BONN / GEWALTVERZICHT Dieser ganze Unsinn
Im Seehotel N'Gor an der Atlantikküste des schwarzen Afrika erreichte den Bonner Außenminister Willy Brandt Mitte letzter Woche die Kunde, daß sein Staatssekretär Georg Ferdinand Duckwitz letzten Dienstag daheim am Rhein »dem Sowjetbotschafter Zarapkin endlich die längst fällige deutsche Note zum Thema Gewaltverzicht überreicht habe.
Willy Brandt, mit Sohn Lars auf Badeurlaub in der Nähe der senegalesischen Hauptstadt Dakar, notierte die Nachricht mit Vergnügen. Denn noch während des dienstlichen Teils seiner Afrika-Reise hatte er dringende Order gegeben, mit der Ausfolgung des inzwischen vom Kanzleramt genehmigten AA-Papiers an die Sowjets nun nicht mehr bis zu seiner Rückkehr an Ostern zu warten.
Die Russen nämlich warteten schon zehn Wochen lang, seit dem 30. Januar dieses Jahres, auf eine Antwort aus Bonn. Nach sechs Monate währenden Sondierungen zwischen Außenminister Brandt und Botschafter Zarapkin, bei denen der Russe sich anfangs kühl zurückhielt, hatte Moskau schließlich doch Interesse gezeigt: In einem Aidemémoire wurde Bonn am 30. Januar um schriftliche Erläuterungen seines Gewaltverzicht-Projektes ersucht.
Von Anfang an strittig war dabei die Frage, in welcher Form die Bundesrepublik den Gewaltverzicht gegenüber der DDR auszusprechen gedenke.
Über dieser Frage prallten im Februar und März in Bonn noch einmal alle ostpolitischen Gegensätze aufeinander, die sich zwischen Christ- und Sozialdemokraten viele Jahre hindurch angesammelt hatten und die auch in der Großen Koalition nicht beseitigt werden konnten.
* Die SPD bedrängte Kanzler Kiesinger, keine Zeit zu verlieren und endlich auch deutsche Beiträge zur Entspannung zu leisten;
* die CDU und die CSU bedrängten Kanzler Kiesinger, dem harten Ostkurs treu zu bleiben und weiter auf Zeitgewinn zu spielen.
Vor allem wollten die Ultras in der Christenunion jegliche Aufweichung gegenüber der DDR ausgeschlossen wissen. Hartnäckig hielten die CDU-Außenpolitiker Majonica, von Eckardt und Gradl dem Kanzler vor, die Einbeziehung des Ulbricht-Staates in den Gewaltverzicht -- in welcher Form auch immer -- bedeute eine weitere Aufwertung, wenn nicht gar die völkerrechtliche Anerkennung der DDR.
Dessen ungeachtet forcierte der Sozialdemokrat Brandt, in diesem Fall gestützt von Vize Wehner, den Gewaltverzichts-Dialog mit Zarapkin. Die Einwände der christdemokratischen Koalitionspartner schreckten ihn nicht. Im Gegenteil: Er sah in den Debatten darüber, wie die DDR in den Gewaltverzicht einzubeziehen sei, eine Chance, das Verhältnis der beiden deutschen Staaten endlich auf eine halbwegs realistische Basis zu stellen.
Doch als der SPD-Außenminister im Sommer 1967 erste Kontakte zu den Sowjets aufnahm, um das Gespräch über den Gewaltverzicht -- unter Einschluß der DDR -- in Gang zu bringen, urteilte CDU-Kanzler Kiesinger: »Das ist völlig sinnlos.« Und den ersten AA-Entwurf in Sachen Gewaltverzicht nach der Sowjet-Anfrage vom 29. Januar schickte Kiesinger mit Ablehnungsvermerk ins Außenamt zurück.
Da wurde es dem SPD-Koalitionspartner zuviel. Auf einer Sitzung des Parteivorstandes der SPD Ende Februar setzten die Genossen ihrem Chef Brandt zu, er dürfe sich bei seinen Entspannungsavancen gen Osten vom CDU-Kanzler nicht länger bremsen lassen. SPD-Fraktionschef Helmut Schmidt: »Kiesinger hat doch nur zuwenig Selbstvertrauen gegenüber dem eigenen Verein.«
SPD-Nachwuchs-Star Horst Ehmke sekundierte: »Es kommt noch so weit, daß in der Koalition nur die Rechtsaußen der CDU den Ton angeben, weil Kiesinger sich allein nichts zutraut.« So auf Trab gebracht, bestand der Vizekanzler beim Kanzler darauf, daß der Streitfall nun unverzüglich geklärt werden müsse. Kiesinger schlug vor, auf einem eigens anberaumten Minister-Meeting in der Berlin-Woche des Bundestags Anfang März darüber zu reden.
In Berlin suchte Kiesinger anfangs noch einmal das CDU-Argument zu verteidigen, dem Osten müsse es genügen, daß die Bundesrepublik auch ohne formelle Erklärung willens sei, alle ungelösten Probleme in Europa ohne Gewalt zu behandeln.
Doch Brandt konterte: »Das ist die entscheidende Frage. Entweder wir reduzieren den Gewaltverzicht auf das, was Sie hier sagen, und belassen es bei einem
abstrakten Angebot. Oder wir sind bereit, zugleich über alle offenen Fragen zu reden, die von der anderen Seite aufgeworfen werden. Zarapkin hat zum Beispiel auch immer von der Berlin-Frage gesprochen.«
Damit war Willy Brandt beim zentralen Motiv seiner Ostpolitik: der Sicherung West-Berlins.
Nach acht Jahren als Regierender Bürgermeister von Berlin weiß Brandt genau genug, daß die eingemauerte Inselstadt mit ihren seit der Blockade von 1948/49 stets von neuem bedrohten Verbindungswegen zum Westen auf die Dauer nur gesichert werden kann, wenn man sich über Garantien für die Existenz der 2,17 Millionen West-Berliner arrangiert -- und zwar sowohl mit den Russen als auch mit den Ostdeutschen.
Und warum eigentlich, so argumentierte der Außenminister, solle man die Chance des Gewaltverzicht-Dialogs verstreichen lassen? Brandt: »Wenn die Russen über Berlin reden wollen, dann muß man ihnen klarmachen, daß Verkehrsbehinderungen auf den Zufahrtswegen nach Berlin -- um nicht zu sagen: eine neue Blockade -- mit einem gegenseitigen Gewaltverzicht, der auch die DDR einbezöge, unvereinbar wären.«
Kiesinger und die CDU-Herren gaben schließlich nach. Brandt bekam freie Hand, in der Antwortnote an die Sowjets zu versichern, daß Bonn sich nicht mehr sperrt, zusammen mit dem Gewaltverzicht alle gewünschten politischen Fragen zu erörtern.
Denn die christdemokratische Abwehrfront ist ins Wanken geraten. CDU-Generalsekretär Bruno Heck wollte schon im Februar einen von Kiesinger und Stoph unterschriebenen Vertrag über den Gewaltverzicht akzeptieren -- nur keine Ratifizierungsakte.
Und ausgerechnet CSU-Boß Franz-Josef Strauß ging zur Verblüffung der Sozialdemokraten wenig später noch ein ganzes Stück weiter: »Was soll dieser ganze Unsinn? Von mir aus können wir Gewaltverzicht gegenüber denen drüben auch erklären, wenn Bundestag und Volkskammer das ratifizieren müssen.«