Ihn lädt das Gericht nicht als Zeugen. Es setzt sich vielmehr seinem Zeugenauftritt aus. Denn im Strom seiner Rede muß der Zuhörer mit dem intellektuellen Wassertod kämpfen.
Hans-Christoph Seebohm, 63, Minister für Verkehr der Deutschen Bundesrepublik, bringt bei der Feststellung seiner Personalien jedoch auch eine Korrektur an, als der Vorsitzende »vom Zeugen Dr. Seebohm« spricht: »Dr.-Ing., bitte.«
Die vom Zeugen Seebohm produzierten Wortfluten treten eben nicht ohne Gefühl für das förderliche Detail über die Ufer des Fassungsvermögens. Einerseits hat man nun gleich zu Beginn erlebt, wie genau Herr Seebohm ist. Andererseits ist man daran erinnert worden, daß Herr Seebohm schließlich kein Jurist ist.
In seinem Salonwagen 10307 ist der Minister nach Braunschweig gekommen, wo er über eine Wohnung verfügt, schon am Vortag, angehängt an einen planmäßigen Eilzug von Bielefeld. Auf Gleis 27 parken der Arbeitsraum, die beiden Schlafräume, der Waschraum und das Telephon, betreut von einem Wagenmeister. Der Minister, der seine Straßen kennt, fuhr mit der Bundesbahn, die auch defizitär ist. Und das Gericht erreichte er, neuerdings ein Fürsprecher des Fahrrads, zu Fuß.
Der Montag der vergangenen Woche bescherte Herrn Seebohm Schokoladencreme in Sülze. Ergab sich doch, daß Verkehrsminister Seebohm in den gegenwärtigen Regierungsumständen auch als Vizekanzler des Restkabinetts Erhard zu gelten hat. Denn er ist der Dienstälteste neben dem Kanzler. In Bonn wurde die Ausdauer belohnt.
In Braunschweig wiederum wurde eben diese Ausdauer gleichzeitig geprügelt: die Ausdauer, mit der sich Herr Seebohm von 1946 bis 1963 im Ehrenamt des Präsidenten der Braunschweiger Industrie- und Handelskammer hielt, zuletzt mit Rechtsgutachten und Zähnen. (In den Fährnissen gelegentlichen Parteiwechsels ist das Gefühl beruhigend, gegebenenfalls an einen vertrauten Ort heimkehren zu können.)
So mußte also am Montag vergangener Woche Herr Seebohm auf dem Zeugenstuhl Platz nehmen. Und im Saal war mancher, der den Abstand zwischen diesem Stuhl und der Anklagebank grüblerisch mit den Augen maß.
Angeklagt war indessen nur Dr. jur. Hans Ballhausen, 63, unter Präsident Seebohm - Hauptgeschäftsführer der Kammer, inzwischen pensioniert. Den Betrag, den er sich zum Nachteil der Kammer durch Betrug und Untreue angeeignet haben soll, 70 000 Mark, hat er inzwischen zurückgezahlt.
Herr Ballhausen griff allerdings nicht in die Kasse, während er den Buchhalter mit einem Gespräch über den Tabellenstand der vaterstädtischen »Eintracht« ablenkte. Er erhielt den gesamten Betrag in einzelnen Happen, als Darlehen oder Geschenk; und mit der Unterschrift von Präsident Seebohm. Der Minister und derzeitige Vize soll es erklären.
Zeuge Seebohm beginnt mit der Darlegung der Verdienste, die er - und mit ihm Ballhausen - sich um Braunschweig erwarb. Dem Vorsitzenden gelingt es, ihn anzuhalten, so leicht wie man ein Oratorium stoppt. »Die Kammer hat nicht einen Pfennig verloren«, meint der Zeuge. Daß er hier sitzt, nicht allzu weit von Herrn Ballhausen: böses politisches Spiel.
Beamter war Ballhausen, tatsächlich? »Schließlich spricht man auch von einem Bankbeamten, ohne daß es sich im engeren Sinn um einen Beamten handelt.«
Das Darlehen über 40 000 Mark, das Ballhausen erhielt: Herr Ballhausen mußte ein Haus kaufen. »Ein gewisser sozialer Notstand« lag vor, denn Ballhausen hatte Wohnraum für seine Tochter zu beschaffen. Ballhausen konnte ein Grundstück neben seinem, des sozialen Notständlers, Haus erwerben. Der Begriff Familie in den Bundesrichtlinien für Familiendarlehen erstreckt sich schließlich auch auf die »Großfamilie«. Außerdem war Herr Ballhausen gesundheitlich gefährdet. Wenn es um Geld ging, »lief er immer so rot an mit seinem hohen Blutdruck«.
Der Vorsitzende sieht einen Widerspruch darin, daß Herr Ballhausen 18 000 Mark für eine Reise in die Entwicklungsländer erhielt. »War denn Herr Ballhausen nicht mit seinem Blutdruck zu krank für eine solche Reise?« Der Zeuge: »Es gibt so viele Entwicklungsländer, auch in gesunden Gegenden.« Der Zeuge erwähnt, es sei ja auch er selbst, trotz »meines eigenen, sehr hohen Blutdrucks« schon in Entwicklungsländern gewesen, in Peru zum Beispiel.
Herr Ballhausen besaß nicht nur Präsident Seebohms, sondern aller »volles Vertrauen«. Und Beamter, das mag er auf dem Papier gewesen sein, doch »seine Funktionen wären weitaus wichtiger«.
Räumen wir ein: Die Zahl der Beamten an den Handelskammern ist nicht mehr groß. Die meisten haben sich anstellen lassen, mit lukrativen lebenslänglichen Verträgen. Die Kammern existieren fraglos »in Wirtschaftsnähe«. Doch gibt es Regeln, die auch in der freiesten Wirtschaft gelten.
Der Zeuge Ministerialrat Dr. Herbert Paatsch, 55, brachte es zwei Tage nach Seebohm in klare Worte: »Wenn man etwas geschenkt bekommt, dann kann man nicht sagen, das Darlehen ist getilgt worden. Das ist eine Irreführung.« Von der »Tilgung« der vom Wirtschaftsministerium in Hannover beanstandeten Darlehen aber war mit Präsident Seebohms Unterschrift Mitteilung gemacht worden, obwohl diese sich weitgehend in Zuwendungen verwandelt hatten.
12 000 Mark für einen Empfang zu Herrn Ballhausens Ehren, auf den er aber verzichtete um des Geldes willen. Die Reisekosten von 18 000 Mark gingen zunächst in Herrn Ballhausens Tasche. Zeuge Seebohm war überzeugt, die Reise würde noch stattfinden.
Einmal wurde Zeuge Seebohm in Braunschweig darauf angesprochen, daß auf seine Anweisung Weihnachtsgratifikationen an die Beamten der Kammer gezahlt wurden, einer abmahnenden Anweisung des Ministeriums, die auf das Beamtenbesoldungsgesetz hinwies, zum Trotz. Zeuge Seebohm: »Wir haben die Auffassung des Ministeriums nie gebilligt und uns nie danach gerichtet. Wir sind, wenn Sie so wollen, Herr Vorsitzender, ungehorsam gewesen.«
Zeuge Paatsch, zwei Tage später, er ist seit zwölf Jahren CDU-Mitglied: »An gesetzliche Bestimmungen sind wir gebunden, sonst lösen wir den Staat auf.« Zeuge Seebohm: »Ich bin Demokrat, ich bin kein Diktator.« Aber als Bundesminister im 17. Jahr kann man halt einfach mal auf den Rechtsweg verzichten mit seiner Mißbilligung und ein bißchen »ungehorsam« sein. Jeder Schrankenwärter würde natürlich wegen derart frohgemuter Unbotmäßigkeit bestraft, auf Betreiben seines Ministers.
Acht Monate Gefängnis wegen Untreue für Ballhausen, zur Bewährung ausgesetzt. 2500 Mark Geldstrafe. »Alle Organe der Kammer, auch der Präsident Seebohm, haben es dem Angeklagten leichtgemacht.«
Der Zeuge Seebohm konnte sich in Braunschweig nicht daran erinnern, daß er Herrn Ballhausen den Beamteneid sogar persönlich abgenommen hat seinerzeit. Seine Aussage beschwor er, bei Gott, und mit Gott auch fuhr er im Salonwagen, angehängt an einen fahrplanmäßigen D-Zug nach Aachen, wieder davon. Die Frage, ob dem Minister die Sorge um seinen Mann in Braunschweig den Blick trübte, wenn er als Kammerpräsident unterschrieb und seiner Aufsichtspflicht nachging, stand nicht an.
Zeuge Carl Heimbs, Ehrenpräsident der Kammer, 88, er sagte stehend aus ("Ich bin ein Preuße, alter Soldat"), pries die Lebendigkeit der Kammer unter Ballhausen und Seebohm: »Dieses Gespann Seebohm - Ballhausen war das wohl bedeutendste in allen deutschen Kammern.«
Zeuge Seebohm
Schokoladencreme in Sülze