UNO Diese Tür
Wenn Ronald Reagan weiß, daß die Völker der Welt ihm lauschen, wird er feierlich und erhaben. So gedachte er denn der »Träume und Hoffnungen« der Uno-Gründer, als er am Montag letzter Woche in 23minütiger Rede die 38. Uno-Vollversammlung in New York eröffnete.
Im »Namen meiner Nation« verpflichtete sich Reagan gegenüber den anderen 157 Mitgliedsstaaten »die ursprünglichen Ideale der Vereinten Nationen zu bewahren« und alles daran zu setzen, das »heiligste aller Geschenke, den Frieden« zu sichern.
Um dieses Ziels willen, vor allem das »schrecklichste Element der Neuzeit«, die Atomwaffen, aus der Welt zu schaffen, hätten die USA als »Champion der Freiheit« die Tür zu einem umfassenden Abrüstungsabkommen geöffnet. Reagan: Es sei an der Zeit, »daß die Sowjet-Union diese Tür« durchschreitet und ihre »expansionistische Politik der letzten 30 Jahre« beende.
Ähnlich wie 1981 der damalige sowjetische Parteichef Leonid Breschnew gelobte nun Reagan vor dem Weltforum, daß »ein Nuklearkrieg nicht gewonnen werden kann und nie geführt werden darf« - und distanzierte sich damit von den Vorstellungen seines eigenen Verteidigungsministers Caspar Weinberger.
Doch seine Vorschläge blieben dunkel und waren so wenig geeignet, die zu Ende gehenden Genfer Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen in Europa noch zu retten, daß die Sowjets heftiger als je zuvor auf eine Reagan-Rede reagierten.
Staats- und Parteichef Jurij Andropow bezeichnete die Reagan-Rede als »äußerst gefährlich für den Frieden«. Moskaus Agentur Tass warf dem US-Präsidenten »schwerste Tatsachenverdrehung, Demagogie, Fehlinformationen und freche Lügen« vor, die eine »aggressive, imperialistische« Außenpolitik vertuschen sollten und mit einer Friedenspolitik nichts gemein hätten.
Gleichwohl hatte Reagan, indem er sich der Vollversammlung als friedvoller Staatsmann präsentierte, einen deutlichen Punkterfolg in dem nun vierwöchigen Propaganda-Krieg seit dem Abschuß des KAL-Jumbos landen können, der vorletzte Woche in einem bitteren Wortgefecht zwischen Uno-Delegierten einen vorläufigen Höhepunkt erreichte.
Ausgangspunkt war eine Maßnahme der US-Bundesstaaten New York und New Jersey, die sowjetischen Flugzeugen die Landegenehmigung auf einem der beiden Großflughäfen John F. Kennedy (New York) und Newark (New Jersey) verweigerten.
Wohl dürfen schon seit Ende 1981, als US-Reaktion auf das Kriegsrecht in Polen, Linienmaschinen der Fluggesellschaft Aeroflot in den Vereinigten Staaten nicht mehr landen. Ausgenommen von diesem Verbot aber war die Anreise sowjetischer Delegierter in Sondermaschinen zur Uno-Vollversammlung. Wie in den vergangenen Jahren hatte das Washingtoner Außenministerium die von den Sowjets avisierten Flüge bei den Behörden der Bundesstaaten New York und New Jersey angemeldet.
New Yorks Gouverneur Cuomo lehnte diesmal unter Hinweis auf »moralische
Verpflichtungen« ab, weil angesichts massiver antisowjetischer Demonstrationen gegen den Jumbo-Abschuß »die Sicherheit der russischen Diplomaten nicht zu garantieren« sei. Cuomo-Kollege Kean, aus dessen Staat 16 Passagiere der KAL-Maschine stammten, hielt »die Erteilung einer Landegenehmigung für unangemessen und unsensibel«.
Die sowjetische Delegation flog daraufhin über Brüssel mit der belgischen Sabena nach New York. Der Welt dienstältester Außenminister und Uno-Mitbegründer, Andrej Gromyko, 74, der seit 26 Jahren an jeder Uno-Vollversammlung teilgenommen hatte, aber blieb in Moskau. Gromyko jedoch lehnte das Angebot Washingtons ab, mit einer Militärmaschine auf der Air-Force-Basis McGuire (New Jersey) zu landen.
Das absurde Theater führte zu einer Debatte in der Uno, bei der Wut und Sarkasmus diplomatische Artigkeiten ersetzten. Der sowjetische Delegierte Igor Jakowlew warf den Vereinigten Staaten vor, sie hätten als Uno-Gastgeber versagt, wenn sie die Sicherheit des sowjetischen Außenministers nicht garantieren könnten.
Der stellvertretende US-Botschafter Charles Lichenstein stellte daraufhin den »Sowjets und ihren Dritt-Welt-Freunden« anheim, New York überhaupt zu verlassen. Lichenstein: »Wir werden ihnen kein Hindernis in den Weg legen.« Vielmehr werde die gesamte Belegschaft der US-Botschaft »am Kai stehen und liebevoll Lebewohl winken, wenn sie in die Abendsonne abdampfen«.
Zunächst rückte Washingtons Außenministerium von Lichensteins »rein persönlichem« Kommentar ab. Doch zwei Tage später stellte sich Reagan mit sicherem Show-Gespür und »aus vollem Herzen« hinter seinen Uno-Mann. »Die meisten Amerikaner« würden »keinen Uno-Delegierten auffordern, das Land zu verlassen«, so Reagan, doch »wenn diese es wünschten - bitte sehr«.
Reagans außenpolitische Scharfmacherin, die Uno-Botschafterin Jeane Kirkpatrick, setzte noch einen drauf. Als freilich nur »akademische Spekulation« höhnte die Eiserne Lady (Uno-Jargon), die Vereinten Nationen könnten gern alternierend je sechs Monate in Moskau und New York tagen, damit die Delegierten den »Unterschied im Lebensstil« selbst sähen.
Die so plötzlich aufgeflammte Kontroverse um den Standort der Weltorganisation ist so alt wie die Uno selbst. Nur mit knapper Mehrheit hatten sich im Dezember 1945 die 51 Gründerstaaten - auch die Sowjets, angeblich auf Weisung Stalins - für Amerika als Uno-Hauptsitz entschieden.
Sie waren dem Einwand des späteren Generalsekretärs Trygve Lie aus Norwegen gefolgt, daß nur ein Standort in den USA die aktive Mitarbeit der Vereinigten Staaten in der Uno sichern werde. Nach Ansicht des Norwegers war der alte Völkerbund in Genf unter anderem auch gescheitert, weil die USA ihm nicht angehört hatten.
Zumindest die Stadt New York hat die nachfolgende Abstimmung zu ihren Gunsten nie bereuen müssen: Auch wenn die Gesandten niemals Strafmandate für die falsch geparkten Autos mit CD-Kennzeichen zahlen müssen - die rund 35 000 Uno-Angestellten und Diplomaten bringen der Stadt einen Nettogewinn in Höhe von rund 700 Millionen Dollar pro Jahr ein.
Wohl meckern viele Diplomaten, weiß die Uno-Beauftragte der Stadt, Gillian Sorensen, »über den Dreck und Krach, über Verbrechen sowie hohe Mieten und Preise in der Uno-Hauptstadt«. Doch die Vereinten Nationen aus New York abziehen zu wollen, sei ebenso sinnlos »wie den Vatikan aus Rom oder die Pyramiden aus Ägypten fortzuschaffen« (Sorensen). Zudem bietet New York als Finanz-, Kultur- und Wirtschaftszentrum vielen Ländern der Dritten Welt die Gelegenheit, ihre Uno-Botschaften gleichzeitig mit konsularischen Aufgaben zu betrauen. Den Unterhalt normaler Konsulate könnten sich viele dieser Länder sonst finanziell gar nicht leisten.
Sicher ist aber auch, daß ein Wegzug der Uno aus Amerika gravierende politische Konsequenzen für die Vereinigten Staaten hätte.
Eine Verlegung etwa des Uno-Hauptquartiers zu den Zweigstellen in Genf oder Wien, oder gar nach Berlin, wie letzte Woche Egon Bahr anregte, wäre nicht nur für die meisten Uno-Mitglieder kaum akzeptabel, sondern auch gleichbedeutend »mit dem Niedergang der Vereinigten Staaten als Weltmacht«, erkannte US-Kolumnist Joseph Kraft, und der einstige UN-Botschafter und jetzige US-Senator Daniel Patrick Moynihan hielt für möglich, daß dann die nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam »aufgebaute Weltordnung in die Brüche gehen« könne.
Derlei Gefahren mochten Senat und Volk der Amerikaner nicht sehen. Sie machten wenig Hehl aus ihrer augenblicklichen Unzufriedenheit mit der US-Rolle innerhalb der Uno, das heißt mit der Feindseligkeit vieler Mitglieder gegenüber dem Gastland USA.
Nach Lichensteins »Sonnenuntergang«-Sarkasmus verzeichnete die amerikanische Uno-Botschaft eine Flut spontaner Telephonate. 350 der Anrufer hielten die Reaktion des Botschafters, dessen vergrämte Physiognomie »Newsweek« mit einer »Kreuzung zwischen Andy Warhol und Woody Allen« verglich, für angemessen. Nur 14 waren mit Lichensteins lockerer Floskel nicht einverstanden.
Eine jüngste Meinungsumfrage ergab zudem, daß jeder zweite US-Bürger eine Kürzung der amerikanischen Uno-Beiträge befürworten würde, wenn grundlegende Uno-Beschlüsse sich gegen die offizielle US-Politik richteten: Amerika trägt 25 Prozent des Uno-Haushaltes.
Vorletzte Woche folgte der US-Senat des Volkes Stimmung und beschnitt den US-Beitrag für die Uno in den kommenden vier Jahren um insgesamt 450 Millionen Dollar. Für den Fall, daß die Uno die einseitige amerikanische Maßnahme nicht hinnehmen sollte, sieht der Beschluß vor, die Zahlungen ganz einzustellen.
Wohl scheint ausgemacht, daß die Senatsvorlage im Kongreß zu Fall kommt. Doch die Senatoren lieferten ein weiteres Indiz ihrer Kurzsichtigkeit. Denn sollten die USA mit ihren vertraglich vereinbarten Beiträgen zwei Jahre in Verzug geraten, verlören sie gemäß Uno-Satzung automatisch ihr Stimmrecht.
Dann wäre nach Ansicht Moynihans eine Verlegung des Uno-Hauptquartiers »wohl unausweichlich«.