DDR/KIRCHE Diktatur der Padägogen
Zwei Angeklagte, die sonst wenig miteinander gemein haben wollen, hinterließ der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz aus dem ostdeutschen Droßdorf, als er sich am Mittwoch vorletzter Woche auf dem Marktplatz der Kreisstadt Zeitz selbst in Brand steckte: die DDR-Kommunisten -- und seine eigenen Oberen.
In Abschiedsbriefen an seine älteste Tochter und geistliche Mitbrüder beschuldigte der 47jährige Pastor die SED, sie versuche seit ihrem IX. Parteitag immer heftiger, sich der Jugend des Staates zu bemächtigen. Die Kirche aber habe ihn bei seinem Kampf gegen die Verderber im Stich gelassen, sie wolle sich mit den Behörden arrangieren. Gegen beide müsse er ein Zeichen setzen.
Die Staatspartei SED beeilte sich, den Pfarrer von Droßdorf als »abnormal und krankhaft veranlagten Menschen« ("Neues Deutschland") abzutun; die Kirchenführer beider Konfessionen reagierten bestürzt. Sie befürchten, der Feuertod des Pastors Brüsewitz könnte die vorsichtige Entspannung stören, die Ost-Berlin seit geraumer Zeit Protestanten wie Katholiken signalisiert.
So hatten die Einheitssozialisten auf ihrem Parteitag im Mai auf evangelische Vorhaltung hin in ihr neues Programm nachträglich einen Passus eingerückt, auf den sie ursprünglich gern verzichten wollten: daß nämlich alle DDR-Menschen, unabhängig »von Weltanschauung, religiösem Bekenntnis und sozialer Stellung«, gleichberechtigte Bürger des SED-Staates seien.
Wenig später, im Juli, erfüllte die Staatsführung eine andere, seit Jahren vergeblich vorgetragene Kirchen-Forderung: Sie genehmigte den Bau von 60 neuen Kirchen, 35 für den »Bund der evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik«, zwölf für die Katholiken und 13 für die übrigen christlichen Gemeinschaften.
Bezahlen freilich müssen die »Valuta-Kirchen« (DDR-Volksmund) -- die Christen im Westen, die schon seit Jahren ihre ärmeren Glaubensbrüder mit Spenden unterstützen. Staatliche Baukapazität und staatliches Material ist für DDR-Kirchen in der Regel nur gegen Westmark zu haben.
Auch in der kirchlichen Jugendarbeit hat sich die Reibung mit den Staatsaufsehern eher verringert -- obwohl dieses Bemühen um den Nachwuchs bei der SED-Führung als gefährlichste Kirchenaktivität gilt. Denn nicht wenige Jugendliche ziehen das Freizeitangebot der Kirchengemeinden, wo sie nicht gegängelt und reglementiert werden, den mit politischen Pflichtübungen überladenen Veranstaltungen der Staatsjugend FDJ vor.
Seit Jahren toleriert die SED regionale Massentreffen der Kirchenjugend auch außerhalb der Kirchenmauern. Und selbst Erweckungsgruppen nach der Art der westlichen »Jesus People«, die erstmals bei den kommunistischen Weltjugendfestspielen 1973 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz auftraten, bleiben unbehelligt. »Nach dem IX. Parteitag«, so glaubt der Leiter des Evangelischen Publizistischen Zentrums in West-Berlin, Reinhard Henkys, »gibt es bislang keinerlei Anzeichen, daß die SED diesen Kurs der langen Leine ändert.«
Den größten Freiraum jedoch haben beide Kirchen nach wie vor in der Diakonie. Mehr als 80 der insgesamt 584 Krankenhäuser der DDR sind in konfessioneller Hand. In der Betreuung geistig und körperlich Behinderter sowie in der Altenfürsorge stehen die Kirchen sogar obenan: Allein die Protestanten unterhalten 90 Behinderten-Anstalten und 330 Alten- und Pflegeheime.
Orthodoxen Genossen paßt die Kirchenfreiheit schlecht ins sozialistische Weltbild. Sie reklamieren die Sozialarbeit als ureigenste Aufgabe der Partei. Doch die SED-Führung hat gegen ihre partei-internen Kritiker ein durchschlagendes Argument bereit: Würde sie die Gebrechlichen ihrer Gesellschaft ganz in eigene Obhut nehmen, käme das den ohnehin angespannten Staatshaushalt teuer zu stehen.
So lobte Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger bei einem Staatsbesuch der evangelischen Samariter-Anstalten in Fürstenwalde in diesem Frühjahr die Sozialfürsorge öffentlich als »gemeinsame Aufgabe« und »gemeinsamen Entfaltungsraum in der Verantwortung für den Menschen«.
Für ihre gemäßigte Christenfreundlichkeit hat die SED freilich noch andere triftige Gründe: Sie kann sich angesichts wachsender wirtschaftlicher Unzufriedenheit ihrer Bürger und bei zunehmender ostdeutscher Wanderlust in den Westen kaum einen spektakulären Kirchenkampf leisten. Zudem ist die DDR gerade dabei, ihre Beziehungen zum Vatikan zu normalisieren.
In der zweiten Novemberhälfte wird Rom die bislang zu westdeutschen Diözesen gehörenden Kirchensprengel in der DDR in den Rang eigenständiger Bistümer erheben sowie eine mit den ostdeutschen Staatsgrenzen deckungsgleiche, von der westdeutschen Kirche unabhängige Kirchenprovinz errichten -- und damit im Sinne der SED ein weiteres Stück deutsch-deutscher Gemeinsamkeit beseitigen.
Die sozialistische Kirchentoleranz hat indes eine unverrückbare Grenze: An ihrem Bildungs- und Erziehungsmonopol läßt die SED nicht rütteln. »Die Sozialistische Einheitspartei"« bekräftigte der IX. Parteitag, »wird weiterhin der Vervollkommnung des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens und im besonderen der kommunistischen Erziehung der jungen Generation ihre Aufmerksamkeit widmen.«
Während Klassiker Friedrich Engels der deutschen Linken vor 85 Jahren noch dringend riet, den Kirchen »doch nicht zu verbieten, eigne Schulen aus eignen Mitteln zu gründen und dort ihren Blödsinn zu lehren«, sieht die SED als Grundlage ihrer Macht weniger die Diktatur der Proletarier als vielmehr das Diktat der Pädagogen. Schule, Erziehung allgemein, ist der zentrale und häufig einzige Hebel, mit dem die Partei ihre Bürger in die angestrebte Einheitsgesellschaft einformt.
Und sie bedient sich dieses Hebels mit konsequenter Härte: Kinder, die sich vor der staatlichen Jugendweihe drücken, die zur Christenlehre gehen oder sich in ihrer Kirchengemeinde aktiv hervortun, haben kaum eine Chance, zum Abitur oder gar zum Studium zugelassen zu werden.
Zwar treffen solche Folgen ideologischer Unzuverlässigkeit nicht nur Christenkinder, doch sie vor allem. Ein zwanzigjähriges Mädchen beantragte unlängst seine Übersiedlung in die Bundesrepublik mit dem ausdrücklichen Hinweis, sie könne nicht länger in einem Staat leben, in dem sie »trotz zugesicherter Glaubensfreiheit« als Christ vielfachen Behinderungen ausgesetzt sei.
»Mit immer größerer Sorge«, so klagte die Magdeburgische Kirchenleitung voriges Jahr in einem Kanzelwort, »beobachten wir, wie im Bereich des Bildungswesens christliche Kinder, Jugendliche und Eltern benachteiligt werden. Trotz bester schulischer und gesellschaftlicher Leistungen wird der Zugang zu bestimmten Berufen, zur erweiterten Oberschule und anderen Bildungsstufen verwehrt, wenn die Schüler oder das Elternhaus sich zum christlichen Glauben bekennen.«
Zwar hat die Zahl der nachweisbaren Diskriminierungen in den letzten Monaten abgenommen. In Einzelfällen gelang es bischöflichem Einspruch oder hartnäckig auf ihren Rechten pochenden Eltern sogar, die Behörden zum Einlenken zu bewegen. Doch an der »Gesamtsituation« (Henkys) hat sich nichts geändert.
»Viele Eltern«, so ein Pfarrer resignierend, »schicken ihre Kinder nicht einmal mehr zur Christenlehre, um ihnen nicht die Zukunft zu verbauen.« 96,5 Prozent aller Achtkläßler gingen im vergangenen Jahr zur Jugendweihe, zumal die Kirchen in den letzten Jahren begonnen haben, die atheistische Einsegnung zu tolerieren.
Noch allerdings bekennen sich, zumindest nominell, etwa acht Millionen DDR-Bürger als evangelische, eine Million als katholische Christen. Doch beide Kirchen müssen Jahr für Jahr ihre Schätzungen nach unten korrigieren. Nur 20 Prozent aller Kinder aus protestantischen Familien werden nach Hochrechnungen evangelischer Statistiker getauft, nur 25 Prozent aller Katholiken gelten ihrer eigenen Kirche als Praktikanten.
In zehn bis 15 Jahren, so sagt ein evangelischer Kirchenführer voraus, werde sich die Zahl der Kirchenmitglieder in der DDR auf 1,5 bis 1,8 Millionen einpendeln. Das allerdings wäre dann, so hofft der Amtsträger, eine überzeugte Vorhut der Christenheit -- und zusammen mit den aktiven Katholiken immerhin ein ideologischer Block von der Größe der SED: Sie hat rund zwei Millionen Genossen.