NS-VERBRECHEN Diese Bestien
Der Abgeordnete und Advokat Dr. Hermann Veit bat sein Auditorium: »Nehmen Sie mir meine Leidenschaftlichkeit nicht übel.« Dann hob Veits Eloquenz den baden-württembergischen Landtag weit über das ansonsten vorherrschende Provinzniveau. Veit machte das Plenum zum Tribunal und ritt (laut »Stuttgarter Zeitung") »eine Attacke für die ganze Bundesrepublik«.
Der Attackenreiter, SPD-Oppositionschef im Stuttgarter Landesparlament und ehemals langjähriger Wirtschaftsminister, hatte sich ein dankbares Ziel gewählt: die oft unverständlich milden Urteile deutscher Gerichte in Prozessen gegen NS-Gewaltverbrecher - Urteile, die nach den Worten Veits zu »größter Besorgnis um den vielgepriesenen Rechtsstaat in der Bundesrepublik« Anlaß geben.
In der Tat wurden die Ermittlungsergebnisse der seit Ende 1958 im schwäbischen Ludwigsburg arbeitenden »Zentralen Stelle zur Vorbereitung und Koordinierung der Verfolgung begangener KZ- und
Kriegsverbrechen« bislang von den bundesdeutschen Gerichten nur sehr zögernd in Urteile umgemünzt, deren Strafmaß den aufgedeckten Greueltaten angemessen ist.
Zwar verhängten die Schwurgerichte der Bundesrepublik von 1958 bis Mitte dieses Jahres gegen insgesamt 120 Angeklagte Gefängnis - und Zuchthausstrafen wegen NS-Gewaltverbrechen, und zwar in
- sieben Fällen Gefängnis bis zu fünf Jahren,
- in neun Fällen je drei Jahre Zuchthaus,
- in 50 Fällen zwischen drei und fünf
Jahren Zuchthaus,
- in 25 Fällen zwischen fünf und zehn
Jahren Zuchthaus,
- in neun Fällen zwischen zehn, und
15 Jahren Zuchthaus und
- in 20 Fällen lebenslanges Zuchthaus.
Es zeigte sich indessen, daß etliche dieser Richtersprüche gegen Urteilsschelte sehr anfällig waren. So entdeckte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland »ein Mißverhältnis zwischen einigen Urteilen über Verbrechen aus der NS-Zeit zu Urteilen über Verbrechen aus unseren Tagen«.
Und der »Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit« - Schirmherr: Theodor Heuss - machte »mit zunehmender Besorgnis« darauf aufmerksam, »daß von den Schwurgerichten der Bundesrepublik Massenmorde und Gewaltverbrechen aus nationalsozialistischer Zeit anders behandelt werden als Mordfälle sonst«.
Auch Veit entdeckte in den NS-Urteilen Straf-Maßstäbe, die sonst nirgends angewendet werden. So bestraften manche Gerichte einen Täter, der eigenhändig begangener Morde, überführt war, nur wegen »Beihilfe«, obschon die Lehre den Unterschied zwischen Täterschaft und Beihilfe präzise entwickelt hat.
Für derartige »Beihilfe« zum hundert- und tausendfachen Mord wurde nur auf Zuchthausstrafen von wenigen Jahren erkannt, selbst in Fällen, in denen der Staatsanwalt lebenslänglich beantragt hatte.
Auch sonst behandelten die Gerichte viele Angeklagte glimpflich: Sie setzten Mordverdächtige gegen Kaution auf freien Fuß (Veit: »Pro Mann, pro
Leiche eine Mark") und ließen abgeurteilte NS-Totschläger zuweilen sogar im Besitz ihrer bürgerlichen Ehrenrechte.
Der Stuttgarter Urteilsschelter: »Wie wollen wir denn noch ernsthaft verlangen, daß ein Mörder der heutigen Zeit lebenslänglich verurteilt wird, wenn wir solche Dinge einfach hinnehmen?«
»Solche Dinge« sind beispielsweise in dem Prozeß gegen Heuser, den früheren Chef des rheinland-pfälzischen Landeskriminalamts, ans Tageslicht gekommen: Die zur Hinrichtung kommandierten Menschen wurden mit Benzin übergossen und angezündet. Als eine Frau schreiend die Flucht ergriff, schleppte sie einer der SS-Männer (Veit: »Diese Bestien") auf den Scheiterhaufen zurück.
Im Heuser-Prozeß bekam der Mann wegen Beihilfe wenige Jahre Zuchthaus.
Gegen Ex-Kriminalist Heuser selbst, der wegen Ermordung von über 30000 Juden angeklagt war, wurde im Mai dieses Jahres eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren ausgesprochen.
Gegen Bastian, einen Mittäter des berüchtigten Kinderarztes Scheu aus Borkum, sprach das Schwurgericht Aurich im Juni wegen Beihilfe zum Mord in 100 Fällen eine Zuchthausstrafe von vier Jahren aus; der Staatsanwalt hatte lebenslänglich gefordert.
Gegen den ehemaligen Schleswiger Ratsherrn und SS-Sturmbannführer Fellenz schließlich, der des Mordes an 39 000 polnischen Juden angeklagt und nach Meinung der Staatsanwaltschaft für eine lebenslange Zuchthausstrafe reif war, wurde wegen Beihilfe zum Mord auf eine Zuchthausstrafe von vier Jahren erkannt. Fellenz behielt die bürgerlichen Ehrenrechte.
Empörte sich Veit: »Das ist die Anerkennung, daß der politische Mord, der von der Staatsführung befohlene Mord, etwas anderes ist als Mord schlechthin.«
Denn: Am selben Tag, als Fellenz wegen Beihilfe zum Mord an Tausenden von Juden seine vier Jahre Zuchthaus bekam, wurde in München ein Zimmermann, der seine geschiedene Frau wegen ihrer Beziehungen zu einem italienischen Gastarbeiter erstochen hatte, zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.
Eine ähnlich makabre Statistik über die Milde deutscher Gerichte hatte bereits im vorigen Jahr der Hamburger Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Koch aus eigenem Antrieb dem Stuttgarter Landtag präsentieren können.
Nachdem Advokat Veit den Stuttgartern diese Fälle vorgerechnet hatte, versuchte Baden-Württembergs Justizminister Dr. Wolfgang Haußmann, Mitschöpfer und Aufseher der Ludwigsburger Zentralstelle, Verständnis für die Justiz zu wecken. Haußmann: »Die Verfolgung der NS-Gewaltverbrechen, also die Ahndung schrecklicher Verbrechen einer rechtlosen Zeit, stellt uns alle, insbesondere die Gerichte und Staatsanwaltschaften, vor eine Aufgabe ohne Beispiel.«
Weshalb die Aufgabe so schwer ist, wußte freilich der SPD-Jurist Veit plausibler zu erklären als der Minister Haußmann: Viele Zeugen »sind plötzlich in die Lage gekommen, nichts mehr zu wissen«.
Fragte Veit, auf den Bonner Staatssekretär Vialon anspielend: »Muß man sich denn wundern, daß sie nichts mehr wissen, wenn ein ausgewachsener Staatssekretär, der jahrelang im Ostgebiet tätig war und die Finanzverwaltung dort gehabt hat, der die Berichte darüber erhielt, wieviel Kleidung von Juden dort angefallen ist ... wenn der vor Gericht erklärt, er habe von alledem nichts gewußt ...?«
Ferner: »Und dann hat es einen Gerichtsvorsitzenden gegeben, der diesen Staatssekretär vereidigt hat, und es hat einen Staatsanwalt gegeben, der den Mann nicht sofort in Haft genommen hat.«
Da die Parlamentarier nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung auf die Gerichte keinen Einfluß nehmen dürfen, empfahl Baden-Württembergs Volksvertretung den Staatsanwaltschaften aller Bundesländer, gegen allzu milde Urteile häufiger Revision einzulegen.
Ex-Kriminalist Heuser: Pro Leiche eine Mark