Zur Ausgabe
Artikel 5 / 87

»Die Zukunft der Atomkraft ist beendet«

Nach dem Reaktor-Unfall schwenken immer mehr Politiker auf Anti-Atom-Kurs um
aus DER SPIEGEL 15/1979

Alan Casper, Meteorologe im New Yorker Regionalprogramm der US-Fernsehgesellschaft CBS, wartete bei seinem allabendlichen Auftritt mit der heißesten Nachricht bis zum Schluß.

Erst als die Wetterfronten zwischen Los Angeles und New York, dem Golf von Mexiko und den großen Seen geklärt, die voraussichtlichen Temperaturen angekündigt waren, kam er auf den Wind zu sprechen. »In Harrisburg«, sagte er am vorigen Montag, »haben wir jetzt einen leichten Nordostwind' der mit 15 Meilen pro Stunde in Richtung New York weht.«

Während die beunruhigten Fernsehzuschauer in Manhattan gerade überlegten, wann die vielleicht längst aus dem Unglücksreaktor abgeblasene Strahlenwolke die Stadtgrenze erreichen könnte, gab Casper vorsichtig Entwarnung: »Wir haben eine gute Chance, daß der Wind heute Nacht drehen wird und die Luft aus Pennsylvania nach Norden weht.«

Auf glückliche Wetterwendungen dieser Art mochten sich allerdings viele Amerikaner aus Pennsylvania und den benachbarten Bundesstaaten nicht verlassen: Hunderttausende fuhren aufs Land, flogen zu Verwandten.

Zumindest aber achteten sie darauf, daß die Tanks ihrer Autos bis obenhin gefüllt und die Wagen stets startbereit waren. Sie müsse rasch startklar sein, hatte sogar ein Beamter der »Nuclear Regulatory Commission« (NRC) seiner Tochter in New York empfohlen.

Reporter, die nach Pennsylvania gefahren waren, um über den wild gewordenen Meiler zu berichten, wurden nach ihrer Rückkehr vorsichtshalber auf Abstand gehalten. Selbst Händeschütteln mit den vielleicht radioaktiv Bestrahlten schien manchen ein wenig zu riskant.

»Urängste kamen ins Spiel«, meinte die New Yorker »Village Voice« -- und hatte vermutlich nicht einmal übertrieben.

Aufmerksam und aufgeregt folgten die Fernsehzuschauer dem täglichen Crash-Kurs in Reaktortechnik -- und lernten dabei vor allem eins: Behörden und Reaktorbetreiber waren auf den Unfall skandalös schlecht vorbereitet: Wäre der Notfall tatsächlich eingetreten, hätten nicht einmal die einfachsten Hilfsaktionen geklappt.

Sogar die Beschaffung jener Medikamente, die manche Strahlenschäden mildern könnten, wurde zu einem beinahe chaotischen Unterfangen, das ein ganzes Wochenende dauerte und neben der zuständigen US-Bundesbehörde zwei namhafte Pharmaziefirmen, die Luftwaffe, das Heer, die Polizei in zwei Bundesstaaten, private Charterjets und eine kleine Flaschenfabrik beschäftigte.

Ins Zwielicht geriet schließlich auch der Präsident der NRC, die für die Zulassung und. Überwachung der amerikanischen Meiler zuständig ist. Joseph M. Hendrie, das stellte sich vorige Woche heraus, meint es schon seit jahren mit der Industrie ziemlich gut.

Gegen die Empfehlung seiner Experten befürwortete er 1972 ein vom Kraftwerksbauer General Electric verwendetes Kühlsystem. Seine Begründung: Ein Verbot könne »das Ende der Kernenergie-Wirtschaft« heraufbeschwören und »mehr Aufregung« verursachen, als »erträglich« sei.

Hendrie machte auch nicht mit, als seine Fachleute ihm rieten, er möge doch eine ausdrückliche Warnung vor dem manuellen Abstellen eines Hilfssystems in die Richtlinien für das Betreiben mancher Kernkraftwerke aufnehmen. Ein solcher Hinweis -- er hätte den Unfall von Three Mile Island vielleicht verhindert -- sei »nicht nützlich«. Die Anweisungen könnten leicht als »Horror-Aufzählung« mißverstanden werden.

Insgesamt 154 ähnlich fragwürdige Entscheidungen will die »Union of Concerned Scientists«, der neben etlichen Universitätsprofessoren auch eine Reihe früherer Atomingenieure angehören, dem Vorsitzenden Hendrie nachweisen können.

Gerade im Umgang mit den Meilern jener Firma, die auch den Reaktor bei Harrisburg gebaut hatte, habe sich die Aufsichtsbehörde überaus wohlmeinend verhalten. Obgleich die Reaktoren von Babcock & Wilcox »jahrelang beträchtliche Mängel« ("The New York Times") erkennen ließen, hätten die Spitzenkommissäre nichts beanstandet. Als etwa im vorigen Januar ein NRC-Inspektor seine Vorgesetzten auf die schweren Konstruktionsmängel des neuen Meilers auf der Insel im Susquehanna-Fluß hingewiesen und vor einer endgültigen Lizenzierung gewarnt habe, sei er mit der Bemerkung abgespeist worden, die Probleme seien »nicht neu«.

Neu hingegen ist, daß namhafte Politiker bereit zu sein scheinen, ihr Urteil über den Segen der Atomstrompolitik zu revidieren -- zumindest rhetorisch. So meldete sich schon kurz nach dem Unfall der ehrgeizige Gouverneur Kaliforniens, Edmund ("Jerry") Brown, dem ein ausgeprägter Sinn fürs Populäre nachgesagt wird, zu Wort und versprach, der in seinem Land arbeitende Babcock & Wilcox-Reaktor werde stillgelegt.

Einen entsprechenden Antrag lehnte Washington jedoch ab, weil die Öffentlichkeit durch den Betrieb angeblich nicht gefährdet werde. Doch der Gouverneur des volkreichsten US-Bundesstaates (22 Millionen Einwohner) war in den Schlagzeilen.

Auch ein Brown-Kollege von der Ostküste, New Yorks Gouverneur Hugh Carey, suchte sich als Atomgegner zu profilieren. In seinem Staate (18 Millionen Einwohner), sagte er, »ist die Zukunft der Atomkraft beendet«. Von der im vorigen Monat angekündigten Genehmigung eines Ausbaus der Atom-Müllager im Staate New York wollte der Gouverneur nun nichts mehr wissen.

Auch in Washington schlug der Fallout von Three Mile Island durch. Nachdem die einflußreichen Ausschußvorsitzenden Gary Hart und Morris K. Udall schon strenge Hearings angesetzt und eine gründliche Untersuchung der ganzen Nuklear-Politik gefordert hatten, sprang vorige Woche auch Senator Edward Kennedy auf den Anti-Atom-Trend.

Senator George McGovern will an diesem Montag einen Gesetzentwurf einbringen, der die Lizenzierung weiterer Atomkraftwerke bis zum Abschluß einer breit angelegten und vorurteilsfreien Untersuchung über die Gefahren der Kernenergie stoppen soll.

McGovern fand es »geradezu unfaßbar«, daß das zuständige Energie-Ministerium mit seinem Zehn-Milliarden-Dollar-Etat eine umfassende Planung für den Atommeiler-Notfall bisher nicht unternommen habe.

Pennsylvania-Senator Richard Schweiker schließlich forderte vom Präsidenten die Einsetzung einer Kommission, die alle Aspekte des Unfalls zu untersuchen habe -- eine Forderung, die das Weiße Haus zu erfüllen versprach.

Am Ende dieser Untersuchungen allerdings wird kaum ein Kurswechsel der amerikanischen Nuklear- und Energiepolitik stehen, dazu ist es vermutlich längst zu spät. Möglich sind strengere Genehmigungsverfahren, genauere Überwachung der Aufsichtsbe-

* In der Reaktorzentrale von Three Mile Island.

hörden, vielleicht gar ein allmähliches Erwachen der USA aus ihrem Energierausch, denn Amerika verbraucht allein rund 40 Prozent der Weltenergie.

Die Zukunft der Atomindustrie sei zwar »bedroht«, ihr Ende aber »nicht im entferntesten in Sicht«, schrieb, vermutlich zu Recht, das »Wall Street Journal«. Denn 12,5 Prozent des amerikanischen Stroms, jedes achte Kilowatt, werden bereits nuklear produziert. In etlichen Bundesstaaten liegt der Anteil erheblich höher, in South Carolina zum Beispiel bei 47 Prozent.

Vor allem aber würde ein Abschalten der Reaktoren, vermutlich sogar ein Verzicht auf den Bau neuer Kernkraftwerke, die Wirtschaftslage der westlichen Führungsmacht negativ beeinflussen. Die Preise, vor allem die Energiepreise, steigen mit einer zweistelligen Jahresrate, die Ölimporte belasten zunehmend die Außenhandelsbilanz.

Um diesen Druck unter Kontrolle zu bekommen, hatte Präsident Carter schon vor zwei Jahren zum Kreuzzug gegen die Energieverschwendung im allgemeinen und die Ölvergeudung im besonderen aufgerufen.

Nach einer Serie von Mißerfolgen wagte Carter am vorigen Donnerstag einen neuen Anlauf, um wenigstens einen Teil des notleidenden Programms doch noch über die Bühne zu bringen.

Das Skript für den mehrfach verschobenen Fernsehauftritt war nach dem Unfall auf Three Mile Island verändert worden: Die ursprünglich vorgesehene Passage über den Ersatz konventioneller Kraftwerke durch Atomreaktoren wurde ersatzlos gestrichen.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 5 / 87
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren