SCHEPILOW Die Zukunft hat begonnen
Seit die Welt begonnen hat, sich umzuorientieren, seit die alten Glaubenssätze der internationalen Politik überprüft werden und neue Horizonte über den verlassenen Schlachtfeldern des Kalten Krieges auftauchen, verlangt die Geschichte unbarmherzig ihre Opfer.
Als erste Sühne brachten die Moskowiter auf dem Altar jenes heute noch unbekannten Gottes, der die Zukunft regieren wird, den toten Stalin dar. Das zweite Opfer wurde nun der 66jährige Wjatscheslaw M. Molotow, einer der engsten Vertrauten des großen Verdammten und der letzte noch lebende verantwortliche Exponent der vergangenen aggressiven Epoche der sowjetischen Außenpolitik.
Der Sturz Molotows war angesichts der heutigen sowjetischen Politik unvermeidlich und deshalb voraussehbar. Pikant war allerdings der Zeitpunkt, der für den Vollzug dieses von der Geschichte gesprochenen Urteils gewählt wurde.
Gemeinsam mit Stalin war Molotow im Jahre 1948 verantwortlich für den Bruch mit Jugoslawien gewesen. Die wichtigsten Dokumente jener weltgeschichtlich bedeutsamen Tage tragen die Unterschriften der beiden.
Als vor rund einem Jahr Bulganin und Chruschtschew zur Versöhnung nach Belgrad reisten, war Molotow im Schmollwinkel zurückgeblieben. Als sich Marschall Tito jetzt zu Gegenvisite in die sowjetische Metropole begab, wurde ihm der moralische Leichnam seines größten noch lebenden Gegners als Gastgeschenk zu Füßen gelegt. Es war für Tito der größte Triumph seines Lebens. »Der Siegespokal des Marschalls schäumt über«, schrieb am Sonnabend die »New York Times«.
So unvermeidlich der Rücktritt Molotows, so sensationell der Zeitpunkt seines Sturzes war, so überraschend kam für die westliche Welt Die Wahl seines Nachfolgers, des »Prawda«-Chefredakteurs Schepilow. In der Nacht zum Sonnabend
- das Präsidium des Obersten Sowjets hatte gerade in lapidarer Kürze den Rücktritt bekanntgegeben - kabelte die amerikanische Nachrichtenagentur »United
Press« in alle Welt: »Schepilow hat mit seiner Ernennung einen Machtkampf gegen zwei leitende Politiker gewonnen, die zeitweilig in engerer Wahl für das Amt des Außenministers standen: gegen den Stellvertretenden Außenminister Andrej Gromyko und gegen Michael Suslow, den Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses des Obersten Sowjets.«
Vor allem Gromyko war in den letzten Monaten und Wochen in das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Seit den Londoner Abrüstungsverhandlungen gilt Gromyko als Vorreiter einer sowjetischen Außenpolitik, die einen Ausgleich mit den Vereinigten Staaten anstrebt. Die Berufung Gromykos zum sowjetischen Außenminister wäre deshalb eine auffordernde Geste gegenüber Washington gewesen.
Doch die Wahl der roten Bojaren im Kreml fiel auf den 50jährigen Dimitrij Trofimowitsch Schepilow, den Chefredakteur der parteiamtlichen »Prawda« - einen Protegé Chruschtschews, der ihn vor einem Jahr den Sturz Malenkows vorbereiten ließ, ihn anschließend als Sekretär in die oberste Kommandobehörde der Partei holte und ihn schließlich zum Kandidaten des Präsidiums des Zentralkomitees der KP machte.
Schepilows außenpolitische Karriere begann, als er im Vorjahr Bulganin und Chruschtschew nach Belgrad begleitete und anschließend - mit den Empfehlungen Titos ausgestattet - eine Reise in den Nahen Osten unternahm. Nassers neue Waffen sind ein Geschenk Schepilows. Sein Name ist eine Referenz bei den jungen, neutralistischen Nationen der farbigen Welt, um deren Sympathie die Sowjet -Union - in friedlichem Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten - buhlt.
Der Verzicht auf den Abrüster Gromyko deutet darauf hin, daß die Kreml-Herren den Ausgleich mit Amerika heute bereits in ihren Taschen glauben. Die Ernennung Schepilows zeigt, daß sie sich bereits jetzt mit aller Energie und Konzentration jenen Aufgaben zuwenden wollen, die eigentlich erst nach der sowjetisch-amerikanischen Verständigung an der Reihe sind: dem ideologischen und sozialpolitischen Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus um die Weltherrschaft. Für die sowjetische Außenpolitik hat die Zukunft schon begonnen.
Sowjet-Außenminister Schepilow
Referenz an das neutrale Asien