USA / WALLACE Diese Bewegung
Ein Mann zieht durch Amerika, klein, unscheinbar, durchschnittlich; ein Wanderprediger, der Ruhe und Ordnung verheißt, neue Größe und Freiheit von Furcht.
Auf seinem Weg durch die Staaten der Nation verherrlicht er die Kämpfer für Ordnung und Vaterland -- Soldaten, Polizisten, Feuerwehrmänner -- verdammt er Liberale und Intellektuelle, brandmarkt er das System. Er trommelt: »Das Volk soll dieses Land regieren und nicht ein Haufen Pseudo-Intellektueller, die hochnäsig auf euch und mich herabschauen.«
Seinen Gläubigen erscheint er als Künder einer glücklichen Zukunft, als Retter des wahren, des großen Amerika. 7000 jubelten ihm im Michigan-Nest Kalamazoo zu, 10 000 in der Stahlstadt Pittsburgh, 20 000 in der Demokraten-Hochburg Boston, 70 000 in Chicago, Hunderttausende im ganzen Land.
Millionen Amerikanern jedoch flößt der Präsidentschaftskandidat George Corley Wallace, 49, Furcht ein. Seine Welt erscheint ihnen als Pseudo-Ordnung der Gewalt, er selbst als historische Herausforderung des anderen Amerika, als -- unbegreiflich fast -- Führer der »ersten erfolgreichen faschistischen Bewegung in der Geschichte der USA« (so US-Kolumnist Joseph Alsop), einer Bewegung tiefergehend und bedrohlicher als Deutschlands NPD.
* Während einer Wallace-Wahlversammlung am 2. Oktober 1968 in Akron (Ohio) halten Demonstranten dem Redner Protest-Plakate entgegen.
Wenn Wallace auftritt, entfalten seine Gegner Spruchbänder, auf denen sie den Kandidaten mit Hitler, Franco und Mussolini vergleichen. In Großbuchstaben verkünden sie: »Wer Hitler mochte, wird Wallace lieben.« Im Chor intonieren sie: »Sieg Heil! Sieg Heil!« oder »Nazi! Nazi!«
Und in der Tat: Wallace ist ein Demagoge, der seine Zuhörer in Sportpalast-Stimmung versetzt, er wirkt wie ein englisch sprechender Goebbels oder Hitler. Zwar klingt sein Südstaaten-Akzent mit dem singenden Tonfall weniger gewalttätig als Hitlers böses Stakkato. Doch oft zwingt auch Wallace sein Publikum mit unreflektierten Sprüchen, ihm zu folgen.
Er ist ein Fanatiker, ein Produkt des amerikanischen Südens, dessen Leidenschaft, dessen von Baumwollplantagen und Negersklaven geprägter Geschichte und deshalb schien er im Rennen um die Präsidentschaft zunächst ein chancenloser Außenseiter zu bleiben.
Im Februar noch war der Ex-Gouverneur und Rassist aus Alabama für die »New York Times« nur ein »dummer, böswilliger Abenteurer ohne persönlichen Charme oder gesellschaftliche Einsicht«, nur neun Prozent der Amerikaner waren bereit, den Maverick, den Einzelgänger aus dem Süden, zu wählen -- und die meisten dieser Männer und Frauen waren seine Landsleute aus den Südstaaten, wo fast 40 Prozent der -- weißen -- Wähler hinter ihm stehen.
Heute indessen ist George Wallace der einzige der drei amerikanischen Präsidentschaftskandidaten, der immer noch und immer schneller neue Wähler auf seine Seite zieht. Er ist zur entscheidenden dritten Kraft geworden, er bestimmt mit. wer am 20. Januar 1969 als 37. US-Präsident vereidigt wird.
Heute schon scheint jeder fünfte wahlberechtigte US-Bürger entschlossen, für Wallace zu stimmen; heute schon sind 16 Millionen Amerikaner für Wallace, überzieht laut Wallace das »Wallace-Phänomen« die Nation wie ein Steppenbrand.
Plakatträger in Grand Rapids (Michigan) feierten Wallace als »Erlöser« ein Mann aus Maryland schickte ihm das Buntphoto seines Einfamilien-Hauses, vor dem das selbstgepinselte Schild steht: »Ich glaube an Gott, die Bibel und George Wallace.«
Und sie jubeln ihm zu, wenn er ihnen verkündet:
* »Unruhen kann man verhindern, indem man der Polizei erlaubt, die Gesetze auszuschöpfen. Wenn ein Plünderer weiß, daß er erschossen wird, dann wird er nicht plündern. > »Ich werde notfalls in der Hauptstadt 30 000 Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett aufmarschieren lassen, werde sie im Abstand von wenigen Metern postieren und sie 365 Tage im Jahr im Einsatz halten. > »Wir sollten die Kommunisten registrieren, nicht die Waffen. Verbrechen kann man nur abschaffen, wenn man die Leute ins Gefängnis steckt.
* »Wenn ich Präsident bin, werde ich meinen Justizminister anweisen einige dieser Leute, die einen Sieg des Vietcong befürworten, vor Gericht zu stellen und als Verräter einzusperren, denn genau das sind sie.
* »Wenn ich Präsident bin und einer dieser Anarchisten legt sich vor mein Auto, so ist das das letzte Ding auf dieser Erde, vor das er sich gelegt hat.«
Dann buhen die Demonstranten. Doch die Wallace-Anhänger schreien sie nieder, drohen: »Tötet sie! Hängt sie auf!«
Wallace weiß, daß diese Leute nicht zu ihm kommen, »weil ich eine so große Persönlichkeit wäre. Sie kommen zu unserer Bewegung, weil wir sagen, was sie schon lange von jemandem hören wollten ... Ich sage das, was sie glauben«.
Er sagt es ihnen immer wieder, verständlich und überdeutlich: »Wenn ich ein eigenes Haus habe, selbst gebaut und selbst bezahlt, dann habe ich das verfassungsmäßige Recht, es -- wenn ich will -- nur an Glatzköpfe zu verkaufen, oder nur an Leute mit langen Haaren, oder nur an Leute, die barfuß laufen. Das ist meine Sache und nicht Sache der Regierung.«
Dann jubeln die Wallace-Jünger. Denn sie möchten ihr Haus zwar nicht exklusiv an Langhaarige, wohl aber ausschließlich an Weiße vermieten
ein Recht, das sie nach den Gesetzen der Johnson-Regierung bald nicht mehr haben sollen.
Die Wallace-Jünger sind auch dagegen, daß der Staat farbige Kinder per Bus in die Schulen der Weißen befördert, um die Rassentrennung zu beseitigen. Also versichert ihnen ihr Kandidat: »Wenn ich Präsident bin, dann werde ich keinen Penny mehr dafür ausgeben, Kinder mit dem Bus von einer Schule in die andere zu befördern.«
Sie sind gegen wirksame Gesetze zur Waffenkontrolle -- und so ist auch George Wallace dagegen. Sie schmähen das Oberste Bundesgericht wegen seiner liberalen Urteile -- und so schmäht auch George Wallace den Chef des Gerichts, Earl Warren, »der nicht einmal genug Grips hat, die Verhandlung gegen einen Hühnerdieb ... zu führen«.
Kurz: George Wallace ist gegen alles, was Amerikas Regierungen der letzten 30 Jahre als Fortschritt werten -- weil auch seine Wähler dagegen sind. Er ist für die Polizei, für Härte gegen Kriminelle, für Steuererleichterungen -- weil auch seine Wähler dafür sind.
In der Avantgarde dieser Wähler marschieren die Vollstrecker der staatlichen Gewalt. die Polizisten. Feuerwehrleute und Soldaten. Sie fühlen sieh von Liberalen und Intellektuellen zu Unrecht als brutal beschimpft; sie verdammen jeden, der zogen, gegen Vietcong und Kriminelle die ganze Macht des Staates einzusetzen.
In Lansing, der Hauptstadt des Bundesstaates Michigan. stellte ein Polizist in Zivil den Redner George Wallace vor. Als Freundschaftsgabe brachte er Spenden von 48 Polizisten mit »dafür, daß Sie sich für das amerikanische Volk einsetzen.
In Denver trugen drei Polizisten sogar während des Streifendienstes Wallace-Plaketten, Ihnen wurde der Lohn für fünf Tage gestrichen -- doch Wallace ersetzte den Lohnausfall und versprach den Polizisten im ganzen Land, sie ebenfalls zu entschädigen, wenn sie seinetwegen Schwierigkeiten hätten.
In New York gaben sich Polizisten in Zivil als Wallace-Männer zu erkennen und prügelten schwarze Jugendliche nieder. In Pittsburgh trug der Wachhabende Nummer 531 in der Civic Arena während einer Wallace-Rede eine Wallace-Krawattennadel.
Hat George Wallace eine Rede beendet, so drängen sich die Cops nach seinem Händedruck, denn nur er verspricht ihnen. » Wenn ich Präsident bin, dann werde ich das Vertrauen in die Polizei wiederherstellen.« Nur er tadelt ihre »Zurückhaltung«, wenn sie auf einer Wallace-Veranstaltung in Cleveland demonstrierende Anti-Wallace-Jugendliche aus der Menge zerren und zu Boden werfen: »Sie hätten all diesen Leuten eins über den Kopf hauen sollen.«
Als die Meinungsforscher Stichproben unter Polizisten und Feuerwehrmännern in New Jersey und unter Soldaten in Vietnam machten, stimmten von 84 Cops 56 für Wallace (zehn für Nixon, keiner für Humphrey). Von 90 Feuerwehrleuten votierten 54 für Wallace (20 für Nixon, vier für Humphrey). Von 204 Soldaten entschieden sich 127 für Wallace (64 für Nixon, 13 für Humphrey).
Der einstige Sergeant der Luftwaffe George C. Wallace ist nicht nur das Idol der aktiven Brand- und Vietcongbekämpfer. Auch viele der über vier Millionen Amerikaner. die in den Veteranenverbänden Amerikas früherer, noch siegreicher Kriege gedenken, hoffen auf Wallace.
Als Humphrey. Nixon und Wallace vor dem grüßten dieser Verbände, der »American Legion«, sprachen, rührte sich für den Johnson-Vize kaum eine Hand. Dem einstigen Eisenhower-Vize klatschten die Legionäre nur höflichen Beifall. Aber dem rechten Wallace applaudierten sie begeistert.
Hinter den Uniformierten stehen Armeen potentieller Wallace-Wähler: die Männer und Frauen des Kleinbürgertums, Facharbeiter und Verkäufer. Vertreter und Krämer, Taxifahrer und Kellner. Sie fühlten sich ihr Leben lang vom System übergangen und empfinden es nun wohltuend, daß ein Politiker sie ernst nimmt, der einst selbst Gelegenheitsarbeiter war, während des Krieges mit seiner Frau in einem ausgebauten Hühnerstall hauste und sich zur Hochzeit eine Krawatte borgen mußte.
George Wallaces Wähler -- das sind die Millionen Weißen, die einst am Boden der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Pyramide vegetierten, arm, unterernährt, arbeitslos. Franklin D. Roosevelts New Deal und die Politik seiner demokratischen Nachfolger sicherten ihnen den Aufstieg in die untere Mittelklasse, verhalfen ihnen zu Haus und Arbeitsplatz. Fernsehapparat und Auto.
Nun aber sehen sie ihren Job, ihre kleinbürgerliche Privilegiertheit bedroht, weil von unten durch die Bürgerrechtsgesetze der Demokraten begünstigt vor allem farbige Bürger nachdrängen.
Die Führer der Gewerkschaften. die einst dem Demokraten Roosevelt halfen, stehen immer noch auf seiten der Demokraten. Die Gewerkschaftsmitglieder aber sind nach rechts gerückt, zu George Wallace. » Ich glaube, was er sagt, erklärte etwa Oliver Champau, 34, Handelsmatrose aus Milwaukee. »und ich würde sagen. 95 Prozent unserer Männer sind für ihn, egal, was die Gewerkschaftsführung meint.«
Tatsächlich entschieden sich beispielsweise am 8. August im Bezirk 558 der Automobilarbeitergewerkschaft dem Willow-Springs-Werk von General Motors in Illinois 315 Arbeiter für Wallace. aber nur 33 für Nixon. Hubert Humphrey, Favorit des Gewerkschaftschefs Waltet Real her. erhielt 15 Stimmen
Und die Arbeiter des Bezirks 52 der Klempner- und Installateursgewerkschaft fahren mit riesigen Wallace-Plakaten durch das Land, immer präsent, wenn ihr Führer erscheint.
Das Wallace-Phänomen das ist vor allem der Aufstand weißer Südstaatler gegen die Bürgerrechte und mißmutiger Industriestädter gegen das Amerika von heute.
Das Wallace-Phänomen -- das ist aber auch zunehmend der Aufstand der kleinen idyllischen Welt der Landstädte und der Provinz gegen die als Entartung empfundene Großstadtzivilisation. Etwa 25 Millionen Amerikaner leben in den Kleinstädten, 50 Millionen in ländlichen Gebieten. Für sie endet das große Amerika an den Grenzen ihres Dorfes. ihrer Stadt, ihrer engen Begriffe von Gut und Büse.
Dort leben sie noch heute wie die Männer und Frauen von »Peyton Place«, wie die Menschen jener »Kleinen Stadt« der Jahrhundertwende, die Thornton Wilder beschreibt.
Dort ist die Bibel noch immer das am häufigsten gelesene Buch, sind Sonntagsgottesdienst und Bibelstunde der gesellschaftliche Treffpunkt. Dort leben die Menschen noch immer unter der Herrschaft der Frauenverbände, wird örtliche Politik im Bridge-Zirkel oder beim abendlichen Barbecue im Freien besprochen, ist der Truthahn zum Thanksgiving Day nicht bloß Tradition, sondern ein Stück Überzeugung.
Dort blicken die Menschen mit Mißbilligung auf die Intellektuellen an der Ostküste herab, die es wagen, sich auch Amerikaner zu nennen, und Blätter wie die »New York Times« lesen, die in den Augen der Spießer nur links, liberal und jüdisch sind.
Kaum etwas ist in dieser sterilen Kleinstadt-Atmosphäre so wichtig wie der amerikanische Ahnennachweis, Honoratioren sind neben Pfarrer und Lehrer de jure jene Einwohner, die am längsten am Ort leben oder deren Vorfahren gar schon dort gewohnt haben.
So wie sie erzogen wurden, erziehen sie auch ihre Kinder, die bei den alljährlichen » Ich bin ein Amerikaner -- Tagen Szenen aus Amerikas kurzer Geschichte vorführen und wie überall im Lande -- jeden Morgen in der Schule vor Amerikas Fahne salutieren.
Das bunte Tuch steht später hinter ihnen in allen Amtsstuben, in denen Amerikaner hocken, am Mississippi wie am Rhein. Es flatterte ihnen voran beim Sturm auf Okinawa, es umhüllt ihre Särge im Mittleren Westen wie in Vietnam.
Diese Menschen, überall im Lande beheimatet, sie sind »die« Amerikaner. nicht die Fortschrittler in New York oder die geistige Elite an Kaliforniens Universitäten, nicht die rebellierenden Jugendlichen aus dem Lager Eugene McCarthys.
Die Rebellen unter 25 und die Neger machen zusammen nur etwa zwölf Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus. Den Ausschlag hei der Präsidentenwahl geben die übrigen 88 Prozent, und viele aus diesen 88 Prozent denken wie George Wallace, sehen in ihm den einzigen Politiker, der Amerika vor der Gefahr von links retten kann, die sie überall wittern.
Als Studenten der kalifornischen Berkeley-Universität den Unterrichtsbetrieb lahmlegten, entdeckte der rechte Gouverneur Ronald Reagan beispielsweise sogleich »eine Verschwörung von Elementen der Neuen Linken im ganzen Land«.
George Wallace, so analysierte die Londoner »Times«, »repräsentiert eine Neue Rechte ..., eine Antwort auf die Neue Linke, auf die Anhänger von Marcuse, die von der Jugend fordern, die Prinzipien Amerikas einfach über Bord zu werfen«.
An den Prinzipien Amerikas aber hält das Kleinbürgertum der USA fest. Für die Wallace-Wähler ist Amerika immer noch die Inkarnation von Freiheit und Recht, eine großartige Verbindung zwischen ewigen Werten und irdischer Glückseligkeit, ein starkes Gemeinwesen, nachahmenswert für alle Länder der Welt.
Inzwischen aber sind Amerikas moralische Integrität und selbst seine Stärke ins Zwielicht geraten.
Daheim folgten die Farbigen, die in John F. Kennedy noch eine Hoffnung gesehen hatten, nach den Schüssen von Dallas zunehmend radikalen Agitatoren.
Hatte Amerikas Kleinbürgertum den gewaltlosen Prediger Martin Luther King noch weitgehend gewähren lassen, der mit dem Lied »We shall overcome ... someday« (Wir werden siegen ... irgendwann) mehr Rechte für die Farbigen erstreiten wollte, so fürchtete es nun. Amerika werde in Flammen und Haß versinken: Farbige Jugendliche, von extremistischen Führern wie Stukely Carmichael aufgepeitscht, zündeten die Gettos an, verkündeten »Black power«, Schwarze Macht.
Immer häufiger sahen die Amerikaner auf ihren Fernsehschirmen brennende Städte, plündernde Farbige, demonstrierende Beatniks und Vietniks.
Für ehrbare Mittelständler war es eine Blasphemie, wenn Kriegsdienstgegner die Fahne Amerikas verbrannten, unter der sie selbst in Europa oder Asien gefochten oder -- als Einwanderer -- Freiheit und Glück gesucht hatten.
Fassungslos standen sie dem Phänomen gegenüber, daß Amerikaner in Amerikas Straßen die Fahne des Vietcong schwenkten, der täglich ihre Söhne tötet, und den Kleinbürger-Schreck Ho Tschi-minh priesen.
Die Wallace-Wähler sehen ihre heiligsten Güter bedroht, fühlen sich in ihrem nationalen Stolz gekränkt, weil die mächtigste Macht des Westens nicht mit 19 Millionen Kommunisten in Vietnam fertig wird, weil das Ansehen der Weltmacht Amerika immer weiter sinkt. Sie rufen nach neuen, nach radikalen Lösungen, um Amerika zurückzuführen zu dem, was sie unter historischer Größe verstehen.
Amerika, das weiß auch der Kleinbürger, ist selbst durch eine Rebellion entstanden, aber es war eine Rebellion gegen die Krone Britanniens. Für die Rebellen der sechziger Jahre hingegen, die Amerika jetzt in Frage zu stellen scheinen, empfinden die Wallace-Anhänger Abscheu. »Wir können diesen Pöbel nicht mehr sehen«, erregte sich Wallace-Fan Frank Swendrowski, 30, aus Milwaukee, »wir wollen, daß dieses Gesindel von unseren Straßen verschwindet.«
Und sie behandeln »dieses Gesindel« entsprechend. In Cicero beispielsweise, der Heimat Al Capones vor den Toren von Chicago, wo unter 70 000 Einwohnern immer noch kein Farbiger wohnt. entwaffneten Wallace-Anhänger gewaltsam eine kleine Gruppe von Demonstranten. Sieh dir diese vier Lesbierinnen und den Homosexuellen genau an«, warnte eine Mutter ihre Tochter. »Nehmt eure Huren und ver-
* Demonstranten mit Vietcong-Fahne in Washington.
schwindet!« schrie ein stämmiger Jung-Arbeiter. »Ich wette, die schlafen auch mit Negern, höhnte ein anderer Wallace-Fan.
Neger und Jugendliche, Asoziale und Kommunisten sind in den Augen der Spießer allein verantwortlich für die vermeintliche Anarchie und die steigende Kriminalität.
Innerhalb eines einzigen Jahres (1967), so ermittelte das Bundeskriminalamt FBI, stieg die Kriminalitätsrate in den USA um 15,3 Prozent, wurden 14,6 Prozent mehr Einbrüche. 8,9 Prozent mehr Morde verübt kennzeichnend für eine Gesellschaft, deren Leben immer noch, wie einst im Wilden Westen, von der Gewalt mitgeprägt wird, und zwar ungleich stärker als etwa die Weimarer Republik durch Freikorpsgeist und rechte Ideologie.
»Wir leben immer noch in der Legende des Wilden Westens, wo die Tal die einfachste Lösung war, formulierte der Psychologe Dr. Abrahamson vom »Institut zur Erforschung der Gewalttätigkeit« in Massachusetts, »wir hatten immer Gewalt im Blut, wir lieben sie.«
Das Prinzip vom Recht des Stärkeren gilt auch heute noch in Amerika, wo in den Haushalten zwischen Long Island und Los Angeles etwa 200 Millionen private Feuerwaffen gepflegt werden -- mehr Schnellgerät als die Ausrüstung Amerikas, der westeuropäischen Nato-Staaten und der Sowjet-Union zusammen. Da der Staat die persönliche Sicherheit nicht garantiert, rüstet sich der Bürger selbst aus.
Die Aldine Printing Company in Los Angeles, der Welt größter Produzent von Stoßstangen-Aufklebern, entdeckte als neuen Bestseller die alte Parole der rechten John Birch Society. » Unterstützt eure örtliche Polizei!« In den Städten bildeten sich Selbstschutzgruppen. Ein Vierteljahr nach dem Mord an Robert F. Kennedy erreichte der Waffen-Umsatz neue Rekorde.
Aus dem Kriminalitätsbericht des FBI zitieren die Wähler auf der Rechten vor allem zwei Zahlen, die ihre Vorurteile zu bestätigen scheinen: Obwohl die Neger nur knapp zwölf Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, wurden 1967 mehr farbige Mörder (4863) als weiße (3200) verhaftet. Außerdem: Nur 22,4 Prozent aller Verbrechen wurden aufgeklärt, und diese Zahl sinkt weiter.
Immer lauter wurde der Ruf nach »law and order«, nach drakonischen Strafen für Missetäter aller Art:
* Fast 70 Prozent der Amerikaner verlangten in einer Meinungsumfrage, Plünderer müßten auf der Stelle erschossen werden.
* Mehr als die Hälfte aller US-Bürger verlangten mehr Vollmachten für die Polizei.
* Fast 60 Prozent aller Befragten billigten das Vorgehen der Cops von Chicago, die im August während des Demokratischen Parteitags Hunderte, auch viele Unbeteiligte, niedergeknüppelt hatten.
New Yorks liberaler Bürgermeister John Lindsay warnte, wenn die Gesellschaft Unruhen nur mit Repression beantwortete, »dann werden wir vielleicht eines Tages zu wählen haben zwischen dem zufälligen Terror der Kriminellen und dem offiziellen Terror des Staates, dann werden wir eines Tages offen und freimütig zugeben müssen, daß das große Experiment einer demokratischen Regierung noch vor seinem 200. Geburtstag scheiterte -- ein Opfer der Gewalt«.
Die Regierenden scheinen unfähig, die Fahrt in Radikalismus und Faschismus zu stoppen: Der glücklose Herr im Weißen Haus, Lyndon Johnson, ist nur noch Präsident auf Zeit und unpopulär wie seit Jahrzehnten keiner seiner Vorgänger. Die beiden großen Parteien, Demokraten und Republikaner, offerieren den Amerikanern die trostlose Alternative einer Wahl zwischen den abgenutzten Polit-Profis Hubert Humphrey und Richard Nixon; vor allem aber: Amerikas Rechte hat erstmals einen ihr konformen Führer -- George Wallace.
»In der heutigen Situation«, so kommentierte Tom Wirker in der »New York Times«, »ist Wallace möglicherweise der einzige wenn auch gefährliche -- Kandidat, der dem wirklichen amerikanischen Leben, der Furcht und Erregung, der Bestürzung und dem wachsenden Haß entspricht.« Die Moral der Masse ist seine Moral, ihre Sprache seine Sprache, ihr mühsamer Lebensweg sein Lebensweg.
Der Sohn eines verschuldeten Farmers aus dem Barbour County in Alabama verdingte sich als Gelegenheitsarbeiter und Lastwagenfahrer, um sein Studium der Rechte zu finanzieren, boxte sich für Geld bei Schaukämpfen in Scheunen und Dorfgasthöfen, bevor er 1936 und 1937 Alabama-Boxmeister im Bantamgewicht wurde (25 Kämpfe gewonnen, ein Unentschieden, vier verloren).
Nach dem Kriege -- Wallace war 1945 Sergeant -- trampte er als Kandidat für das Alabama-Parlament in einem schäbigen Anzug und mit offenem Hemd kreuz und quer durch den Staat, hielt Schulbusse an, schüttelte jede Kinderhand und bat die Kleinen: »Vergeßt nicht, eurer Mami und eurem Papi zu sagen, daß George Wallace bei euch im Bus guten Tag gesagt hat.
Schon 1947 zog er in den Kongreß von Alabama ein und gebärdete sich dort -- immer noch im offenen Hemd -- als Radikalliberaler, über den sich später in den Akten des damaligen Gouverneurs folgende Personal-Notiz fand . »Energisch, ehrgeizig, liberal, smart ... Alkohol: mäßig. Frauen: ja.«
Doch sein Liberalismus war nur kurzlebig. 1958 verlor George Wallace -- unterstützt von der Farbigenorganisation NAACP -- die Gouverneurswahl gegen den Rassisten John Patterson. Da schwor er seinen Gehilfen: »John Patterson hat mich ausgeniggert. Und, Boys, ich werde mich nie wieder ausniggern lassen.«
Er hielt sein Versprechen. »Rassentrennung heute, morgen und immerdar«, verkündete er fortan den Weißen von Alabama -- und mit diesem Programm wurde er 1962 schließlich auch als Gouverneur ins Kapitol der Alabama-Hauptstadt Montgomery gewählt.
Immer noch wird dort, in der Hauptstadt der Konföderierten im amerikanischen Bürgerkrieg, die Flagge des besiegten Südens gezeigt: rotes Tuch mit blauem Andreas-Kreuz und 13 Sternen. Sie flattert -- neben der Fahne von Alabama -- auf dem Kapitol (die US-Flagge wurde auf den Rasen verbannt); sie prangt -- statt eines Nummernschildes -- unter den vorderen Stoßstangen vieler Alabama-Autos.
Immer noch verehren die Bürger von Alabama den Südstaaten-General Robert E. Lee. Sein Geburtstag ist Nationalfeiertag. Nach ihm nannte Wallace seine jüngste Tochter Janie Lee.
Und immer noch sitzen -- trotz aller Bürgerrechtsgesetze -- die Farbigen von Alabama in den öffentlichen Verkehrsmitteln auf den hinteren Plätzen, weil es ihnen dort, wie die Weißen spotten, »einfach besser gefällt«.
Den offenen Aufstand gegen die Bürgerrechtsgesetze wagte Wallace Mitte 1963: Um die Einschulung der farbigen Studenten Vivian Malone und James Hood zu verhindern, postierte sich der Gouverneur selbst an der Tür der Universität von Tuscaloosa.
Dem damaligen Justizminister Robert Kennedy versicherte er: »Natürlich bin ich gegen Integration. Zu jeder Zeit, zumindest für die nächsten zehn Jahre. Er gab erst nach, als Kennedys Vertreter Nicolas Katzenbach die Alabama-Nationalgarde unter Bundesbefehl stellte und die gewaltsame Integrierung der beiden Studenten androhte.
Der einstige Kellner, Taxifahrer und Tellerwäscher George Wallace war zum Idol der Kellner. Taxifahrer und Tellerwäscher geworden, ein Mann aus ihren Kreisen, ein Mann aus dem »Volk«. Er war damals in Alabama so angesehen, daß überall zwischen Huntsville und Mobile der Scherz erzählt wurde: »Was ist ein Atheist?« -- »Wer nicht an Wallace glaubt.«
Und dennoch: Mitte der sechziger Jahre schien seine Karriere zu Ende zu gehen. In einem Plädoyer gegen Wallace erklärte der Alabama-Senator Kenneth Hammond, der Gouverneur sei mit seinen »Nazi-Methoden« auf dem besten Wege, »die Demokratie als Ganzes zu zerstören«. Er habe Alabama » zu einem Himmel für Hasser gemacht ... Um Unterstützung zu finden, wird er nicht zögern, die weiße Rasse in diesem Staat gegen die Minoritäten aufzuhetzen. wie Adolf Hitler die Herrenrasse gegen die Juden aufhetzte«.
Hammonds Plädoyer war erfolgreich: Dem Gouverneur fehlten drei Stimmen an der vors ihm begehrten Verfassungsänderung, die seine vierjährige Amtszeit verlängern sollte.
In dieser Amtszeit hatte er 14 neue Junior Colleges und 15 neue Handelsschulen errichten lassen. Er hatte den Wagenpark der Regierung von 4000 auf 3000 Limousinen und sein eigenes Budget um 105 000 Dollar gekürzt. Im Amtssitz des Gouverneurs wurden nur noch alkoholfreie Getränke ausgeschenkt, und George Wallace selbst leistete sich nur einen einzigen Luxus: Im Frisiersalon des »Exchange Hotel« in Montgomery ließ er sich -- wie noch heute -- von einer Edna Taylor die Fingernägel pflegen.
Dem Staat Alabama freilich brachte der Drang zum einfachen Leben wenig ein: Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen im Wallace-Staat (etwa 2600 Dollar) liegt immer noch weit unter dem in der ganzen Nation (3900). Jeder achte einberufene Alabama-Wehrpflichtige wird heute noch als Analphabet zurückgestellt. Und: In Alabama kommen jährlich auf 100 000 Einwohner 11,7 Morde, im Landesschnitt nur 6,1.
Trotz seiner Niederlage im Kampf um die Verlängerung der Amtszeit blieb Ex-Gouverneur Wallace Herrscher von Alabama. Denn statt seiner kandidierte -- und gewann -- nun Ehefrau Lurleen, eine ehemalige Verkäuferin, die er 1942 beim Erwerb einer Tube Brillantine kennengelernt hatte. Sie übernahm ab 1967 Repräsentation und Administration, ihr Mann aber machte -- für ein symbolisches Jahresgehalt von einem Dollar als Berater engagiert -- weiterhin die Politik.
Und die endete für ihn nicht mehr an den Grenzen Alabamas. 1964 schon hatte Wallace bei den Präsidentschaftsvorwahlen in Indiana, Wisconsin und Maryland seine Popularität getestet und zum Erstaunen der Nord-Politiker 30, 34 und 43 Prozent der Demokraten-Stimmen erhalten.
Immer mehr Rechte und Radikale ermunterten daraufhin den Maverick aus Alabama, er solle die Konservativen der Nation führen. Rechtsradikale Gruppen wie der Ku-Klux-Klan und die John Birch Society (Wallace: »Ihre Mitglieder zählen zu den besten Bürgern unseres Staates") verkauften auf eigene Initiative Wallace-Broschüren und Wallace-Plaketten.
Bald war Wallace außerhalb der Südstaaten so populär wie vor ihm nur ein anderer Südstaatler: der legendäre Louisiana-Gouverneur und -Diktator der dreißiger Jahre, Huey Long, der damals -- zu Zeiten des demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt -- ebenfalls gedrängt worden war, für die Präsidentschaft zu kandidieren. Huey Long wurde ermordet, noch bevor er eine nationale Bewegung gründen konnte.
Bald schon rangierte Wallace in der vom Gallup-Institut ermittelten Liste der zehn »am meisten bewunderten Männer« an siebter Stelle -- punktgleich mit Richard Nixon; Hubert Humphrey war nicht placiert.
Am 8. Februar dieses Jahres schließlich stellte sich Wallace im Sheraton Park Hotel in Washington der ganzen Nation -- selbstbewußt, voller Spott für die etablierten Parteien. Sein Wahlkampf-Slogan: »It takes courage.«
Dieses »it«, dieses »es«, ist der Kampf gegen das Johnson-Amerika. Er erfordert Mut. »Wallace hat ihn! Sie auch?« steht auf allen Wallace-Plakaten. Die Antwort kam spontan.
Heute gehen täglich bis zu 20 000 Briefe im Wallace-Hauptquartier in der Lee Street 400 in Montgomery ein. In den meisten stecken Schecks oder ein paar Dollar, nach zuverlässigen Schätzungen zwischen 50 000 und 100 000 pro Tag.
»Gouverneur Wallace«, so schrieb beispielsweise eine Frau aus dem Staat New York, »ist außer Gott der einzige, der den Karren aus dem Dreck ziehen kann.« Als Wahlkampfspende legte sie zwei Dollar bei.
Wie einst Deutschlands Hitler, erhält heute Amerikas Wallace Geld nicht nur in kleinen Summen. Wohlhabende Förderer zahlen 500 Dollar und mehr, um Mitglied neuer Wallace-freundlicher »Patrioten-Vereine« zu werden und gemeinsam mit dem Kandidaten zu Mittag essen zu können, wenn er in ihre Stadt kommt. Zu den Lunch-Gefährten zählten beispielsweise der texanische Öl- und Kartoffel-Millionär Paul Pewitt und die Schwiegertochter des texanischen Öl-Milliardärs Haroldson L. Hunt. Sie alle spendeten so viel, daß Wallace heute finanzkräftiger ist als Hubert Humphrey, der Kandidat der regierenden Demokraten.
Längst fliegt George Wallace nicht mehr mit einer altersschwachen DC-7 über den Kontinent, sondern mit zwei gecharterten »Electras« der »American Flyers Airline«. Maschine N 182 H befördert den Kandidaten, seine engsten Mitarbeiter und prominente Pressevertreter; Maschine N 122 fliegt den Rest des Stabes, die übrigen Reporter und die zahlreichen Wallace-Plakate, die von Veranstaltung zu Veranstaltung transportiert werden. Sie sollen auch bei gelegentlich geringer Resonanz immer eine Volksbewegung vortäuschen.
Meistens aber ist die Bewegung schon da. Aus der Masse tauchen plötzlich Tausende von Wallace-Anhängern auf. Innerhalb weniger Wochen gelang es ihnen, in allen 50 Staaten der Nation genügend Unterschriften zu sammeln, um mit der neugegründeten Wallace-Partei, der »American Independent Party«, zur Präsidentschaftswahl zugelassen zu werden. Überall verstehen seine Anhänger »jenen Code, jene Art von Kurzschrift«, in der er -- so ein früherer Alabama-Senator -- zu ihnen spricht.
Denn: »Er kann über alles mögliche sprechen, über Ruhe und Ordnung. über das Schulwesen. über den Schutz des Eigentums. ohne die Rassenfrage auch nur zu erwähnen. Und dennoch wissen die Leute, daß er ihnen eigentlich nur sagen will: »Paß auf, ein Nigger versucht, dir deinen Job wegzunehmen, ein Nigger versucht, in deine Nachbarschaft zu ziehen.«
Offiziell bestreitet Wallace, ein Rassist zu sein. Reportern der Fernsehgesellschaft ABC nahmen Wallace-Gorillas gewaltsam einen Film ab, auf dem Wallace dem Erzfeind aller Farbigen, dem Klu-Klux-Klan-Chef Robert Shelton, die Hand schüttelte.
Aber in einem unbedachten Augenblick vertraute er einem Reporter in Cleveland an: »Sie können mich ruhig alle als Rassisten beschimpfen, das macht nichts. Viele Leute in diesem Land denken ebenso wie ich. Das Rassenproblem ist es, mit dem ich die Wahl gewinnen werde.«
Der Schlager »You are my sunshine« von James Houston Davis wurde seine Wahlmelodie. Mit diesem Lied hatte Rassist Davis 1944 die Weißen von Louisiana an die Urnen gelockt und war zum Gouverneur gewählt worden. Seine Parole: »Ich bin für die Rassentrennung in alle Ewigkeit.«
Amerikas Mittelschicht hat diese Botschaft schnell verstanden. Erst liefen die Amerikaner dem Rassisten Wallace nur zögernd zu, verschämt zuweilen, ob sie sich nicht deklassierten. Inzwischen aber ist auch der Nachbar für Wallace und dessen Vize, den ehemaligen Stabschef der Luftwaffe und Chef der Atombomber-Flotte, Curtis LeMay, einen Haudegen des Zweiten Weltkriegs, der stets und ständig vom Atomwaffen-Einsatz spricht, dem Wallace-Feldzug aber nationale Tiefenwirkung und einen Anstrich von Honorigkeit sichert (SPIEGEL 42/1968).
Immer mehr Amerikaner bekleben ihre Autos, Häuser, Kleider mit Wallace-Werbung. Allein 22 Millionen Wallace-Plaketten prägte die führende Button-Firma in Chicago -- viermal so viele wie für Richard Nixon. Die Nixon-Plaketten werden gratis ins Publikum geworfen, die Wallace-Symbole sind so begehrt, daß sie an manchen Orten für drei Dollar schwarzgehandelt werden.
»Ehrlich«, so gestand Wallace im September, »die hohen Zuhörerzahlen, das Ausmaß an Unterstützung, das ist mehr, als ich erwartet hatte.«
Und, voller Stolz: »Haben Sie schon einmal von jemandem gehört, der aus Alabama kam und so viele Menschen auf die Beine brachte?«
Niemand hatte davon gehört. Niemand hätte es -- trotz aller Gewaltgläubigkeit der Amerikaner -- für möglich gehalten, daß ein Demagoge Amerika verführen und dessen festgefügtes Zwei-Parteien-System ins Wanken bringen könnte. Und dennoch hat noch nie der Kandidat einer dritten Partei so viele Amerikaner hinter sich gehabt wie Wallace 1968:
* Der Republikaner Theodore Roosevelt trennte sich 1912 von seiner Partei (für die er zuvor von 1901 bis 1909 Präsident gewesen war) und kandidierte für eine neue »Fortschrittspartei«. Zwar errang er bedeutend mehr Stimmen als der um seine Wiederwahl kämpfende republikanische Präsident William Howard Taft, den Sieg des Demokraten Woodrow Wilson aber konnte er nicht verhindern.
* Robert Marion LaFollette, Senator aus Wisconsin, kandidierte 1924 ebenfalls für die »Fortschrittspartei«, erhielt aber nur 13 von 531 Wahlmännerstimmen.
* Der heutige Nixon-Helfer Strom Thurmond führte 1948 die erste Rebellion der Dixiekraten, der Demokraten des Südens, gegen die Bürgerrechte der Schwarzen an vermochte aber den demokratischen Präsidenten Harry 5. Truman nicht zu stoppen.
Hinter George Wallace stehen nicht nur regionale Gruppen. Heute schon trauen die Meinungsforscher dem Rechtsaußen aus Alabama zu, daß er genügend Stimmen sammelt, um die erforderliche absolute Mehrheit der Wahlmänner für Nixon oder Humphrey zu verhindern. Dann müßte erstmals seit 1825 wieder der Kongreß den Präsidenten wählen,
Irritiert vom Erfolg des Außenseiters, versuchen die Politiker der beiden großen Parteien, ihm den Wahlkampf mit jenen Kleinkampfmitteln zu erschweren, die Deutschlands große Parteien gegen die NPD erprobten -- Schikanen anstelle politischer Antworten.
In New York beispielsweise versagte Bürgermeister Lindsay dem Rassisten das riesige Shane-Stadion für eine Massenveranstaltung. Aber vor Gericht erhielt Wallace recht -- und verzichtete daraufhin höhnisch auf das Shane-Stadion. Statt dessen tritt der politische Emporkömmling aus dem Süden am Donnerstag dieser Woche im Madison Square Garden auf.
Die Gewerkschaften verteilen Anti-Wallace-Literatur, die Liberalen protestieren mit Plakaten »In Berlin die Mauer der Schande -- in den USA die Wallace-Schande« oder »Wählt Wallace und werft Amerika um 150 Jahre zurück«. Doch sie selbst bieten keine eindeutige, in die Zukunft weisende Alternativen.
Schon vor Monaten brüstete sich Wallace: »Sie werden bald alle über »Ruhe und Ordnung' sprechen, alle.« Und tatsächlich ist weder Vietnam noch die Sanierung der Städte das wichtigste Wahlkampfthema, sondern »law and order«.
»Keiner der Kandidaten«, so klagte San Franciscos demokratischer Bürgermeister Alioto, »bewirbt sich um das Amt des Präsidenten, alle kämpfen sie um das Amt des Sheriffs.« George Wallace hat sie In diese Rolle gezwungen.
Er wird kaum Präsident der USA werden. Aber wer immer Präsident wird, er muß nun auch Sheriff sein. Denn George Wallace ist -- so die »Chicago Sun-Times« -- »zu einer nationalen Figur geworden, zu einer Kraft, die nicht ruhig bleiben und nicht verschwinden wird und die nicht ignoriert werden kann.
»Selbst wenn ich nicht gewählt werde«, drohte denn auch George Wallace, »diese Bewegung muß sich in der Regierung niederschlagen.« Mit anderen Worten: Werden die Wünsche der Millionen, die am 5. November George Wallace wählen, nicht berücksichtigt, droht den Amerikanern 1972 eine zweite Wallace-Kandidatur, hinter der dann vermutlich noch mehr Millionen stehen werden.
»Es ist an der Zeit«, so warnte US-Kolumnist Joseph Alsop, »George Wallace ernst zu nehmen, todernst.«