FRITSCH-PROZESS Dieser Dreck
Der Sturz Werner von Fritschs war ein Wendepunkt in der Geschichte des Dritten Reiches: Mit dem Generalobersten und Oberbefehlshaber des Heeres, den Adolf Hitler am 4. Februar 1938 wegen des Verdachts homosexueller Neigungen entließ, trat der einzige Soldat ab, dem die Gegner des Nationalsozialismus die Fähigkeit zutrauten, das Hitler-Regime zu bändigen. Das Heer schied als Gegenspieler Hitlers aus.
Anlaß der Fritsch-Krise war die skandalumwitterte Hochzeit des Reichskriegsministers Generalfeldmarschall Werner von Blomberg im Januar 1938.
Nächster Anwärter auf den Posten des Reichskriegsministers wäre der Heeres-OB Freiherr von Fritsch gewesen. Indes, der General galt als hartnäckiger Kritiker der NS-Außenpolitik, er widersetzte sich allen Forderungen der Partei, das Heer nationalsozialistisch auszurichten. Hitler drohte die Aussicht, einen Gegner der Partei zum engsten Militärberater berufen zu müssen.
Aus solcher Qual aber befreite Hermann Göring, der selber Kriegsminister werden wollte, seinen Führer durch einen achtseitigen Aktenhefter aus den Panzerschränken der Gestapo. Dort hatte ein vorbestrafter Erpresser namens Otto Schmidt zu Protokoll gegeben: Fritsch habe sich am Wannseebahnhof Berlin mit dem »Bayern-Seppl«, einem Berliner Strichjungen, homosexuell vergangen.
Hitler hatte schon 1936 von der Schmidt-Akte gehört und der Gestapo befohlen, »diesen Dreck« zu verbrennen; jetzt aber griff er den Fall auf: Er bestellte den Erpresser in die Reichskanzlei, konfrontierte ihn dem herbeizitierten Heeres-OB und weigerte sich, dem ehrenwörtlichen Dementi des Generalobersten zu glauben. Göring: »Er war es, er war es!«
Der unpolitische Nur-Soldat Fritsch verstand nicht, diese in der preußischdeutschen Militärgeschichte einmalige Demütigung eines verdienten Generals zu einem Schlag gegen das Regime zu nutzen.
Lethargisch schaute er zu, wie sich Hitler Anfang Februar 1938 zum absoluten Herrn der Wehrmacht aufschwang: Blomberg und Fritsch wurden entlassen, das Kriegsministerium abgeschafft und eine dem Führer unmittelbar unterstellte oberste Militärbehörde, das Oberkommando der Wehrmacht, geschaffen.
Fritsch wäre ein gedemütigter Mann geblieben, hätten sich nicht Freunde seiner Sache angenommen. Unter Führung des Reichskriegsgerichtsrats Dr. Carl Sack, eines Widerständlers der ersten Stunde, veranlaßten die Wehrjuristen Hitler, einem Kriegsgerichtsverfahren zuzustimmen.
Gegen den Widerstand der Gestapo verfolgte Sack die Spuren der Fritsch -Feinde. Anfang März kannte er das Geheimnis der Gestapo: Fritsch war das Opfer einer absichtlich-unabsichtlichen Personenverwechslung geworden, der Erpresser Schmidt hatte zum höheren Nutzen des NS-Regimes einen pensionierten Rittmeister von Frisch für den Generalobersten von Fritsch ausgegeben.
Selbst Göring mußte sich nun den Tatsachen beugen. Da für ihn ohnehin der Kriegsminister-Posten unerreichbar geworden war, schwenkte er auf die Seite der Fritsch-Freunde über und traktierte den Kronzeugen Schmidt so lange, bis der Erpresser die Wahrheit gestehen mußte. Fritsch wurde rehabilitiert, Hitler aber rief ihn niemals zurück. Er verlieh Fritsch lediglich den Ehrentitel eines Chefs des 12. Artillerie-Regiments, mit dem Fritsch in den Polenfeldzug zog. »Ich werde mein Regiment nur als Zielscheibe begleiten, weil ich nicht zu Hause bleiben kann«, schrieb er an eine Freundin. Am 22. September 1939 fiel er im Feuer eines polnischen MGs bei Warschau. -Noch heute rätseln freilich die Historiker über Hintergründe und Details der Fritsch-Krise. Die Prozeßakten, die Sack einst in den Panzerschrank des Abwehr-Admirals Canaris gelangen ließ, sind verschwunden; Sack geriet nach dem 20. Juli 1944 in die Todesmühle der Gestapo.
Die trostlose Aktenlage verführte manche Historiker dazu, munter draufloszufabulieren. Am farbigsten wußte William L. Shirer ("Aufstieg und Fall des Dritten Reiches") zu erzählen: Er verwechselt den Antinazi Carl Sack mit
einem Nazi namens Alfons Sack, verleiht Schmidt den Vornamen Hans und läßt Frisch durch »Organe des Heeres« schließlich »den Klauen der Gestapo entreißen und an einen sicheren Platz« bringen, bis der Prozeß beginnt.
Erst jetzt kann die Geschichtsschreibung festen Boden betreten: Mitte September wird der Wiesbadener Rechtsanwalt Dr. Fabian von Schlabrendorff, einer der wenigen Überlebenden der deutschen Widerstandsbewegung, in seinem neuen Buch »The Secret War against Hitler« ein Geheimdokument veröffentlichen, nach dem die Historiker vergeblich fahndeten: die Urteilsschrift des Kriegsgerichts im Falle Fritsch.
Fritsch-Retter Sack hatte 1938 eine Abschrift des Urteils anfertigen lassen, sie selbst beglaubigt und einem Freund anvertraut, der nicht zur Anti-Hitler-Opposition gehörte und mithin bei der Gestapo keinen Verdacht erregte. Dieser Mann, der heute in der Bundesrepublik lebt, aber ungenannt bleiben will, hat Sacks Geheimdokument nach dem Kriege Schlabrendorff ausgehändigt.
Die Urteilsschrift, die der SPIEGEL zum erstenmal auszugsweise veröffentlicht, korrigiert das als Standardwerk geltende Buch »Der Fritsch-Prozeß 1938« des Fritsch-Neffen Johann Adolf Graf von Kielmansegg, der heute als Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte im Nato-Abschnitt Mitte dient.
Kielmansegg datierte den von Schmidt beobachteten Geschlechtsakt am Wannseebahnhof Berlin auf den November 1934, tatsächlich spielte er sich ein Jahr früher ab. Der Erpresser Schmidt ist bei Kielmansegg »über ein dutzendmal wegen eigener Vergehen gegen den Paragraphen 175« verurteilt worden - in Wirklichkeit wurde Schmidt nicht ein einziges Mal wegen Homosexualität bestraft.
Der »Bayern-Seppl« hat auch niemals (wie Kielmansegg annahm) den Rittmeister von Frisch als seinen Partner vom Wannseebahnhof Berlin identifiziert. Frisch und der Strichjunge bekannten sich wohl zur Tat am Wannseebahnhof, bestritten aber bis zuletzt, einander gekannt zu haben.
Schmidt hatte weder »20 bis 30 Jahre Zuchthaus zu verbüßen«, noch befand er sich während des Fritsch-Verfahrens »ständig auf freiem Fuße«, wie sich Reichskriegsgerichtsrat Rosenberger 1947 erinnern zu können glaubte, und auch die Behauptung des britischen Historikers Charles Wighton, der »sterbende« Frisch habe mit letzter Kraft seine Aussagen gemacht und sei noch vor der Hauptverhandlung verschieden, erweist sich als schiere Phantasie.
Freilich, die gefundene Urteilsschrift erzählt nicht die ganze Geschichte der Fritsch-Krise. Die Richter von 1938 haben jede deutliche Aufklärung über die makabre Rolle Hitlers und der Gestapo vermieden. Kaum eine Zeile verrät die Intrigen gegen Fritsch.
Die Historiker können nur hoffen, daß ein neuer Glücksfall ihnen auch die verschwundenen Prozeßakten zurückbringt. Dokumentensucher von Schlabrendorff zum SPIEGEL: »Wer weiß, vielleicht tauchen die Akten aus dem Canaris - Schrank noch einmal auf.«
* Fabian von Schlabrendorff: »The Secret War against Hitler«. Pitman Publishing Corporation, New York - Toronto - London; 438 Seiten; 7,50 Dollar.
Dokumentarist von Schlabrendorff
Mit einer aufgespürten Geheimakte...
Fritsch-Urteilsschrift
... die Historiker widerlegt