Berlin mit ihren nahezu konspirativen Begleitumständen, konnte nur zustande kommen, weil der Fraktionsvorsitzende als einziger Bonner Politiker über exklusive Informationskanäle verfügt. Ob nun Glückauf, Anwalt Vogel oder ein anderer Zwischenträger in die Vorbereitungen eingeschaltet waren, die Geheimhaltung funktionierte so perfekt, daß selbst führende Sozialdemokraten erst von der Mission erfuhren, als Wehner schon in Ost-Berlin eingetroffen war -- durch die DDR-Nachrichtenagentur ADN.

Bis heute nimmt Herbert Wehner in Kauf, daß ihn seine deutschen Aktivitäten ins Zwielicht rücken. Unionspropagandisten, vor allem aus der CSU, werden nicht müde, die Lauterkeit der Wehnerschen Motive anzuzweifeln. Immer wieder spielen die Konservativen auf die kommunistische Vergangenheit des SPD-Fraktionsvorsitzenden an, stellen seine Abkehr vom Kommunismus in Frage und unterstellen rundweg, er arbeite der SED in die Hände.

Das CSU-Organ »Bayernkurier« stellte sogar einer Ex-Kommunistin, der Witwe des in Moskau umgekommenen Mitglieds im KPD-Politbüro Heinz Neumann, fast eine ganze Seite zur Verfügung, um ihren aus persönlichem Leid gewachsenen Haß gegen die Stalinisten auf Herbert Wehner abzuladen.

»Ich habe erlebt«, so schrieb Margarete Buber-Neumann in der Hauspostille des CSU-Chefs Franz Josef Strauß, »wie die Gruppe um Ulbricht und Wehner die Geschäfte Stalins besorgte, wobei Wehner sich besonders dadurch hervortat, daß er deutsche Genossen, die von der »Generallinie' der Partei abwichen, denunzierte.«

Die üble Nachrede ist allzu billig gegen einen Mann, der sich stets zu seiner Vergangenheit als führender KP-Funktionär bekannt und nie verschwiegen hat, daß er in einer Phase seines Lebens davon überzeugt war, für die Interessen der deutschen Arbeiterklasse lasse sich am wirksamsten in der KPD kämpfen. »Die werden mir die Haut vom lebendigen Leibe abziehen.«

Noch nach dreißig Jahren SPD-Mitgliedschaft, in denen er mehr demokratisches Engagement bewies als so mancher seiner Feinde auf der Rechten, mußte er sich im Bundestag CDU/ CSU-Zwischenrufe gefallen lassen wie den: »Sie Kommunist! Alter Bolschewist!« Bitter replizierte der Geschmähte: »Wer einmal Kommunist war, den verfolgt Ihre gesittete Gesellschaft bis zum Lebensende, und wenn es geht, läßt sie ihn auch noch durch Terroristen umbringen. Das weiß ich, das ist so, und deswegen habe ich damals Kurt Schumacher gesagt: Die werden mir doch die Haut vom lebendigen Leibe abziehen.«

Aber nur selten noch läßt sich der Siebzigjährige auf Äußerungen in eige-

* Mit dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick am 31. Mai 1973 in Honeckers Wochenendhaus.

ner Sache ein. Immer häufiger zieht sich Wehner in aggressives Schweigen zurück. Mehr denn je sind Freund und Feind heute auf Mutmaßungen über Ansatz und Absicht seiner Politik angewiesen. Und da es im Rückblick vordergründig so scheint, als habe Herbert Wehner nie anderes im Sinn gehabt als die Sozialdemokraten in Bonn an die Macht zu bringen und sie dort so lange wie möglich zu halten, erkennen seine Deuter nicht mehr, was den Alten wirklich antreibt.

Was sie Wehner als größte Leistung anrechnen -- die Regierungsfähigkeit der SPD -, war ihm nie Selbstzweck. Er sah darin vielmehr nur eine Etappe auf dem langen Weg zu seinem weitgesteckten Ziel, die deutsche Teilung zu überwinden, um dann der gespaltenen deutschen Arbeiterbewegung in einer großen Partei demokratischer Sozialisten eine politische Heimat zu geben.

Wehners Generalthema ist nicht die SPD in der Bundesrepublik. Es heißt vielmehr: demokratischer Sozialismus für Deutschland.

Diese Wunschvorstellung beherrschte den damals 34jährigen bereits, folgt man seinen im Sommer 1946 zur Selbstrechtfertigung verfaßten »Notizen«, als er im Parteiauftrag 1941 nach Stockholm kam. Damals, so schrieb er im Rückblick auf die zersplitterten linken Widerstandsbewegungen gegen Hitler, habe er »versucht, die Lage der deutschen Arbeiterbewegung kritisch darzustellen. Mir schien es unerläßlich, die Auffassungen über die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung zu diskutieren, um aus der Diskussion zu gemeinsamen Handlungen gegen das nationalsozialistische Kriegsregime zu kommen und damit den Grund zu einer neuen, unabhängigen sozialistischen Arbeiterbewegung zu legen« -- zu einer »freien sozialistischen Arbeiterbewegung« unabhängig von Moskau.

»Mein Traum', so Wehner an anderer Stelle der Niederschrift, »war die

Bildung neuer, aus verschiedenen Richtungen der Arbeiterbewegung zusammengesetzter Kampfzentren gegen den Nazismus, aus denen die Grundelemente einer gegen Schluß des Krieges selbständig hervortretenden und ihren Einfluß geltend machenden neuen Arbeiterbewegung hervorgehen sollten.« Die SPD --

Volksfront in einer Partei.

Diesen Traum bewahrte sich auch der Sozialdemokrat Wehner über die Teilung Deutschlands und die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der Sowjet-Zone hinweg.

Im Februar 1957 warf er dem SED-Chef Walter Ulbricht im SPD-Organ »Vorwärts« vor, »die gesamtdeutsche Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse völlig verkannt« zu haben: »Sollen die Möglichkeiten, die für die sozialistische Arbeiterbewegung Deutschlands und für die internationale Völkerverständigung darin liegen, daß in einem vereinigten demokratischen Deutschland die breiten arbeitenden Bevölkerungsschichten Inhalt und Form des Staates entscheidend bestimmen werden, verspielt werden, weil die Führer der »Einheitspartei' in der sowjetischen Besatzungszone fürchten, sie würden im demokratischen Ringen um die Führung nicht Machtpositionen behaupten oder erhalten können, wie sie sie jetzt in einem Teil Deutschlands innehaben?«

Zwei Jahre später, im April 1959, greift er sein Leitmotiv wieder auf, diesmal in einem »Vorwärts«-Appell an die eigene Partei: »jeder Sozialdemokrat«, der am Gedanken der deutschen Einheit festhalte, »wird einst das Verdienst haben, zum Bauvolk des neuen vereinigten Deutschlands und zu den Vorkämpfern der Einheit der Arbeiterklasse gezählt zu werden«.

In den 18 Jahren seit jenem Aufruf hat Wehner zwar Vokabeln wie »Arbeiterbewegung« oder »Arbeiterklasse« nach Möglichkeit vermieden. Doch läßt sich aus der veränderten Wehner-Rhetorik keineswegs auf eine Änderung seiner politischen Konstanten schließen. Der große Taktiker hatte lediglich zur rechten Zeit erkannt, daß solche Reizworte auf dem 1959 begonnenen Weg der SPD von der Klassenzur mehrheitsfähigen Volkspartei nur hinderlich sein konnten.

Aus Sorge, er könne als Anhänger einer naiven Volksfrontpolitik mißverstanden werden, weicht Wehner meist ins Unverbindlich-Unverständliche aus, wenn er heute selten genug -- zu Begriffen wie Arbeiterbewegung oder Arbeiterklasse befragt wird. Und ungefragt äußert er sich ohnehin nicht mehr zu diesem Komplex.

Als ein Journalist 1969 von ihm wissen wollte, ob »das Konzept der Einheit der Arbeiterklasse überholt oder nur diskreditiert« sei, zog sich der damalige Gesamtdeutsche Minister und Regierungspartner der CDU/CSU mit einem Kunstgriff aus der Affäre. Zunächst tat er so, als hätten nur andere, nicht aber er selbst jahrzehntelang auf dieses politische Ziel hingearbeitet: »Das Konzept der Einheit der Arbeiterklasse ist eine Arbeitshypothese gewesen und wird auch ab und zu wieder als solche einzuführen versucht.«

Dann deutete er die historische Einheitsformel, die stets die Wiedervereinigung der in Sozialdemokraten und Kommunisten gespaltenen Arbeiterklasse meinte, in eine Parole für gemeinsame soziale und politische Anstrengungen von Arbeitern und Angestellten in der Bundesrepublik um -- als sei die Spaltung, die es zu überwinden gelte, lediglich die zwischen DGB und DAG.

Wehner wörtlich: »Für den politischen Kampf handelt es sich darum, die Gleichberechtigung der im Arbeiter- oder Angestelltenverhältnis stehenden Mitbürger als Staatsbürger, nicht nur in der Wahrnehmung des Wahlrechts, sondern auch dadurch zu erzielen, daß man sie instand setzt, befähigt und ermuntert, das Gewicht ihrer Zahl in die Waagschale zu werfen, um über das, was mit den gewerkschaftlichen Mitteln sie über die soziale Selbstbehauptung hinaus zu tun imstande sind, wenn sie wollen, die staatliche Ordnung politisch durchzureformieren und auszufüllen, so daß die gesellschaftliche Wirklichkeit demokratisiert wird. Das ist es.«

Erst sieben Jahre später, 1976, ließ er noch einmal durchblicken, was er wirklich denkt. Zwei Tage vor seinem siebzigsten Geburtstag hing er, milde gestimmt, in einem Interview Erinnerungen nach. Der sonst so verschlossene Mann, der kaum jemals Persönliches preisgibt, sprach plötzlich mit Stolz von seiner Herkunft: »Meine Heimat ist Sachsen, das es heute so nicht mehr gibt, und dies war die Wiege der deutschen Arbeiterbewegung.«

Und dann schlug er den Bogen zu den westdeutschen Sozialdemokraten und deklariert die SPD zu der Partei, in der die traditionelle Spaltung der Arbeiterklasse aufgehoben ist, ein Modell für all jene hüben und drüben, die mit ihm meinen, daß die Bundesrepublik eben nicht »eine Position sei auf Ewigkeit«. Wehner: »Die SPD ist für mich ... die Essenz dessen, was der alten Arbeiterbewegung vorgeschwebt hatte, in die menschenmögliche Realität umgesetzt.«

Konsequent zu Ende gedacht müßte sich also die SPD in einem wann immer, wie immer vereinigten Deutschland als eine Sammlungsbewegung verstehen, die neben Sozialdemokraten auch Kommunisten und Einheitssozialisten aufsaugt -- sozusagen Volksfront in einer Partei. Solcher Zustrom von links würde freilich diese neue SPD in eine Richtung drängen, näher dem Eurokommunismus italienischen Typs als der Sozial-Demokratie des Helmut Schmidt.

So spärlich und so verschleiernd die öffentlichen Äußerungen des Fraktionsführers zu den deutschen Fragen geworden sind, so intensiv beschäftigen sie ihn offenbar weiter. Nicht, daß er daran glaubte, noch zu Lebzeiten die Einheit von Vaterland und Klasse verwirklicht zu sehen. Ihm kommt es vielmehr darauf an, nichts zu verbauen, Möglichkeiten offenzuhalten. Als »ein Mann, der durch viel Erfahrungen und durch manche Feuer gegangen ist«, so sagte er einmal, wolle er »die Zeit, die mir bleibt, nutzen«.

Der Journalist Peter Bender, engagierter Beobachter der Deutschland- und Ostpolitik, umschreibt das mittelfristige Wehner-Konzept: »Die beiden Teile Deutschlands zu verbinden, zu verklammern, wenn möglich sogar zu harmonisieren, damit die deutschen Voraussetzungen gewahrt blieben, wenn die Wiedervereinigung international eine Chance bekäme.«

Eine öffentliche Debatte über seine Vorstellungen, wie das Verhältnis der beiden Teilstaaten zu harmonisieren sei, hält Wehner allerdings für schädlich. Typisch war seine Reaktion auf einen »Vorwärts«-Artikel vom November 1976, der »eine linke, nationale SPD-Politik« gegenüber der DDR gefordert hatte. Danach sollten die Sozialdemokraten die Ost-Republik auch ohne Gegenleistung stark machen in der Hoffnung, damit irgendwann einmal einen Kompromiß zwischen gesamtdeutsch denkenden Ost-Kommunisten und West-Sozialdemokraten möglich zu machen. Die Taktik wechselt, das Ziel bleibt.

Ein Wehner-Gehilfe formulierte als Meinung seines Chefs: Was da zu lesen stehe, sei richtig und realitätsbezogen' »offene Wahrheiten, die bisher noch nicht ausgesprochen worden sind«. Doch als der heimliche Beifall öffentlich wurde (SPIEGEL 50/1976), ließ der Fraktionsvorsitzende verbreiten, er habe mit solchen Ideen nichts im Sinn.

Es war ein Dementi nach Wehner-Art, darauf aus, die langfristigen Ziele seiner Politik aus der kurzatmigen Bonner Tagesdiskussion herauszuhalten. Die Abstinenz gegenüber der Öffentlichkeit, die er sich und seinen Mitarbeitern verordnet hat, ließ den Eindruck entstehen, der Fraktionsvorsitzende habe auf seine alten Tage die Einheitsträume endgültig verbannt.

Doch »tatsächlich«, so bekundet Günter Gaus, Bonns Vertreter in Ost-Berlin und Anhänger der Deutschlandpolitik Wehners, »ist Geduld sein beherrschender Wesenszug«. in seiner Schublade hält der Beharrliche schon seit geraumer Zeit eine in seinem Auftrag gefertigte Denkschrift verwahrt, die nach dem Zeugnis Eingeweihter im Denkansatz noch über den »Vorwärts«-Artikel hinausgeht.

Auch Peter Bender erkennt Kontinuität: Die Absicht, die Deutschen »zusammenzuführen oder wenigstens zusammenzuhalten«, ziehe »sich ohne jede Schwankung durch alles hindurch, was er von 1949 bis heute sagte und tat. Das Verfahren, mit dem er diese Ziele zu erreichen versuchte, wechselte jedoch«.

Diese geschmeidige Anpassung Wehners an sich ändernde Verhältnisse, von vielen als Kurswechsel oder gar Preisgabe des großen Ziels mißverstanden, läßt sich in vier Zeitabschnitte gliedern: > In der ersten Phase von 1949 bis 1953 hält Wehner, wie seine Partei, die Wiedervereinigung für in absehbarer Zeit erreichbar, unter der Voraussetzung, daß die beiden Teile Deutschlands nicht in die Blocksysteme der Hegemonialmächte

* Mit seinem Bruder Rudi.

USA und UdSSR integriert werden. Bestärkt durch die Stalin-Note vom März 1952 und die Vorgeschichte des Volksaufstands vom 17. Juni, hofft er, Moskau sei für eine nationalstaatliche Lösung zu gewinnen. > In der zweiten Phase von 1953 bis 1960 modifiziert er unter dem Eindruck der von Konrad Adenauer betriebenen und von der übergroßen Wählermehrheit 1953 und 1957 bestätigten Westintegration sowie der parallel dazu verlaufenden Einbindung der DDR in den Ostblock sein Wiedervereinigungskonzept. Nicht immer in Übereinstimmung mit der Mehrheit der SPD sucht er nach Wegen, die deutsche Frage über direkte Kontakte mit den DDR-Führern zu lösen. Im Deutschlandplan von 1959 gelingt es ihm schließlich, die gesamte Partei auf diese Linie festzulegen. > In der dritten Phase von 1960 bis 1966 gewinnt Wehner Gewißheit, daß weder die in West und Ost geschaffenen Tatsachen revidierbar noch mit der SPD-Deutschlandpolitik Wahlen zu gewinnen sind. Er ändert die Prioritäten und konzentriert sich darauf, den Sozialdemokraten in der Bundesrepublik zur Macht zu verhelfen, um dann, ausgestattet mit Regierungsautorität. die verfestigten Fronten zwischen Bonn und Ost-Berlin wieder in Bewegung zu bringen. Zugleich bemüht er sich, über den später gescheiterten Plan eines Redneraustauschs mit der SED die Berührungsängste seiner Partei gegenüber Kommunisten weiter abzubauen. > In der vierten Phase von 1966 bis heute gelingt über die Beteiligung an der Großen Koalition der Einzug der Sozialdemokraten ins Bonner Kanzleramt. Die Ost- und Deutschlandverträge schaffen die Grundlage, erstmals seit der deutschen Spaltung die beiden Teilstaaten zueinander in ein normalisiertes Verhältnis zu bringen. Wehner hat zumindest ein Teilziel erreicht: Er versteht die Verträge als Plattform, die alle Möglichkeiten bietet, den Partner DDR, auch wenn es der SED nicht paßt, über deutsche Angelegenheiten ins Gespräch zu ziehen.

Der Einwand der Kritiker, die SPD habe mit der Anerkennung der DDR die Teilung Deutschlands endgültig besiegelt, geht fehl. Der geschulte Dialektiker Wehner denkt weiter. Nur scheinbar paradox ist sein Ansatz, man müsse die Spaltung erst anerkennen, um sie dann überwinden zu können. Nur scheinbar paradox auch die Absicht, die Bereitschaft der DDR zu einem weitergehenden gesamtdeutschen Arrangement dadurch zu fördern, daß man sie stark und selbstbewußt macht.

Wie nahe sich dabei die Deutschen dermaleinst wieder kommen können, mag sicher auch Herbert Wehner heute nicht entscheiden. Doch gewiß ist dies »ein Feld für das Ausschwärmen von Gedanken«, wie er kürzlich -- bezogen auf den Streit um die einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft -- formulierte. »Wir sind deutsch, daraus muß man etwas machen.«

Wohin die Gedanken des sozialdemokratischen Deutschland-Propheten über die politischen Zwänge der Gegenwart hinaus gehen, glaubt Wehner-Kenner Gaus zu wissen: »Im Herzen ist Wehner ein Anhänger der nationalstaatlichen Lösung ... geblieben« -- einer Lösung freilich, die kaum Ähnlichkeit mit dem deutschen Einheitsstaat Bismarckscher Prägung hat, dem der konservative Nationalismus in der Bundesrepublik bis heute nachhängt.

Für Wehner ist der Staat kein Selbstzweck: »Wir sind deutsch, das ist nicht nur nicht zu bestreiten, daraus muß man etwas machen, und zwar nicht im Sinne von Blut und Boden. Das ist es, was mich veranlaßt, eine gewisse Distanz zu nehmen zu einem -- in meiner Ausdrucksweise -- statischen Begriff von der Nation.«

Und: »National sein können in Deutschland nur diejenigen, die ein Deutschland schaffen helfen wollen, das die Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit ausschließt.«

Staatssekretär Dietrich Spangenberg, altgedienter SPD-Deutschlandpolitiker, bringt Wehners Vorstellungen auf eine einfache Formel: »Die deutschen Arbeiter auf beiden Seiten können zusammen etwas machen.«

Wehners Deutschland, wie immer es einst verfaßt sein mag, ist also nicht Selbstzweck, sondern nur Rahmen für einen deutschen Sozialismus ohne ideologisches Korsett.

Von marxistischen Glaubenszwängen nämlich hält der Sozialdemokrat nichts. Er ist ein Sozialist ganz eigener Art, ein strikter Gegner des dogmatischen Kommunismus, aber auch nicht ohne weiteres ins überkommene Schema der stets auf Programme fixierten SPD zu pressen.

»ich wehre mich gegen Ideologien«, beschreibt er seine Position, weil er »aus eigener Erfahrung gelernt« habe, »wie hemmend Ideologien für das menschliche Zusammenleben sein können«.

Der Wehner-Sozialismus hat mit festgefügter Weltanschauung von einer idealen Weltordnung wenig zu tun und schon gar nichts mit jener Einheit des internationalen Proletariats gemein, von der die SPD-Gründerväter das Heil erwarteten. Zu bitter sind seine Erfahrungen mit der Sowjetmacht' die sich der Ideale der Arbeiterbewegung nur bediente, um von Moskau aus die »Proletarier aller Länder« fernsteuern zu können.

Eben deshalb hält der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Blachstein, seit dem gemeinsamen schwedischen Exil mit Wehner bekannt, seinen Genossen für einen »eher nationalen Sozialisten«. Ein Anti-Kapitalist gewiß, der nach dem Urteil des konservativen Publizisten Rüdiger Altmann die Meinung nicht geändert hat, »daß die Sonne im Westen untergehen wird«, dessen Sozialismus aber »sich als eine Kraft versteht, die den Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft aufhalten soll, bis er sie ablösen kann«.

In Wehners Worten: »Ich sehe also keinen Grund, Reformen mit schlechtem Gewissen zu machen, weil man von irgendeiner Doktrin aus meint, Reformen, die nicht das sogenannte System sprengten oder über es hinausgingen, seien sinnlos. Eine qualitative Änderung ist die Folge einer Summe von zunächst nur quantitativ erscheinenden Verbesserungen.« »Meine Vorliebe

für konstruktiven Sozialismus.«

Folgerichtig zielt seine Politik auf eine Vielzahl praktischer Schritte zum Wohle der Unterprivilegierten, auf allmähliche Befreiung von Zwängen und Ängsten und insofern auf eine neue Gesellschaftsordnung, die nach der Marxschen Dialektiklehre dann entstehen muß, wenn Quantität in Qualität umschlägt.

Alte wie neue Programm-Ideologen sind dem politischen Denker Wehner gleichermaßen suspekt: »Ich bin im Zusammenleben der Menschen für präzise, nachrechenbare und auch diskutable und damit also bestreitbare Programme, politische, praktische Programme.« Schon vor 30 Jahren, in seinen »Notizen«, begründete er seine Abneigung gegen dogmatische Lehrsätze mit »meiner Vorliebe für konstruktiven Sozialismus

Dieser Sozialismus ohne Dogma hält zumindest die Möglichkeit offen, die Parteien der gespaltenen Arbeiterbewegung in Deutschland, trotz verkrusteter Positionen im Grundsätzlichen, über praktische Fragen miteinander wieder ins Gespräch zu bringen. Wie anders sonst ließe sich erreichen, daß erstmals in der deutschen Geschichte das arbeitende Volk die nationale Frage zu seiner Sache macht und die Geschicke der Nation bestimmt?

Für den Sozialdemokraten Herbert Wehner muß daher der Gedanke unerträglich sein, die Konservativen könnten die Deutschlandpolitik okkupieren und die SPD aus dem Feld drängen. Nie wieder, so mahnte Wehner seine Partei, dürfe die Sozialdemokratie in die Lage geraten, »schwach zu sein, so daß sie an entscheidenden Weg-Kreuzungspunkten von anderen Kräften ausgeschaltet, beiseite gedrängt« werden könne.

Als der Ex-Kommunist vor über 30 Jahren nach dem Bruch mit der KPD aus dem schwedischen Exil zurückkehrte und in Hamburg Quartier nahm, durfte er die Hoffnung haben, die wiedererstandene SPD, die als einzige demokratische Partei bereits damals auf eine intakte Basis und einen soliden Wählerstamm bauen konnte, werde die stärkste politische Kraft im neuen Deutschland stellen.

Das bürgerliche Lager begann eben erst, sich in neuen Parteien zu organisieren, was der SPD eine erhebliche Startvorgabe zu verschaffen schien. Und auf der Linken waren die Kommunisten durch Hitler-Propaganda, Stalin-Diktatur und die bösen Erfahrungen beim Einmarsch der Roten Armee so diskreditiert, daß

es möglich sein mußte, die neue KPD als Minderheit zu isolieren und die SPD zum Sammelbecken aller Sozialisten zu machen.

Wehners Traum von der Einheit der deutschen Arbeiterbewegung, so durfte er glauben, war in jenen Tagen dabei, Realität zu werden. Dann hätte den geeinten Sozialisten eine starke, demokratisch organisierte Partei zu Gebote gestanden, um endlich die Interessen der sozial Schwachen durchzusetzen

Diese einfache Erkenntnis, Voraussetzung jeder politischen Arbeit, hatte sich dem Dresdner Schuhmachersohn nach langem Lernprozeß erschlossen. In seinen frühen Jahren glaubte Wehner noch, die kapitalistische Gesellschaft lasse sich auch ohne eigenen Machtapparat in ein humanes Gemeinwesen transformieren. Zu seinen Vorbildern zählte zwischen 1923 und 1926 Gustav Landauer, der nach dem Ersten Weltkrieg in Bayern den Obrigkeitsstaat durch ein System parteifreier Räte, eine in viele Kleinzellen gegliederte Basis-Demokratie, ablösen wollte.

In Berlin geriet der sensible Einzelgänger mit einer tiefen Abneigung gegen jede Art kollektivistischer Kameraderie unter den Einfluß des anarchistischen Menschenfreundes und Literaten Erich Mühsam, der den Staat -- gewaltlos -- als Ursache allen gesellschaftlichen Übels abschaffen wollte. In dieser Zeit arbeitete er nicht nur in der Redaktion der Mühsam-Zeitschrift »Fanal« mit, er warb auch als Redner für die Ideen russischer Anarchisten. So kündigte die »Anarchistische Vereinigung Berlin« für den 18. November 1926 in einer »Fanal«-Anzeige den »Gen. Herbert Wehner« mit einer »Vorlesung und Aussprache« zum Thema »Zurück zu Bakunin!« im Lokal Köhler, Berlin-Neukölin, Ziethenstraße 64, an.

Die KPD als »Möglichkeit, organisiert etwas zu tun.«

»Nur«, so bekannte der Siebzigjährige 1976, »mich hat es damals gedrängt, etwas zu tun und nicht nur zu reden und nicht nur zu deklarieren.« Die Anarchisten, die nichts taten, sondern nur redeten, mußten ihm bald als wirklichkeitsfremde Weltverbesserer erscheinen.

1927 trat Wehner in die KPD ein. Fast 50 Jahre später beschrieb er seinen Schritt als »die Möglichkeit, organisiert etwas zu tun«.

Denn daß man den Kapitalismus nicht ohne politische Organisation bekämpfen kann, wie es seine früheren Freunde wollten, war dem Gefühls-Sozialisten aus Sachsen inzwischen klargeworden. Und zu den Sozialdemokraten konnte er damals kaum gehen, ohne sich selbst zu verraten. Die SPD war die Staatspartei von Weimar, sie trug den Staat, den Wehner abschaffen wollte, und ließ überdies auf Arbeiter schießen. Was lag da näher, als sich der Kommunistischen Partei anzuschließen, die damals -- in den euphorischen Anfangsjahren der jungen Sowjet-Union und vor dem Abstieg in die Menschenverachtung der Stalin-Herrschaft -- noch durchaus glaubwürdig versprach, eine humane Gesellschaftsordnung zu errichten?

Obwohl Neuling auf parteipolitischem Terrain, sicherten Intelligenz, Fleiß, organisatorisches und rhetorisches Talent dem jungen Wehner einen raschen Aufstieg. Bereits drei Jahre nach seinem Partei-Eintritt sitzt der 24jährige im Bezirksvorstand der KP Sachsens und als Abgeordneter im Sächsischen Landtag.

In jene Zeit fällt eine Begegnung, an die sich Ex-MdB Peter Blachstein, heute Pensionär in Hamburg, noch erinnern kann. Blachstein. Dresdner wie Wehner und damals im »Sozialistischen Schülerbund« aktiv, suchte den jüngsten Abgeordneten des Landesparlaments auf, um ihm etwas vorzutragen. Worum es dabei ging, sei ihm entfallen, erzählt der Alt-Genosse. Er wisse nur noch, wie der erfolgreiche Aufsteiger den kleinen Jugendfunktionär behandelt habe: »Sehr förmlich.«

Von Ferne hatte Blachstein seinen Landsmann schon früher bewundert: »Als Kind wohnte ich mit meinen Eltern in der George-Bähr-Straße 4, ein paar Häuser weiter wohnte die Familie Wehner.« Manchmal sah der kleine Peter »da hinten in der Straße bei den großen Jungens den Herbert Fußball spielen«. Als die Wehners in den Stadtteil Striesen umzogen, verlor Blachstein den Nachbarsjungen zunächst aus den Augen.

Wehner ("Für mich ist Dresden die Stadt") hängt auch heute noch an seiner Heimat, obwohl er sie bereits 1931 für immer verließ. Die Berliner KPD-Leitung rief den inzwischen im Sächsischen Landtag zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden avancierten Parlamentarier in die Zentrale, wo er schon um die Jahreswende 1931/32 die Funktion des »Technischen Sekretärs« des Politbüros übernahm. Obwohl er damit in eine Schlüsselstelle aufrückte, bewertete Wehner seinen Wechsel aus der Dresdner Provinz ins Berliner Machtzentrum als eine Parteisanktion: »Ich war ja sozusagen strafversetzt.« »Der Erich und der Wehner haben hier gesessen.«

Er habe sich gesträubt, berichtete der SPD-Fraktionschef im vergangenen Jahr, als Parteiführer Ernst Thälmann ihm das Amt angetragen habe. Wehner: »Ich habe gesagt, das kann ich nicht machen, ich gehöre keiner Gruppe und keinem Freundeskreis und so weiter an.«

Thälmanns Antwort laut Wehner: »Und gerade deswegen mußt du das machen, so einen Mann will ich an dieser Stelle haben, niemanden anderen.«

Ob »strafversetzt« oder nicht, ob widerstrebend oder bereitwillig an die Seite des Parteichefs aufgestiegen -- Wehner tat jedenfalls alles, um Thälmanns Erwartungen zu rechtfertigen, nämlich: »Ordnung zu schaffen«, wie er den KPD-Vorsitzenden in seinen »Notizen« zitiert.

Und der Arbeiterführer wußte den Einsatz des jungen, ehrgeizigen Funktionärs zu schätzen.

Wehner erinnert sich: In einer »persönlichen Unterredung« habe ihn Thälmann ermutigt, »mich nicht beirren zu lassen, sondern dafür zu sorgen, daß eine geordnete Arbeit durchgeführt werde, er sei mit meiner Art und Weise einverstanden und werde mich schon, wenn es notwendig sei, unterstützen«.

In dem knappen Jahr bis zum KPD-Verbot nach Hitlers Machtübernahme bewährte sich der Mittzwanziger beim »Ordnung schaffen«. Er brachte desorganisierte Parteibezirke auf Vordermann, gründete Betriebszellen, trat überall im Reich als Schulungsredner auf und kurbelte in den heißen Wahlschlachten der Krisenjahre 1932/33 für Thälmann die Parteimaschine an.

Auch in der Untergrundarbeit gegen den soeben etablierten Hitler-Staat war er so erfolgreich, daß ihn im Frühsommer 1934 das nach Paris emigrierte Politbüro mit einer wichtigen Sonder-Mission betraute. Als »Beauftragter des Zentralkomitees« sollte Wehner in der Saar-KP eine neue Parteilinie durchsetzen. In einer auf den 13. Januar 1935 angesetzten Abstimmung mußte die Bevölkerung des Saargebiets darüber entscheiden, ob ihre Region unter dem Mandat des Völkerbundes verbleiben, wieder dem Reich eingegliedert oder an Frankreich angeschlossen werden sollte.

Bis Ende Mai 1934 kämpften die Saar-Kommunisten noch unter der Parole »Rote Saar in einem Sowjet-Deutschland« für den Anschluß an das Reich. Mit ihren sozialdemokratischen Klassenbrüdern lieferten sie sich erbitterte Saalschlachten, so im Saarbrücker Volkshaus, wo die Kontrahenten mit Stuhl- und Tischbeinen aufeinander losgingen.

Im Gegensatz zur KP empfahlen die Sozialdemokraten schon seit 1933 eine Stimmabgabe für den Status quo, um diesen letzten Hitler-freien Teil Deutschlands dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen. Erst Anfang Juni ging auch die KPD -- von einem Tag auf den anderen -- auf Status-quo-Kurs, behielt aber zunächst noch ihre Propaganda gegen die SPD-Führung bei.

Die Parteileitung erging sich in wüsten Beschimpfungen: »Die Sozialdemokratie, die Geburtshelferin des Versailler Sklavenpaktes und der blutigen Hitler-Barbarei hat dem deutschen Volke das faschistische Joch und den Werktätigen der Saar die Völkerbundsbedrückung auf die Schultern geladen.« Die SPD sei »der getreue Schildknappe des Faschismus« und ihr Saar-Vorsitzender Max Braun »Saboteur und Schädling an der kämpfenden proletarischen Einheitsfront«.

Die Kommunisten hofften damals, ihrer traditionellen Politik getreu, die SPD-Spitze zu isolieren und die sozialdemokratische Basis in eine KP-beherrschte sogenannte Einheitsfront hineinzuziehen, nach der Parole: »Einheit unserer Klasse unter unserer Führung.«

Gleich nach seiner Ankunft in Saarbrücken im Juni machte sich Wehner, wie es ihm das Politbüro vorgeschrieben hatte, daran, »eine Veränderung des Verhältnisses der Partei zur Sozialdemokratie herbeizuführen und die Fortsetzung der sogenannten Taktik der »Einheitsfront von unten' ... zu unterbinden« ("Notizen").

Binnen weniger Tage muß es dem Beauftragten des ZK offenbar gelungen sein, die Genossen umzudrehen. Bereits am 28. Juni kündigte die kommunistische »Arbeiterzeitung« ihren Lesern eine Sensation an: den ersten gemeinsamen Auftritt des bis dato als »Spalter« diffamierten Sozialdemokraten Braun mit dem kommunistischen Spitzenfunktionär Fritz Pfordt.

Von diesem Tag an verlor das von Erich Glückauf, Wehners späterem Ost-Berliner Kontaktmann, redigierte Blatt kein böses Wort mehr über die Führer der Sozialdemokratie. Die neue »antifaschistische Front« kämpfte gemeinsam bis zum Abstimmungstag, konnte jedoch das 9lprozentige Votum für den Anschluß an Hitler-Deutschland nicht verhindern.

In jener turbulenten Kampfzeit lernten sich zwei Männer kennen, die viele Jahre später im geteilten Deutschland Macht und Einfluß gewannen. Auf der Suche nach entschlossenen Mitstreitern stieß der gerade 28 Jahre alte ZK-Emissär Wehner auf einen talentierten jungen Mann, den knapp 22jährigen Spitzenfunktionär des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD), Erich Honecker.

Wehner, der sich bewußt im Hintergrund hielt und während seiner Saar-Mission nicht öffentlich auftrat, schickte den begabten Jung-Agitator Honecker von Versammlung zu Versammlung. Die Eloquenz des KJVD-Funktionärs war, glaubt man der »Arheiterzeitung«, beachtlich: »Andauerndes Händeklatschen und beifallsfreudi-

* Neben ihm sein Vater Wilhelm Honecker.

ges Getrampel« begleiteten seine Auftritte.

Der Sachse und der Saarländer verstanden sich offenbar recht gut, denn Erich, Sohn eines kommunistischen Bergarbeiters, lud den Instrukteur der Parteileitung in sein Wiebelskircher Elternhaus, Neunkircher Straße 88, ein. Dort machten es sich die beiden Kampfgefährten gemütlich. Honecker-Schwager Hans Hoppstädter' der mit seiner Frau Gertrud auch heute noch im Haus Nr. 88 wohnt, erinnert sich, was seinem inzwischen gestorbenen Schwiegervater Wilhelm immer wieder einfiel, wenn der SPD-Politiker Wehner auf dem Fernsehschirm erschien: »Der Erich und der Herbert Wehner haben damals hier im Wohnzimmer gesessen, und die Oma hat Kaffee gekocht.«

Die frühe Bekanntschaft des heutigen SPD-Fraktionsvorsitzenden mit dem heutigen Staats- und Parteichef der DDR blieb nicht zuletzt deswegen so lange verborgen, weil Wehner in seinen »Notizen«, die sonst penibel beinahe jede Begegnung aus dieser Zeit verzeichnen, Honecker mit keinem Wort erwähnt, obwohl er das Saar-Kapitel sehr ausführlich schildert.

Immerhin hatte Wehner dort so etwas wie eine Volksfront zustande gebracht. Ihm mißfiel allerdings die kurzatmige Hektik, mit der seine Partei um eines Augenblick-Erfolgs willen die Saar-Aktion betrieben hatte. Es wäre ihm, schreibt er 1946, lieber gewesen, wenn sich die KPD schon früher grundsätzlich auf die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten festgelegt hätte -- ganz im Sinne der Wehnerschen Grundidee von der Einheit der zersplitterten und zerstrittenen deutschen Arbeiterklasse.

Wehner, der noch 1930 im Sächsischen Landtag parteikonform die SPD beschimpft hatte ("Ihre Politik ist mit radikalen Phrasen verbrämter Sozialfaschismus"), formuliert in den »Notizen« seine Position im Kampf um die Saar: »Die kampagnenmäßige Behandlung des Problems der Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten stieß mich ab, weil ich ... die Erkenntnis gewonnen hatte, daß die Initiative zu einer Neuorientierung der ganzen Arbeiterbewegung ergriffen werden müßte.

Im Februar 1935, der Auftrag war beendet, verließ Wehner Saarbrücken -- so unauffällig, wie er gekommen und wie er während der rund acht Monate geblieben war. Auch heute noch wundert sich der Altkommunist Karl Koble aus Wiebelskirchen: »Auch Eingeweihten im Saarland ist Wehner damals nicht bekannt gewesen.«

Mit falschem Paß reiste er durch Deutschland und die Tschechoslowakei -- nach Moskau.

Im nächsten Heft:

Die schwedischen Jahre

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