Ukraine Diener des Satans
Mit dem Auto fuhr Chomurat aus dem russischen Rjasan tausend Kilometer weit nach Kiew, auf der Suche nach seiner Frau. Natalja, 28, hatte sich im Frühjahr zur »Großen Weißen Bruderschaft« bekehrt, Mann und Kind verlassen und war seitdem verschwunden.
In der ukrainischen Hauptstadt hoffte Chomurat sie wiederzufinden. Dort harrten Hunderte Weißer Brüder und Schwestern seit Anfang November auf den Untergang der Welt.
Verstohlen musterte Chomurat die Menschenmenge, die sich bei klirrendem Frost gegenüber der Sophienkathedrale eingefunden hatte - doch von seiner Frau war keine Spur zu sehen.
»Sie sind auf Selbstmord programmiert«, bangte die Mutter eines Armeniers, der sich ebenfalls den Weißen Brüdern angeschlossen hatte. Auch sie stand Wache am Sophienplatz und hielt Ausschau nach ihrem Sohn. Einmal sah sie ihn inmitten einer weißgewandeten Jüngerschar. Zur Mutter wollte er nicht zurück.
Am vergangenen Sonntag sollte laut Brüderglauben die Welt untergehen, doch das irdische Jammertal währt weiter.
Die Sektierer waren mit dem Diesseits wohlvertraut: Die Bruderschaft verfüge über Devisen und Westwagen, hieß es in Kiew, und habe sich gegen Dollar in ehemaligen Parteijugendlagern eingemietet.
Die Anführer des Endzeit-Unternehmens waren am vorigen Mittwoch zusammen mit 59 Anhängern gegen die weltliche Gewalt unterlegen, als sie die Sophienkathedrale besetzen wollten. Trotz Fahndungsfotos erkannten die Polizisten die wichtigste gesuchte Person erst, als die Gemeinde vor ihr zu Boden fiel und ihre Füße küßte: Marina Zwigun, 33, die sich als »Maria Dewi Christos« verehren ließ. Sie hatte ihren Anhängern versprochen, vor der Kirche Selbstmord zu begehen und nach drei Tagen wiederaufzuerstehen.
Mit ihrem »Propheten« Joann Swami ("Johannes ist mit euch"), dem Kybernetik-Ingenieur Jurij Kriwonogow, hatte sie sich zu einem »göttlichen Paar« verbunden, das von den Sektenmitgliedern Ehrerbietung und Gehorsam verlangte. Dafür versprach es Rettung vor dem Jüngsten Gericht. Alle anderen sündigen Kreaturen seien verloren, verkündeten die beiden.
Vor drei Jahren hatte Marina Zwigun mit Mann und Sohn Witalij noch in Dnjepropetrowsk gelebt. Da lernte sie Kriwonogow kennen. Der ehemalige Hare-Krishna-Jünger zog mit frommen Sprüchen durch die Ukraine, einer seit der Tschernobyl-Katastrophe von realen Untergangsvisionen heimgesuchten Landschaft: Ein Stern werde vom Himmel fallen, prophezeit die Bibel als Signal des Weltendes, und die Wasser tödlich verseuchen, »und der Name des Sterns heißt Wermut«. Dieses bittere Kraut nennt sich auf ukrainisch »Tschernobyl«.
Marina Zwigun ließ alles im Stich und folgte Kriwonogow. Die »Große Weiße Bruderschaft« sollte zu den 144 000 Gerechten zählen, welche laut Offenbarung des Johannes die Apokalypse überleben werden. Bis ins ferne Kirgisien und hinter den Ural verbreitete sich die Heilslehre. Ihre Anhänger verkauften Besitz und Wohnungen und begaben sich zu Hunderten nach Kiew.
Als Marina Zwigun verhaftet wurde, beschimpfte sie die Polizisten: »Ihr seid alle Diener des Satans.« Ihre Gesinnungsgenossen traten in den Hungerstreik, um sich auf die Apokalypse einzustimmen. Die Erleuchtete hatte verkündet, 12 000 Seelen müßten am Jüngsten Tag geopfert werden, um die Menschheit reinzuwaschen: »Macht euch bereit, meine teuren Kinderlein!«
Das ukrainische Innenministerium nutzte die Gelegenheit, mit starker Hand für Ordnung zu sorgen. Verschärfte Kontrollen an den Grenzübergängen sollten das Einsickern weiterer Anhänger verhindern. Am Flughafen Borispol kontrollierten Sicherheitskräfte alle suspekten Personen. Als Verdachtsmomente genügten bei Männern schon lange Haare.
Präsident Leonid Krawtschuk drohte, den Ausnahmezustand über Kiew zu verhängen. Die Eingreiftruppe des Innenministeriums stand für Zwischenfälle bereit. Würden gar Panzer rollen, hätte die Bibel doch recht: Eisenwagen rasseln in Kapitel 9, Vers 9 der Offenbarung. Sie »beschädigen die Menschen fünf Monate lang«. Y